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Ausgabe:

1908

Spalte:

237-238

Autor/Hrsg.:

Pieper, Anton

Titel/Untertitel:

Christentum, römisches Kaisertum und heidnischer Staat 1908

Rezensent:

Holtzmann, Heinrich Julius

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Seite 1

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Von Commodian fchweigt auch er, obwohl Nero von
jüdifcher Seite her auf die Chriftenfekte aufmerkfam gemacht
und gehetzt worden fein foll. Die oben genannten
Zeugen vertreten die Auffaffung, daß fchon die neronifche
Verfolgung gerade wie die fpäteren dem Glauben und
Glaubensnamen der Opfer gegolten habe. Unfer Verf.
bringt damit den, eine beflehende Sachlage vorausfetzenden
, Schuldtitel I Petr. 4,16 mg xQißriavöc und die
bekannten Martyrien der Apokalypfe (befonders 17,6) in
Zufammenhang, um den Urfprung der in der Zeit diefer
neuteftamentlichen Schriften obwaltenden Rechtslage,
flatt auf Domitian, vielmehr fchon auf Nero zurückführen
und in den fpäteren Chriftenverurteilungen einfach
Nachwirkungen der Kataftrophe vom Sommer 64
finden zu können. Selbftverftändlich kann dann auch
der Verhandlung zwifchen Trajan und dem jüngeren
Plinius keine epochemachende Bedeutung in der Ge-
fchichte der Chriflenprozeffe zuerkannt werden. Die von
letzterem ausgefprochenen Todesurteile find dann vielmehr
fo gut wie das Apk. 2,13 in Pergamum über Antipas
gefällte nur ein Ausfluß der religionspolizeilichen Ver-
waltungsjuftiz, d. h. der flatthalterlichen co'crcitio, ge-
wefen, womit fchon Neros Hofgericht vorangegangen
fein foll. Überhaupt begründet der weitgehende Gebrauch,
welchen der Verf. von dem verwaltungsrechtlichen, fehr
dehnbaren Verfahren im Unterfchied vom gefetzlich um-
(ländlich normierten kriminalrechtlichen macht, einen
durchgehenden Gegenfatz zu Profumos Konftruktion. In
noch prinzipiellerem Gegenfatz dazu fleht aber die neue
Darttellung zu der älteren durch grundfätzliche Verdächtigung
der taciteifchen Darftellung des Prozeffes
als eines mit raffinierter Kunft bewerkftelligten Ver-
fuches Neros, fein eigenes brandftifterifches Verbrechen
durch Abwälzung desfelben auf die Chriften und grau-
fige Beflrafung derfelben zu verdecken (Befeitigung des
Mordbrennergerüchts; daher ,subdidit reos' und ,abolendo
rumori'). In Wahrheit fei es dem Kaifer nur darauf angekommen
, das gefchädigte und aufgeregte Volk mit der
Sühnfeier großartiger zirzenfifcher Hinfchlachtungen zu
unterhalten und darüber das ganze Brandunglück ver-
geffen zu machen. Bei der auch von Tacitus felbtt geteilten
allgemeinen Verrufenheit der Chriften fei es leicht
gewefen, diefe als an dem Brand und der dadurch ge-
fchaffenen Notlage des Volks fchuldige unterzufchieben.
Unterfchieden wird in der taciteifchen Darftellung ein
erfter Prozeß einzelner, rafch zufammengeraffter Chriften
Lcorrept? nicht = accusati, fondern ,ergriffen', und ,fate-
bantur', in der Abficht des Berichterftatters, wie auch bei
Weinel S. 15, auf Mordbrennerei, in Wirklichkeit, wie bei
Pijper S. 59, auf das chriftliche Bekenntnis zu beziehen)
und ein aus dem Verlaufe desfelben fich ergebender
Mafienprozeß [pnultitudo ingens" = Clemens 6 jcoXv
nXrjtrog, Jiaud perinde quam' nicht komparativ, fondern
disjunktiv zu verttehen). Auf den fehr komplizierten Beweisgang
kann hier nicht weiter eingegangen werden.
Er zeugt von beachtenswertem Gefchick und großer Be-
lefenheit. Schwierigkeiten und Unftimmigkeiten, die auf
feinen einzelnen Stationen beftehen bleiben, ergeben fich
aus der obigen fummarifchen Darftellung von felbfit.

Baden. H. Holtzmann.

