Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1908 Nr. 12

Spalte:

370-371

Autor/Hrsg.:

Rösener, Karl

Titel/Untertitel:

Moderne Propheten. Erster Band. Hartmann. Tolstoi. Nietzsche 1908

Rezensent:

Elsenhans, Theodor

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

369

Theologifche Literaturzeitung 1908 Nr. 12.

370

hilflos; auch ift die fittliche Perfönlichkeit doch ftets die
des individuellen Menfchen, bei der es fich erft fragt,
was zu ihrer Vollendung beiträgt.

Die zweite Rede, am 15. Okt. 1906 gehalten, verdankt
ihren Anlaß dem Antritt des Rektorats. Sie behandelt
anfchließend an den in lichtvoller Klarheit eindringlich
gemachten Gegenfat? zwifchen der Schleiermacherfchen
und der Kantifchen Auffaffung als den beiden Grundtypen
(ittlicher Lebensanfchauung, zwifchen dem Grundgedanken
der Herrfchaft des Geiftes über die Natur und
dem unbedingt gebietenden ,du follft', zwifchen der Moral
der ,geraden' und der gebrochenen Linie', den .ethifchen
Wert der Wiffenfchaft'. Sie ift nicht etwa an und für
lieh fchon etwas Sittliches. Vielmehr ift ihr Wert für
das fittliche Leben kein anderer als der, den die Arbeit
am Stoff, die Herrfchaft über ihn überhaupt für den
Menfchen hat, und der darin liegt, daß perfönliches Leben
nur auf diefer Grundlage entfteht. Der befondere Wert
aber, der jeder Arbeit in ihrer Art für die Erziehung des
fittlichen Charakters zukommt, befteht bei der Wiffenfchaft
darin, daß fie zur unbedingten Wahrhaftigkeit, zur
Geduld und Zurückhaltung und zu einem ,langen Denken'
erzieht d. h. zu einem folchen, das über die Gegenwart
in die Zukunft reicht, im voraus alle möglichen Folgerungen
, foweit fie fichtbar find, erwägt und fich nie darin
erfchöpft, das Höchfte zu leiften.

Die dritte Rede, am 3. Aug. 1907 gehalten zur Gedächtnisfeier
des Stifters der Berliner Univerfität Friedrich
Wilhelm III, hat zu ihrem Gegenftand ,die Einheit des
Erkennens', wie fie fich in der Zufammenfaffung von
Gottesglaube und Wiffenfchaft darftellt. Sie verfolgt zu-
nächft in großen Zügen das gefchichtliche Verhältnis
zweier Gedanken vom Altertum bis zur Neuzeit, des
rationalen, daß wir das Weltganze in denfelben Erkenntnisformen
zu verftehen fuchen follen, die fich uns in der
Erkenntnis des Einzelnen taufendfach bewährt haben und
immer wieder bewährt haben, und des myftifchen, daß
der ewige Gott, der Urgrund aller Dinge, über menfeh-
liches Verftehen und Begreifen unendlich erhaben ift,
und zieht fodann die Konfequenzen für das Verhältnis
derfelben aus dem Gottesglauben der Reformation. Den
reichen Inhalt wiedergeben hieße die Rede wiederholen.
Das Ergebnis wendet fich gegen den Verfuch, den Gottesglauben
mit dem Welterkennen zu einem in fich gleichartigen
Ganzen zu verbinden. Gefchieht dies, fo muß die
eigentliche Wahrheit des Gottesglaubens notleiden, der
ein Erkennen befonderer Art ift und für welchen
Wertgefühle das Entfcheidcnde find. Es ift vielmehr ein
Entweder — Oder, um das es fich handelt. Wird aber
nun die Frage aufgeworfen, ob jene überlieferte Einheit
des Erkennens nicht ein notwendiges Datum der Wiffenfchaft
ift, fo ergibt fich die überrafchende Antwort von
felbft, daß diefe Einheit des Erkennens für die wirkliche
Erkenntnis überhaupt nichts bedeutet, da uns die Erfahrung
nie etwas anderes bietet, als jedesmal ein Erkennen
feiner Art, das je durch das befondere Verhältnis
bedingt ift, in dem Subjekt und Objekt zu einander flehen
(S. 631. So großzügig und in feiner Einfachheit imponierend
hier auch der Schnitt zwifchen Gottesglauben und
Welterkennen gezogen ift, beim letzten Punkte laffen
fich doch fchwerwiegende Bedenken nicht abweifen. Statt
weiterer Ausführungen fei nur darauf hingewiefen, daß
im fchärfften Gegenfatze zu diefer Auffaffung gerade Kant
die Notwendigkeit einer fyftematifchen Einheit der ge-
famten Erfahrungserkenntnis befonders ftark betont, die
nach feiner Anficht eben durch die bereits in der Kritik
der reinen Vernunft theoretifch erkannte (und in der
Kritik der praktifchen Vernunft nur bejahte) Gottesidee
als Regulatives Prinzip' gewährleiftet werden kann.

Heidelberg. Th. Elfenhans.

