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Ausgabe:

1908

Spalte:

310-311

Autor/Hrsg.:

Solowieff, Wladimir

Titel/Untertitel:

Die religiösen Grundlagen des Lebens 1908

Rezensent:

Zillessen, Alfred

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Theologifche Literaturzeitung 1908 Nr. 10.

310

getrübt oder gefchwächt wird, deren Überzeugungskraft I und Einrichtungen, fondern die Intenfität ihres inneren
nicht bei allen Lefern die gleiche fein kann. 1 Lebens und ihrer Frömmigkeit. Die zerfplitternde Viel-

In feiner Beurteilung der foziologifchen Probleme, | gefchäfdgkeit mancher kirchlichen Kreife verurteilt er in
deren fittliche Faktoren Fr. mit Gefchick und Erfolg be- j Worten, die an die Schärfe und Strenge des mit fittlichem
leuchtet, gibt er fich als einen Schüler Vinets und Se- I und religiöfem Pathos die .moderne Reichgottesinduftrie'
cretans zu erkennen (S. 38—41. 238. 248. 274). Der In- 1 geißelnden Tübinger J. T. Beck erinnern,
dividualismus, dem er huldigt, hat es nicht auf eine im J Was von der Sprache des früher hier angezeigten
Sinne des Rationalismus oder der Myftik durchgeführte Bandes bemerkt wurde, gilt in vielleicht noch höherem
Ifolierung des Einzelnen von den Mächten der Gefchichte Maße von dem vorliegenden. Die plaftifche Kraft, mit
und der Gefellfchaft abgefehen; er bildet vielmehr das , welcher Fr. feine Gedanken geflaltet, die Gewiffenhaftig-
notwendige Korrelat zur wahren, gefunden Solidarität, i keit, die fich ftets um die reine Herausarbeitung und
welche fowohl die Würde der fittlichen Perfönlichkeit | um die genaue Wiedergabe des Empfundenen und Gewahrt
, als auch die Verwirklichung des Reichgottes- dachten bemüht, der Widerwille gegen jede Rhetorik

jedankens durch die chriftliche Nächftenliebe in den
Mittelpunkt der ethifchen Betrachtung ftellt. Bei aller
Anerkennnng der berechtigten Elemente des Programms
der Sozialdemokratie, erblickt F. in demfelben eine verhängnisvolle
Negation des Gewiffens und eine Vergewaltigung
der unveräußerlichen Rechte des Individuums
durch die Tyrannei der Maffen. In zahlreichen Ausführungen
, die durch die Verfchiedenheit der Zufammen-
hänge, in welchen fie wiederkehren, eine mannigfaltige
Illuftration erfahren, weift der Verf. auf die innere Ver-
vvandfchaft des fozialen Kollektivismus und des römifchen
Katholizismus hin (S. 25. 34. 114. 135—136. 206. 244).
Das in Frankreich durch W. Monod, E. Gounelle u.a.
mit edler Begeifterung vertretene ,foziale Chriftentum'
unterzieht er einer Beurteilung, welche, Licht und Schatten
mit voller Gerechtigkeit verteilend, zugleich die Wohltaten
und die Gefahren diefer Bewegung zu würdigen
weiß. Auch zum tieferen Verftändnis des Wefens und
Prinzips des Proteftantismus in feinem Verhältnis zur

die Scheu vor allem, was den Eindruck der vorgetragenen
Wahrheiten fchwächen oder frören könnte, erhöht die
Wirkung diefer Reden und Studien, in denen fich nicht
ein Schriftfteller, fondern ein Menfch und ein Chrift zu
erkennen gibt. Neben den lehrhaft gehaltenen Auffätzen
enthält das Buch auch Stücke, in denen höchft anfchau-
liche Schilderungen dem Lefer eine willkommene Überziehung
bereiten: man lefe z. B. die ergreifende Be-
fchreibung zweier Gottesdienfte in London (S. 179—186)
oder auch den fchönen Artikel Solitude et sommets
(S. 1—7)- In den Rezenfionen, an welche fich längere
Erörterungen anfchließen, herrfcht ein vornehmer Ton,
der den Kritiker auch dann nicht verläßt, wenn die Aus-
einanderfetzung zur direkten Polemik fich geftaltet. Letzteres
ift vornehmlich in der Abfertigung der Fall, die
F. dem berühmten Vortrag Brunetieres über die Religion
Calvins (S. 137—163) angedeihen läßt; die innere
Erregung, in welche Br. feinen Gegner verfetzt, weiß
diefer nicht nur zu beherrfchen, fondern in den Dienft

katholifchen Form des Chriftentums liefern F.s Studien j feiner ftraff gegliederten, mit unerbittlicher Logik fich

wertvolle, die Konfeffionskunde wefentlich fördernde
Beiträge. Bei feiner Hochfehätzung des praktifchen
Chriftentums ift es nicht zu verwundern, daß F. der
Frömmigkeit Großbritanniens und Nordamerikas einen
entfehiedenen Vorzug vor dem religiöfen Leben des
Kontinents einräumt. Trotz der leitenden Grundgedanken,
die fich durch den ganzen Band gleich bleiben, verraten
die zu verfchiedenen Zeiten verfaßten Effais einen aus

der jeweiligen Situation zu erklärenden Wechfel der Stirn- Solowieff, Wladimir, Die religiöfen Grundlagen des Lebens.

entwickelnden Argumentation zu zwingen. — Von dem
vorliegenden Bande war bereits die eifte Auflage in
einigen Monaten erfchöpft. Der folgende, in Vorbereitung
begriffene Band wird theologifche Arbeiten im engeren
Sinne (Etudes de theologie moderne) enthalten.

