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Ausgabe:

1908 Nr. 10

Spalte:

306-308

Autor/Hrsg.:

Ziegler, Theobald

Titel/Untertitel:

David Friedrich Strauß. Erster Teil: 1808-1839 1908

Rezensent:

Holtzmann, Heinrich Julius

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Theologifche Literaturzeitung 1908 Nr. 10.

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und Fruchtbarmachung feiner Werke gewinnt. Längft
durch Haym und Dilthey angebahnt, hat dies Verfahren
gerade in der Theologie bisher wenig Anklang gefunden.
Man hat fich auf die Reden — dasfelbe ließe fich für die
fpäteren Werke zeigen — meift fo rafch mit fyftematifchen
und modernen Maßftäben geftürzt, daß man darübergenaue
hiftorifche Unterfuchungen, oft fogar den Vergleich mit
den Monologen, Lucindenbriefen, Athenäumsfragmenten,
Predigten ufw. verfäumte. Nur durch das Medium der
hiftorifchen Betrachtung aber läßt fich der originale Kern
feiner Leiftung von den teils fördernden teils trübenden
Einwirkungen eines Kant, Spinoza, Fichte, Schelling u. a.
fcheiden, läßt fich aus feinen Werken der innerfte Gehalt
erheben, an den wir mit unferer Frömmigkeit und Theologie
anzuknüpfen vermögen. Sonfl bleiben feine durch
eine beftimmte Gefamtlage bedingten Formulierungen
uns unverftändlich, und wir überfehen gerade die Punkte,
an denen wir in unferer zwar vielfach ähnlichen, aber
doch wieder andersartigen Lage uns orientieren könnten.
Was Wehrung am Beifpiel der erkenntnistheoretifchen
und gefchichtsphilofophifchen Grundlagen zeigt, das gilt
es an der ganzen Breite des religiöfen Inhalts durchzuführen
. Sogar der vielvcrhandelte Religionsbegriff felbft
dürfte dann noch neue, intereffante Seiten olfenbaren; das

aller Vermifchung des Naturhaften und Geiftigen war es
doch keineswegs Herders innerftes Ziel und Eigenart,
die Gefchichte zu naturalifieren, wie vor allem der Werdegang
feiner Gefchichtsphilofophie, z. B. der gefchichts-
philofophifche Auffatz von 1774 zeigt. Und anderfeits
behält Schleiermacher noch genug von naturhafter Betrachtung
der Gefchichte übrig. Es liegt lediglich ein
Gradunterfchied vor, nicht ein prinzipieller Gegenfatz. Und
bei beiden erwächft die Verbindung aus demfelben Motiv.
Ganz abgefehen davon, daß beide gerade aus religiöfen
Gründen trotz Kant an einem innerften Zufammenhang
von Natur und Geilt felthalten, wollen fie die Stetigkeit
und den Zufammenhang des hiftorifchen Gefchehens kon-
ftatieren; dafür aber finden fie, da ja die Naturphilofophie
weit früher als die Gefchichtsphilofophie entwickelt
worden war, keine andere Form bereit als die Übertragung
der Naturgefetze. Doch ich erwähne folche Fehler nur
deshalb, um zu zeigen, wie felbft Wehrung trotz feines
verdienftvollen Strebens nach umfaffender hiftorifcher
Behandlung gerade hier fein Ideal noch nicht erreicht.

Im übrigen foll an dem reichen und eng zufammen-
gepreßten Inhalte des Buches nicht gemäkelt werden.
Nur zwei formale Bedenken feien in der Hoffnung geltend
gemacht, daß der Verfaffer die begonnenen Fäden Ute-

zeigt fchon Wehrungs Hinweis auf die vielverkannte Rolle rarifch weiter fpinnt. Die Arbeit ift gut disponiert, aber
der religiöfen Erkenntnis in der erften Auflage der Reden die Dispofition muß äußerlich fchärfer hervortreten, wenn
(S. 63). Die Zeit des jungen Schleiermacher ift in den der Lefer rafch ein überfichtliches Bild gewinnen foll.
letzten Jahren durch das Fortfchreiten der philofophie- j Und in der Polemik gegen andere Autoren follte Wehrung
und Hterargefchichtlichen Studien fo hell durchleuchtet in höherem Maße auch deren Verdienfte anerkennen; man
worden, daß die Theologie den Boden für ihre dringend j erhält bei ihm den Eindruck, daß die bisherige Literatur
notwendige Arbeit geebnet findet. Anders liegt es leider ! im allgemeinen traurig ift, während tatfächlich fogar in
bei der fpäteren Periode. Die Unzulänglichkeit der vor- j der Richtung feiner Gefichtspunkte eine große Anzahl
handenen Gefamtausgabe fchreckt von jeder genaueren j guter Vorarbeiten befteht. Im ganzen aber fei das

Arbeit ab; und das ftete Warten auf den Reichtum an
Stoff und Gedanken, der in Diltheys Hand gefammelt
ruht, muß nachgerade lähmend wirken.

