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Ausgabe:

1908 Nr. 9

Spalte:

281-284

Autor/Hrsg.:

Köstlin, Heinrich Adolf

Titel/Untertitel:

Die Lehre von der Seelsorge nach evangelischen Grundsätzen. 2., neubearb. Aufl 1908

Rezensent:

Achelis, Ernst Christian

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Theologifche Literaturzeitung 1908 Nr. 9.

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das Gefetz ohne Evangelium enthält, fondern weil beides ! einer heiligen Glut frommer Empfindung fucht und weiß
fowohl im Alten als im Neuen Teftament fich findet, j er diefe Bedeutung gewiffensmäßig dem Lefer einzu-
Erft in § 15 .Urtext und Überfetzung' werden die Apo- . prägen. Er redet nicht theoretifch über die Dinge, fie
kryphen als Predigtftoff behandelt, eine eigentümliche 1 leben in ihm, fie hat er in reicher Lebens- und Amts-
Zerllreuung des Zufammengehörigen, die auch in andern erfahrung fo, wie er fie darftellt, bewährt gefunden, und
Dingen öfter bemerkbar wird. Der erwähnte § 12 ,Ge- er tut feine Schätze auf, aus feinem Reichtum uns
fetz und Evangelium' wird kaum auf Beifall rechnen reich zu machen. Was er, um einzelnes hervorzuheben,
können; es ift& nicht beachtet, daß im Alten wie im über die Individualifierung der Seelforge im Unterfchied
Neuen Teftament das ,Gefetz' die Gnadenoffenbarung zur des Alters, des Gefchlechtes, des Temperamentes, des
Vorausfetzung hat, und daß Gal. 324 gefchichtlich, Bildungsgrades und Befitzes, des Standes im Lehrftand,
nicht dogmatifch, zu verftehen ift, wenn man nicht in Wehrftand, Bauernftand, Arbeiterftand, was er in den Ab-
fchroffen Widerfpruch gegen Paulus geraten will. Im , fchnitten der Seelforge ah Geifteskranken und Gefangenen
übrigen ift der zweite Hauptteil reich an treffenden und j ausführt, ift meifterhaft. Allein gerade deshalb, weil
lehrreichen Ausführungen, in denen Kap. 3: ,Der Predigt- ; das Buch inhaltlich fo viel Vortreffliches bietet, erfcheint
ftoff als kirchliche!', in diefem § 20 .Kafualpredigten' es als Pflicht, die Grenzen des Vorbildlichen zu bezeich-
und § 21 ,Kafualanfprachen' befonders hervorzuheben nen, damit nur das Gute Frucht bringe. Ein großer
fein dürften. ! Vorzug des Buches vor allen anderen Bearbeitungen der

In der ,homiletifchen Formlehre', dem letzten Teile Lehre von der Seelforge ift darin zu fuchen, daß der
des Werkes, entfaltet der Verf. feine weiten Kennt- Verfaffer den gefamten Umfang der Lebensbetätigungen
niffe und fein reifes Urteil namentlich in äfthetifchen der Kirche, alfo den gefamten Inhalt der praktifchen
und rhetorifchen Fragen. Befonders wertvoll erfcheinen j Theologie, unter dem Gefichtspunkte der Seelforge an-
mir § 23: die homiletifche Ordnung, § 24 die gottes- ; fchauen lehrt, die Lebensbetätigung der Kirche mit ihrem
dienstliche Beftimmtheit der homiletifchen Form, § 30 1 Lebenszweck unlöslich verbindet. Ob freilich hierfür
die homiletifche Sprache und § 32 der homiletifche Be- der Ausdruck .Seelforge' richtig ift, mag immerhin beweis
. Ein fehr inhaltreiches und formvollendetes Schluß- j zweifelt werden. Ich behaupte auch nicht, daß der
wort fchließt das Werk ab. Ein großer Teil der Kunft- i Verfaffer feinen Begriff der Seelforge durchgeführt hat;
regeln wird zwar nur für den Kundigen, zur Kontrolle j es müßte dann eine vollständige ,Praktifche Theologie'
bezw. zur Korrektur der eigenen Predigtpraxis, von ' der Inhalt feines Werkes fein; aber das ift nicht der Fall,
größerem Werte fein; der Lernende wird meistens ratlos j Wie denn behandelt der Verfaffer feinen Stoff? Während
vor diefer Fülle fchwer verständlicher Vorfchriften fich in dem Einzelnen die großen Vorzüge des Werkes zu
finden, vielleicht auch ernsten Sinnes der Verfuchung fuchen find, bietet der Aufbau des Ganzen mancherlei

erliegen, feine Predigttüchtigkeit auf dem Wege homile-
tifcher Künstelei fich zu erwerben. Öfter kam mir
Auguftin De doctr. dir. IV3 in den Sinn; was er dort
auf grund reicher Erfahrung über den Nutzen des Studiums
der Rhetorik fagt, hat Goethe treffend wiederAngriffspunkte
dar. Schon im erden Abfchnitt, der
,Begriff und Wefen der Seelforge' behandelt, befremdet
es, unter dem Titel: ,Die Seelforge nach römifch-katho-
lifcher Auffaffung' als ersten § die Seelforge nach der
.Anfchauung der Urkirche' zu finden; ,die Seelforge nach

gegeben: ,es trägt Verstand und rechter Sinn mit wenig j evangelifcher Auffaffung' fcheint demnach in keinerlei
Kunft fich felber vor'. — 1 Beziehung zur Anfchauung der Urkirche zu ftehn. Der

