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Ausgabe:

1908 Nr. 10

Spalte:

308-310

Autor/Hrsg.:

Frommel, Gaston

Titel/Untertitel:

Études religieuses et sociales 1908

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Theologifche Literaturzeitung 1908 Nr. 10.

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mitgefpielt worden id, könnte ich gewiffermaßen als
Kronzeuge beftätigen. Jedenfalls verflehe ich es recht
wohl, wie der Verf. es als Pflicht der Pietät gegen den
Mann, in dem er einen Erzieher, Führer und Befreier
verehrt, empfinden mußte, ihn ,den Händen feiner theo-
iogifchen Gegner zu entreißen', denen ja felbft Hausrath
, Eck, Harräus, Albert Schweitzer und Weinel nicht
allzufern flehen follen (S. XII).

Der vorliegende erde Band behandelt Straußens
Wirken und Gefchicke bis zum ,Züriputfch' 1839, deffen
Verlauf dadurch in eine überrafchend neue Beleuchtung
tritt, daß hiernach die Berufung nur als Vorwand gedient,
d. h. das zugkräftigfle Stichwort zu einer fchon feit
7 Jahren fpielenden und erft ein halbes Jahr fpäter mit
jener Kataftrophe fiegreich abfchließenden Agitation von
Bauern, Fabrikanten und Pfarrern gegen das damalige
Kantonsregiment und feine Schulpolitik abgegeben hat
(vgl. S. 290f. 314h). Es wird vielleicht noch zu unter-
fuchen fein, wie fich damit die Darftellung verträgt, die
als unmittelbar Beteiligter Alexander Schweizer (f. Realenzyklopädie
, Bd. 18, S. 68) hinterlaffen hat. Im übrigen
behandelt diefer Band vorzugsweife die bahnbrechende
fchriftftellerifche Wirkfamkeit von Strauß in ihrer be-
kannteften Periode. Nicht wenig Neues kann gleichwohl
fchon darum geboten werden, weil der Verf. vor feinen
Vorgängern ein erhebliches Quellenmaterial, und zwar
nicht bloß in den fchon 1905 in der ,Deutfchen Revue'
veröffentlichten Briefen an Binder, voraus hatte. Vornehmlich
aber kommt der neuen Darftellung der große Vorzug
zugute, daß der Verf. im Unterfchiede von den
Vorgängern (den einzigen Zeller ausgenommen) nicht bloß
Landsmann von Strauß ift, fondern auch den gleichen
Bildungsgang, vielfach auch die gleichen Erfahrungen in
feiner Heimat hinter fich hat, fo daß er fich gewiffermaßen
als Schickfalsgenoffe fühlt (S. X. 229. 232). Eine gewiffe
antitheologifche Gereiztheit, die fich infolgedeffen fchon
im Vorwort bemerkbar macht, bringt den Vorteil mit
fich, daß wir dadurch wie auf den Erdboden, darauf fich
die Erzählung abfpielt (vgl. das fchwäbifche Medium in
Stellen wie S. 203 h 228 f. 263), fo auch zeitlich in die
akute Luft, in die Atmofphäre der kämpfluftigften Periode
von Straußens Leben zurückverfetzt werden und eine
unmittelbare Empfindung für feither verwehten Luftzug
wieder gewinnen.

Genaue Bekanntfchaft mit den äußeren Lebensbedingungen
in der Heimat, liebevolles Verftändnis für den
inneren Menfchen mit feiner objektiven Marmorkälte
einerfeits, mimofenhaften, ftimmungsvollen Empfindlichkeit
und dämonifchen Leidenfchaftlichkeit andererfeits (S. 57.
281. 285) — das ift es, was den Verf. zum berufenen
Biographen des ftreitbaren Mannes macht, den er den
Leffing des 19. Jahrhunderts nennen darf (S. XII). Von
den 4 Kapiteln, in die das Buch zerfällt, behandelt das
erfte die Kindheits- und Knabenjahre in überaus gefälliger
Anfchaulichkeit. Im zweiten (,die Studienzeit') treten an
die Stelle des Idylls die Wände des Stifts und des Vikarzimmers
, innerhalb welcher mündlich und fchriftlich die
jPfarrersfrage', wie Chriftoph Schrempf fie freilich erft
l&93 getauft hat, verhandelt, d. h. die Grenzlinie zwifchen
dem Recht der ,Vorftellung' und der Verpflichtung auf
den ,BegrifP gezogen wird. In diefen Gegenfatz hatte er
fich im Verein mit feinen Freunden Märklin und Binder
infolge ihrer gemeinfam betriebenen Hegelftudien mit
einer zähen Hartnäckigkeit hineingearbeitet, fo daß er
während der ganzen hier befchriebenen Hälfte feines
Lebens davon beherrfcht erfcheint (S. 132. 141. 188. 190.
200), wobei die gelegentliche Äußerung von der dem
Pfarrer obliegenden Befugnis, mit Mitteln der Vorftellung
für die .Erhaltung der Religion' zu forgen (S. 77), als
Rechtstitel für die Priorität der Prägung einer feither
kirchengefchichtlich berühmt gewordenen Phrafe notiert
fein mag. Dankbar wird man auch für die Darfteilung
des Berliner Aufenthalts fein (S. 92!): eine lichtvolle