Pieper, Prof. Dr. Anton, Chriltentum. römifches Kailertum

und heidnifcher Staat. Zwei akademifche Reden. Münder
i. W., Afchendorff 1907. (III, 68 S.) gr. 8° M. 1.25

Beide Reden dürfen Anfpruch auf Beachtung nicht
bloß in Kreifen erheben, die darauf Wert legen, daß fie
mit dem bifchöflichen Imprimatur veröffentlicht find; !
beide flehen dabei allerdings im fachlichen, aber nicht
bewußten Gegenfatz zu der gleichzeitigen Behandlung
desfelben Gegenftandes durch die proteftantifchen Theo-
logen Weinel und Klette. Im Unterfchied von jenem
betont die erde Rede flark die Aufrichtigkeit der loyalen i

Gefinnung und Untertanentreue unter Hinweis nicht bloß
j auf Paulus und Clemens, fondern auch auf zahlreiche
anderweitige, hier wohl in wefentlicher Vollftändigkeit
zufammengeftellte Kundgebungen von Bifchöfen, Schrift-
flellern und Märtyrern. Mit gleich anerkennenswertem
Fleiß entwirft der zweite Vortrag ein umfaffendes Bild
der juriftifchen Debatten und Kontroverfen über die
Frage nach den rechtlichen Grundlagen des flaatlichen
1 Vorgehens und dem dabei beobachteten Verfahren. So
einig man auch im ganzen hinfichtlich des durch hifto-
rifche Kritik gefichteten (S. 20. 34) Materials ift, fo wirr
[ durchkreuzen fich die darauf gebauten Konftruktionen.

Der Gefamteindruck ift faft noch ein hoffnuugsloferer
i als bei Klette. Wir begnügen uns hier mit Kenntlichmachung
der Pofitionen, auf die fich der Verf. zuletzt
zurückzieht. Sie lauten erftlich auf ordentliches Kriminal-
j Prozeßverfahren, wozu das polizeiliche Einfehreiten, die
1 coercitio, höchftens den Einfchlag bildete. Angeklagt
und verurteilt wurden zweitens die Chriften nicht auf
Grund von Gefetzen des gemeinen Rechts, alfo als maie-
statis rei, sacrilegi, malefici u. a., fondern das nomen
ipsum, das ftandhafte Bekenntnis des Chriftenglaubens
galt ohne weiteres fchon als todeswürdiges Verbrechen.
Der Weg, auf welchem ein folches Delikt in die rö-
mifche Kriminaljuftiz Eingang gefunden hat, wird drittens
fo gebahnt, daß Neros Profkription des Chriftennamens
fich ohne einen gefetzgeberifchen Akt des Kaifers oder
j des Senats zu einem ,institutum' (= ungefchriebenem
j Gewohnheitsrecht, vgl. darüber S. 11. 51. 61. 65.68) fich
entwickelt und bei den Gerichten durchgefetzt habe,
während das von Profumo konftruierte institittum trium
accusationum mit einem Fragezeichen verfehen wird
(S.6of. 64).

Baden. H. Holtzmann.

Weinel, Prof. D. Heinrich, Die Stellung des Urchriltentums

zum Staat. Antrittsrede. Gehalten am 1. Juni 1907.
Tübingen, J. C. B. Mohr 1908. (63 S.) gr. 8° M. 1.50

I ,Als Ideale, von denen jedes den ganzen Menfchen,
I Leib und Seele, forderte, haben Chriftentum und Staat
1 in den erften 150 Jahren unferer Zeitrechnung mit einander
gerungen' (S. 2), und trotz der längft gefchloffenen
.heiligen Allianz' zwifchen Thron und Altar flehen wir
heute noch unter bald an der kirchenpolitifchen Überfläche
, bald in Gemüts- und Gewiffenstiefen erlebbaren
Nachwirkungen des alten Antagonismus. Orientierung
erwarten wir nicht bloß von dem Ethiker, fondern vorher
noch von dem .Hiftoriker, dem die Pflicht obliegt,
die Gegenwart aus der Vergangenheit zu verliehen' (S. 3)!
Wie aber, wenn Gegenwart und Vergangenheit gar
keine Vergleichung fchon bezüglich der Frageftellung zu-
laflen? So liegt nämlich die Sache für den Verf., dem
das bekannte Wort vom Zinsgrofchen im Zufammenhang
mit der ganzen Stellung Jefu über den Idealen der
antiken Völker einfach .Ablehnung des Staates', aber auf
keinen Fall .Anerkennung der fatanifchen Weltmacht'
bedeutet (S. 9f.). Vor 16 Jahren habe ich in einer aka-
demifchen Rede (,Das Neue Teftament und der römifche
Staat') ftatt deffen lieber einfache Gleichgültigkeit gegenüber
der politifchen Situation konftatieren zu follen geglaubt
und bin dazu auch noch heute geneigt (vgl. mein
Lehrbuch der neuteftamentlichen Theologie I, S. 226f.
242h). Ganz einverftanden aber bin ich mit Sätzen wie
,Er predigte die Politik der Propheten: Gottvertrauen
und innere Erneuerung' (S. 6f.) ,So hat Jefus überall
und ganz bewußt feine Stellung über dem alten Ideal
des flaatlichen Dafeins der Völker mit feinem Zwang
und Vergeltungsrecht, mit feinem Egoismus und Blutvergießen
genommen' (S. 9). Eigen ift diefer Darfteilung
die ftarke Betonung einer radikalen Unterftrömung, wie
fie befonders in der Apokalypfe fich austobt, von der
aber auch die notwendig befundenen Warnungen vor