Der Verleger hat das Werk würdig ausgestattet und zweite Abfchnitt (S. 92—181) handelt von den Organen

den Preis außerordentlich niedrig gestellt. S. 65 Z. 1 ift
ftatt Lebensform zu lefen Lebensnorm, S. 175 Z. 14 ift
(tatt Eph. 19 if. zu lefen Act. 19 if.—

Marburg. E. Chr. Achelis.

Köm in, Prof. D. Dr. Heinrich Adolf, Geh. Kirchenrat,
Die Lehre von der Seelforge nach evanglifchen Grundlätzen.

Zweite, neubearbeitete Auflage. (Sammlung von Lehr- j gefchieht im Namen der Einzelgemeinde und' für

der Seelforge. Als folche werden genannt: 1) die Gemeinde
, 2) die feelforgerliche Perfönlichkeit. Organe
find Werkzeuge; wo ift das Subjekt, das diefe Werkzeuge
handhabt? Nach S. 42 ift die Seelforge der Dienst
der Liebe, die ein Glied am Leibe des Herrn dem
andern fchuldet. ,Sie vollzieht fich (S. 92) durch christliche
Perfönlichkeiten, in denen der Geift und Wille
des Herrn zur Anfchauung und Wirkung kommt; fie

büchern der praktifchen Theologie in gedrängter Darstellung
. V. Band.) Berlin, Reuther & Reichard 1907

die Gemeinde. Weil der Gemeinde das Heilswort vom
Herrn anvertraut ift, ift fie das eigentliche Organ der

rvwr ,„.;„, 00 m <* Seelforge'. Es liegt offenbar eine Verwechfelung vor

(XIV, 432S.) gr. 8 . von Organ und Subjekt der Seelforge. Sind aber das

Am 4. Juni 1907 wurde der Verfaffer diefes Werkes Subjekt christliche Perfönlichkeiten, in denen der Geift

abgerufen. Faft an demfelben Tage wurde die zweite und Wille des Herrn regiert, fo kann nicht die ganze

Auflage feiner Lehre von der Seelforge ausgegeben, empirifche organifierte Gemeinde aus Seelforgern be-

Wir haben in dem Werke das Vermächtnis des Ent- , ftehen, Seelforgergemeinde fein. Gefchieht endlich alle

fchlafenen an die Theologie, die reife Frucht eines an ' Seelforge im Namen der Gemeinde, fo wird ,alle' Seel-

Adel und Reinheit der Gelinnung, an religiöfer Innigkeit j forge auf die spezififch kirchliche Seelforge von vorn-
und Gemütstiefe, an künftlerifcher Begabung ausgezeichneten
deutfchen Gelehrtenlebens. Möchte es infonder-
heit von dem evangelifchen Pfarrerftande nach feinem
hohen Werte gefchätzt und zum Gewinn der evangelifchen

herein befchränkt. Eine Erweiterung der Grundlage wäre
unerläßlich gewefen. Im Wefen jeder Art von menfch-
hcher Gemeinfchaft ift es begründet, daß das Ganze auf
den Einzelnen, der Einzelne auf das Ganze, der Einzelne
Kirche verwertet werden. auf den Einzelnen bewußte oder unbewußte Einwirkung

Die erste Aullage des Buches erfchien 1895. In der ausübt. In der evangelifchen Gemeinde, ,die das Heils-
Th. Lit.-Ztg. desfelben Jahrganges Sp. 623 1. habe ich [ wort hat', foll diefe Einwirkung nicht naturhaft bleiben,
es zu würdigen gesucht. Die vorliegende zweite Auflage j die Motive ethifcher Selbftbehauptung und der Bruder-
ift eine Umarbeitung, die den Wert des Buches nur ge- liebe find wirkfam, damit die Einwirkungen dem Evan-
fteigert hat. Den Unterfchied der beiden Auflagen dar- gelium gemäß fich geilalten. So treiben in der Gemeinde
zulegen, hat wohl keinen Zweck; unfere Aufmerkfamkeit j die Einzelnen Seelforge nach ihrem Beruf und Amt, die

nimmt das Buch, wie es jetzt vorliegt, in Anfpruch
Was an der ersten Auflage hervorzuheben war, gilt auch
von diefer. Der Verfaffer ift durchdrungen von der
einzigartigen Bedeutung feines Gegenftandes, und mit

Eltern an ihren Kindern, die Lehrer an ihren Schülern
der Gatte an dem Gatten, der Freund am Freunde; durch
Wort und Wandel haben die Einzelnen auf das' Ganze
feelforgerlichen Einfluß, wie das Ganze durch den in ihm