Zufammenftellung deffen, was bisher über die Stellung
zu Hegel, Schleiermacher, Marheineke und Vatke aus
verfchiedenen Quellen zufammengelefen werden mußte.
Dem ,Leben Jefu' von 1835 ift das dritte Kapitel gewidmet,
aus dem jeder Unbefangene allerdings nur den Eindruck
gewinnen kann, daß es einmal gefchrieben werden mußte,
und daß Strauß es war, der aus feinem Dämonium heraus
es fchlechterdings ichreiben mußte: er fchrieb es mit
ftrengem Rlrnd, ,aus reinem Drang', konnte es daher mit
gutem Bedacht ,infpiriert' nennen (S. 130t. 163. 282. 284).
Übrigens knüpft der Verf. an feinen einwandfreien Bericht
doch auch einige Anfätze der Kritik, und zwar nach
drei, feither von der Theologie konfequent weiter verfolgten
, Richtungen (S. 163 t.). Nicht vergeffen fei auch,
daß die Arbeit am ,Leben Jefu' erft begann, nachdem
dem Urheber desfelben, der ein Jahr lang mit zuvor nie
dagewefenem Erfolg vor mehr als 100 Zuhörern Philofophie
doziert hatte, die Tübinger Philofophen den Stuhl vor die
Türgeftellt hatten (S. 114L Ii8f. 123. 134, vgl. auch S. 89f.)
aus .Brotneid' gegen den ,erfolgreichen Konkurrenten'
(S. 121). Wenn es fich damit richtig verhält, fo find ihm
aus folchen Motiven die Theologen fpäter doch kaum
entgegengetreten. Die nach philofophifcher wie theo-
logifcher Seite geführten Kämpfe (teilt das vierte Kapitel
dar: ,Schickfale des Verfaffers und des Buchs von 1835—
39'. Der Biograph macht hauptfächlich den Württem-
bergifchen überftudienrat verantwortlich für die verhängnisvolle
Wendung, die fchließlich einen Gelehrten zur
Berufslofigkeit verurteilte, der damals noch unentwegt den
reinen Idealismus vertrat und heute, trotzdem daß fich
mittlerweile die Abfolge Feuerbach, Strauß, Häckel ge-
ftaltet hat, überall ungefährdet Philofophie, Literaturge-
fchichte, Äfthetik und anderes mehr vortragen könnte

Baden. H. Holtzmann.

Frommel, Gaston, Stüdes religieuses et sociales. Saint
Blaise, Foyer solidariste 1908. (390 p.) 8° fr. 3.50

Nach verhältnismäßig kurzer Frift folgt auf die ethi-
fchen und religiöfen Studien Frommeis (f. Theol. Literaturzeitung
1908, Nr. 3) ein neuer Band, Etudes religieuses
et sociales, der fich den früher erfchienenen würdig zur
Seite (teilt. Er enthält zwanzig Auffätze, die bereits in
verfchiedenen Blättern und Zeitfchriften zwifchen 1890
und 1905 veröffentlicht wurden; nur ein Stück, allerdings
das umfangreichfte (Oü allons-nousi S. 249—314), war
bisher im Druck noch nicht erfchienen. Mit Recht haben
die Herausgeber der chronologifchen Reihenfolge die
fachliche Ordnung vorgezogen: unter drei Hauptgefichts-
punkte, die Gefellfchaft und das Evangelium
(S. 8—96), das Evangelium und das Chriftentum
(S. 97—219), das Chriftentum und die Kirche
(S. 220—328) verteilen fie Frommeis religiöfe und foziale
Studien.

Die meiden derfelben find urfprünglich Rezenfionen,
1 mitunter Anzeigen von Büchern, die es kaum verdienen,
der Nachwelt überliefert und erhalten zu werden. Sollte
indeffen der Lefer zunächd geneigt fein zu urteilen, daß die
Pietät der Herausgeber das in der Sache begründete Maß
überfchritten und Beiträge geliefert hat, deren Veröffentlichung
fich nicht lohnte, fowird eine aufmerkfamereLektüre
der hier gebotenen Artikel diefe Befürchtung rafch zer-
dreuen. Geben doch die zur Anzeige gebrachten Schriften
jedesmal dem Verf. die erwünfchte Gelegenheit, weit über
den zufälligen Anlaß hinaus in prinzipielle Erörterungen
einzutreten, die bald von aktuelldem Intereffe, bald von
bleibender Bedeutung find. Das aus den erden Bänden
entgegentretende geidige Bild des Verfaffers erfährt eine
dankenswerte Ergänzung und tritt zuweilen in ein neues
Licht. Der fittliche Pfrnd und die religiöfe Tiefe der
Perfönlichkeit Frommeis wirkt vielleicht gerade in diefem
Bande noch ergreifender, weil der aus demfelben gewonnene
Eindruck durch keine theologifche Erörterungen