Rölener, Karl, Moderne Propheten. ErfterBand. Hartmann.
Tolftoi. Nietzfche. München, C. H. Beckfche Verlagsbuchhandlung
1907. (VII, 231 S.) 8° Geb. M. 3 —

Das vorliegende Buch ift nach des Verf. umfaffendem
Plane nur das erfte Glied eines aus drei Bänden beftehen-
den Gefamtwerkes. Den Sinn des Titels erläutern die
Sätze des Vorwortes: Jede Kraft, die dem Sehnen der
Zeit Ausdruck gibt, ift mir eine prophetifche, fo gut wie
die Kraft, welche diefes Sehnen erfüllt. Jene Kraft gehört
zur Vorwärtsbewegung genau fo wie diefe. Den einen
ift die Aufgabe gegeben, die Welt aus der alten Stelle
zu rücken, den andern, ihr eine neue Stelle anzuweifen'
: (S. III). So ift der bis jetzt vorliegende erfte Band den
. ,Propheten' gewidmet, durch welche die gegenwärtige
, Kultur in Frage geftellt wird: Hartmann, Tolftoi,
Nietzfche. Aber wir lieben die Kultur trotz aller Schäden,
! ,denn fie ift unfer Leib'. Wir fuchen daher ftatt der
j einfachen Verneinung derfelben durch jene radikalen
Propheten eine Löfung, durch welche die Gegenwart
nicht verneint, fondern verklärt wird, und wir finden in
der Kultur der Menfchheit zwei fcheinbar einander wider-
fprechende, in Wirklichkeit aber fich ergänzende Entwicklungsreihen
, die in dem Ideale der religiös-fittlichen Perfönlichkeit
eine höhere Einheit finden. Die eine Entwicklungsreihe
ift das Herauf kommen des Individualismus,
der die Frage beantwortet: ,Wie wird der Menfch
; kultiviert?', das Problem des IL Bandes: Carlyle —
Ruskin — Emerfon. Im Gegenfatz dazu geht die Entwicklung
des demokratifchen Geiftes von unten nach
oben und führt zu der Frage: ,Wie wird die Kultur
vermenfehlicht?' — das ,Raffen- und Maffenproblem'
des III. Bandes: Gobineau — Chamberlain — Naumann.

Unter charakteriftifchen Überfchriften werden in
diefem erften Bande die großen Verneiner der modernen
! Kultur behandelt: ,Eduard von Hartmann, das Nichtig-
; keitsgefühl', ,Leo Tolftoi, das Abhängigkeitsgefühl', .Friedrich
Nietzfche, das Machtgefühl'. Wenn Hartmann einen
nicht hoch genug anzufchlagenden Wert des Peffimismus
darin fieht, daß er erft eine Moral der Selbftverleugnung
möglich macht, fo ift dies nur möglich, weil er das Sittliche
mehr als äußere Moralität begreift, denn als innerliche
Gefinnung, und weil er den Fehler des Peffimismus teilt,
! der fchon in der älteften Erfcheinung desfelben, im in-
: difchen Buddhismus hervortritt, den Intellektualismus die
Uberfchätzung der Erkenntnis. .Inwiefern foll denn das
fchon ein Abftreifen der alten weltlichen Gefinnung
bedeuten, wenn ein Menfch erkennt, daß er mit feinen
eitlen unverfländigen Glücksillufionen ein Narr war, und
! daß es überhaupt kein Glück gibt?' (S. 31). Auch der
Anfpruch Eduard von Hartmanns, auf ficherem wiffen-
fchaftlichem Beweiswege fein peffimiftifches Urteil über
! die Welt gefunden zu haben, ift unhaltbar. Schon jeder
einzelne Verfuch, während eines kurzen Zeitabfchnittes
j z. B. während eines Gewitters oder einer Vergnügungsfahrt
, die zahlreichen wechfelnden Gefühlsregungen nach
der pofitiven und negativen Seite zu fondern und dann
ein ficheres Refümee zu ziehen, ob die Luft oder die Un-
luft die größere Summe darfteilt, zeigt die Unmöglichkeit,
gerade auf diefem fubjektivften aller Lebensgebiete zu
einem ficheren Refultate zu kommen (S. 33). Dem
eudämoniftifchen Glückfeligkeitsideal, das zuletzt auch
dem Peffimismus zugrunde liegt, wird das Ideal der
religiös-fittlichen Perfönlichkeit gegenübergeftellt, mit
! welchem die Glückfeligkeit, ohne als folche angeftrebt
zu werden, von felbft gegeben ift. In der Darftellung
der Lehre Tolftois wird befonders betont, fie fei keines-
i wegs, wie das oft behauptet werde, bloße Moral. Man
könnte vielmehr fagen, das Sittliche verfchwinde in
dem Religiöfen. Das All-Eine ift ja das allein Wirkliche
; das Individuum führt nur eine Scheinexiftenz.
Allerdings hat gegen diefe Konfequenz der pantheiftifchen
Weltanfchauung Tolftois Lebensanfchauung fich zu