Ein zweites Verdienft ift die durch Troeltfch angeregte
Erkenntnis von der Bedeutung des Gegenftandes.
Hat Mulert ihn im 3. Heft der ,Studien zur Gefchichte
des neueren Proteftantismus' wefentlich nach der Seite
der theologifchen Verwertung behandelt, fo bietet Wehrung
für die Theologie Schleiermachers im engeren Sinn des
Wortes wenig Stoff, defto mehr aber für feine religiöfe
Stellung. Wir fehen klar, wie die Betrachtung der Individualität
, der Gefchichte, des geiftigen Lebens den
eigentlichen Mittelpunkt von Schleiermachers Denken
bildet. Wehrung hat zweifellos recht, wenn er hier einen
wichtigen Fortfehritt Schleiermachers konftatiert. Doch

Buch allen Freunden Schleiermachers und der neueren
Geiftesgefchichte aufs wärmfte empfohlen.

Marburg. Horft Stephan.

Ziegler, Theobald, David Friedrich Strauß. Erfter Teil
!8o8—1839. Mit einem Jugendbild von Strauß. Straßburg
, K. J. Trübner 1908. (XIX, 324 S.) gr. 8°

M. 6 —; geb. M. 7 —
Selbffverfländlich ift der 100. Geburtstag eines Schrift-
ftellers der Nation, wie D. F. Strauß einer war, in der
Öffentlichkeit nicht unbemerkt vorübergegangen. Im allgemeinen
überwog der Eindruck, ja er war faft allein zu
verfpüren, daß Friede waltet über dem Grab zu Ludwigs-
fchduTer mir" die Stärke" des andersartigen fpekulativ- bürg. Sachkunde und zuftändiges Urteil habe ich ge-

naturphilofophifchen Einfchlags zu unterfchätzen; z. B. 1 funden in den belehrenden Artikeln von H. Fifcher
erkennt er zu wenig, daß Schleiermacher mit durch ihn j (Deutfche Rundfchau S. 47—63), E. Hermann (Deutfche
verhindert worden ift, feine tiefe Erfaffung der Individua- , Revue S. 137—155), p. Jodl (Jugend Nr. 4), E. Trau-
lität und der individuell erlebten Frömmigkeit in ada- mann (frankfurter Zeitung Nr. 25). Speziell von theo-
quaten lebensfähigen Formeln, etwa in der Schaffung eines ; ogifcher Seite liegen durchaus fachlich vorgehende, unkräftigen
Begriffs der Perfönlichkeit auszuprägen. ! leugbares Verdienft nicht etwa bloß billig beurteilende
Auch fonft hat die treffliche Arbeit einige Mangel, und leidenfchaftslos verzeichnende, fondern recht dankbar
Sachlich fei nur zweierlei berührt. In der Erörterung j anerkennende und gebührend feiernde Kundgebungen vor
der ,Anfchauung' Hellt Wehrung zwar mit glücklicher ; von F. Schiele (Frankfurter Zeitung Nr. 26), E. Troeltfch
Entfchiedenheit ihren rein geiftigen Charakter feft, aber , (Die Hilfe Nr. 4, S. 57—59) und O. Veeck (Proteftanten-
bei der hiftorifchen Ableitung des Begriffs erweift er fich ( blatt Beilage zu Nr. 5 und 10). Zweifellos ift mir vieles
nicht «enü^end orientiert: er denkt (S. 31) dabei an Einzel- überhaupt nicht zu Geficht gekommen. Dafür aber die
daten vvie den Gebrauch des Begriffs durch Fichte oder 1 ficherheh bedeutendfte Veröffentlichung, die der 27. Januar
im Wilhelm Meifter während tatfächlich das Wort (ähnlich 1 auf den Büchermarkt gebracht, das bei aller Gründlichkeit
auch Univerfum') 'ein Lieblingsftück im Sprachgut der der Forfchung und teilweifer Neuheit des gefammelten
ganzen neuen feit 1750 emporwachfenden ideahftifchen und verarbeiteten Stoffes fo flott und feffelnd, gefchmack-
Bildung ift Ferner wird das Verhältnis zur Gefchichts- und temperamentvoll gefchriebene Buch des Straßburger
philofophie des größten Vorgängers falfch beftimmt wenn , Philofophen über feinen fchwäbifchen Landsmann Strauß,
die Schleiermachers fchlechthin ethifch-ideahftifch, die 1 Als Vorlaufer war fchon in Hauchs ,Realenzyklopädie
Herders naturaliftifch heißen foll (S. 125). Allerdings für proteftantifche Theologie und Kirche' (Bd. 19, 1907)
ift es Herders Größe nicht gewefen, die Grenzen der 1 der vom gleichen Verf. herrührende Artikel .Strauß' erGebiete
abzudecken, fondern vielmehr ihre Wechfelbe- fchienen. Laffen wir es dahingeftellt, ob ,die Theologen
Ziehungen aufzuweifen, während Schleiermacher hier unter ihm auch nach feinem Tode in keiner Weife gerecht gewor-
dem Finfluffe Kants erheblich fchärfer denkt. Aber trotz den find' (S. VII). Daß ihm bei Lebzeiten oft übel