Straßburg i. E. P. Lobftein.

mung: bald verkündigt der Verf. mit froher Zuverficht
das Wiedererwachen des religiöfen Intereffes in der evan-
gelifchen Chriftenheit, bald geftalten fich feine Ausblicke
in die Zukunft zu düftern peffimiftifch klingenden Weis-
fagungen. In dem bereits erwähnten Auffatz Oü allons-
nousP unterfcheidet er drei Hauptftrömungen, durch
welche die Kirche in der Gegenwart beherrfcht wird, und

AutorifierteÜberfetzung aus dem Ruffifchen mit einem
Vorwort des Herausgebers von N. Hoffmann. Leipzig,
O. Mutze 1907. (XXXIV, 167 S.) 8° M. 3 —

Der mit dem Bild des Verf. gefchmückten, von einer
Vorrede, fowie einem Schlußwort des Herausgebers und
zwei Vorworten des Verf. eingeleiteten Schrift geht eine
die auch ihren Gang in der nächften Zeit beftimmen: , Art kurzer Prinzipienlehre voraus, in der man die antikes
ift das wachfende Bedürfnis nach religiöfer Autonomie, ■ hellenifch-orientalifcheGrundbcftimmtheitdiefesmodernen
das Streben nach einer federen und klareren chriftozentri- j fpekulativen Denkers fofort erkennt: den alten phyfifch-

fchen Pofition und eine Sehnfucht nach religiöfer Einigung,
nach aufrichtiger Verwirklichung der chriftlichen Katholi-
zität (S. 251 fg. Die vier von diefem Gegenftand handelnden
Reden wurden im Jahre 1891 gehalten).

Die durch die dankenswerten Bemühungen der Heraus

ethifchen Dualismus, das Ziel: yvooöiq und geoij. Das
Leben ift an fich finnlos, eine fortwährende Selbftvernich-
tung. Das wahrhaft Menfchliche liegt im Sittlichen. Aber
Erkenntnis der Pflicht bedeutet noch nicht Kraft zur
Erfüllung. Dazu bedarf es der Gnade. Ihr Empfang

geber vollzogene Zufammenftellung der fozialen und reli- , bezeugt fich im Handeln des Willens. — Der Menfch

giöfen Effais Frommeis entfpricht aufs befte den Ab
flehten und den Intereffen des Verfaffers. Sucht er doch
überall den Zufammenhang der fozialen Erfcheinungen
und Wandelungen mit den Gewiffensvorgängen, mit den
fittlichen und religiöfen Tatfachen bloß zu legen. Les
transformations sociales ont leurs origines et leurs causes

kann fagen: ich will meinen Willen nicht. — Gott ift
eine innere Wahrheit, die uns fittlich verpflichtet, fie
freiwillig zu bekennen. Der Sinn des Lebens liegt im
Glauben an das Gute als Wahrheit. Diefer Glaube ift
Gabe Gottes und freie Tat des Menfchen.

Charakteriftifcher Weife fteht in der Ausführung die

dans Celles de la conscicnce et, en realite dermere, il Ethik voran, die unter den — aber gewiffermaßen nur
tt'ya aVhistoire que celle de l'esprit (S. 45. 95—96)- Des' als Symbole geltenden — Stichworten: 1. vom Gebet,
halb wendet er auch feine Sympathie und feine Bewun- j 2. vom Almofen, 3. vom Fallen ausgeführt wird. — 1.
derung den Menfchen und den Werken zu, die die Inner- , entwickelt eine individuelle religiöfe Ethik an der Hand
lichkeit und den rein religiöfen Charakter des Evangeliums ; des Unfervaters, wobei befonders eingehend die verfchie-
am treuften gewahrt und zum Ausdruck gebracht haben, denen Arten der Verfuchung (finnliches Begehren, Eigen-
Hieraus entnimmt er auch den Maßftab zur Beurteilung dünkel, Herrfchfucht) und ihre Uberwindung aus prak-
einer Kirche. Was ihren Wert beftimmt, ift nicht die i tifch-religiöfen Erwägungen behandelt werden. Das wahre
Zahl und das Gedeihen der von ihr gefchaffenen Werke | ,Gebet' (d. h. faft: das praktifch-religiöfe Leben) muß