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Ausgabe:

1908 Nr. 7

Spalte:

220

Autor/Hrsg.:

Niebergall, Friedrich

Titel/Untertitel:

Die Kasualrede. I. Band. 2. Aufl 1908

Rezensent:

Drews, Paul

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219

Theologifche Literaturzeitung 1908 Nr. 7.

220

des Gewiffens in einem bietet und ihn durch das Gericht
hindurch Vergebung der Sünden, Leben und Seligkeit erfahren
läßt. Zu diefer Wertfehätzung des Kreuzes Chrifti
kann fich eine Wiffenfchaft nicht erheben, die in dem Tode
Jefunur einen Märtyrertod erblickt: eine folche Entleerung
des Kreuzes raubt auch dem von Chriftus verkündigten
Gottvater-Glauben fein ficheres Wahrheitsfundament. Aber
tatfächlich kommt weder der modernen Weltanfchauung
noch der modernen Wiffenfchaft in der Frage nach der
Wahrheit des Kreuzes Chrifti die letzte Entfcheidung
zu, fondern dem modernen Denken. Diefem hat Kant
prinzipiell neue Bahnen gewiefen und neue Aufgaben
geftellt. Dem Königsberger Philofophen verdanken wir
die Erkenntnis, daß es fich bei jeder Weltanfchauung im
letzten Grunde nicht um ein theoretifches Wiffen, fondern
um einen Glauben handelt. Bemißt fich der eigentliche
Wert, die praktifche Vernünftigkeit einer Weltanfchauung
nach dem Maß der Befriedigung, welches fie den ti'efften
praktifchen Bedürfniffen der menfehlichen Perfönlichkeit
und der menfehlichen Gemeinfchaft zu gewähren vermag,
fo fleht, mit diefem Maßftab gemeffen, die chriftliche
Weltanfchauung mit ihrem Glauben an einen überweltlichen
, perfönlichen Gott, deffen Wefen heilige Liebe in,
unendlich höher, als jede, auch die modern-moniftifche
Weltanfchauung. Die weiteren Ausführungen M.s find
teils Beweife diefes Satzes, teils Folgerungen, die in dem-
felben enthalten find. Sie gelten zunächft dem modernen
Denken und dem Ergebnis der gefchichtswiffenfehaft-
lichen Erforfchung des Lebens Jefu. Die für das empfängliche
Gemüt erfahrbaren Wirkungen der Perfon Jefu
find der Art, daß feine Jünger feit den Anfängen der
chriftlichen Gemeinde fich nicht nur des Rechts, fondern
geradezu der Nötigung bewußt find, zu Jefus als zu der
vollendeten perfönlichen Offenbarung Gottes gläubig
aufzufehen und ihn deshalb als Gegenftand ihres Glaubens
auf Gottes Seite zu ftellen. Diefes Urteil chrift-
licher Glaubenserfahrung entfpricht der Selbftbeurteilung
Jefu in feinem unmittelbaren Selbft-und Berufsbewußtfein,
wie dasfelbe auch in dem fynoptifchen Zeugnis vorliegt.
Wo eine diefer Höhenlage nicht entfprechende Wert-
fchätzung Chrifti gilt, liegt der Grund dafür in dem übergreifenden
Einfluß der modernen Weltanfchauung auf
die betreffenden theologifchen Gefchichtsforfcher. Nun
find wir aber von dem unbefriedigenden Jefusbild einer
unterfchätzenden rein religionsgefchichtlichen Beurteilung
gerade durch das moderne Denken befreit, indem es uns
einerfeits die moderne Weltanfchauung als einen bloßen
Glauben, und zwar als einen dem chriftlichen minderwertigen
Glauben verliehen gelehrt hat, andrerfeits die
unüberfteiglichen Schranken des Welterkennens aufdeckt
und eben damit der Vermifchung von Weltanfchauungs-
glauben und wiffenfehaftlichem Erkennen wehrt.

Aus demfelben modernen Denken ergeben fich auch
für die richtige Faffung unferer Glaubensausfagen über
das Kreuz Chrifti gewiffe Normen, die der Verf. in kurzen,
den Ubergang zum zweiten Haupteil feines Vortrags bildenden
Sätzen entwirft. Nach diefen Sätzen erweift fich
die kirchlich überlieferte Verföhnungslehre als eine dem
modernen Denken nicht genügende, wie fie auch der
Heilserfahrung des gegenwärtigen Chriften nicht entfpricht
. Den pofitiven Ertrag feiner Betrachtung faßt M.
in drei Grundgedanken zufammen. Drei große göttliche
Kundgebungen find es, welche die Menfchheit im Kreuze
Jefu empfangen hat. Das Kreuz Chiifti als Abfchluß
und Krönung feines irdifchen Berufslebens ift die vollkommene
Liebesoffenbarung Gottes an die Menfchheit
(S. 82—89). Es ift die Geburtsftätte einer neuen, Gott
wohlgefälligen Menfchheit;' als Anführer und Vollender
des Glaubens ift der Gekreuzigte ihr Schöpfer und Haupt
geworden, der zweite Adam (S. 89—101). Das Kreuz
Chrifti ifl drittens das erfchöpfende Gericht über die Sünde
(S. 101 —111).

Den Ausführungen des Verf.s muß Ref. im wefentlicnen

| beipflichten. Am wertvollften find feine methodologifchen
I Leitfätze, die zur richtigen FYageftellung fördernde Beiträge
liefern. Die Formulierung feiner dogmatifchen Er-
gebniffe dürfte im einzelnen zu Ausftellungen Anlaß
geben, die indeffen nicht von prinzipieller Bedeutung
find und in keinerlei Weife den Wert des Ganzen beeinträchtigen
. Die Schrift fei auch den gebildeten NichtTheologen
aufs befte empfohlen.

Straßburg i. E. P. Lob (lein.

Niebergall, Priv.-Doz. Tic. F., Die Kafualrede. Zweite Auflage
. (Praktifch-theologifche Handbibliothek. I.Band.)
Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 1907. (VIII,
172 S.) 8° M. 2.80; geb. M. 3.40

Niebergalls Schriftchen über die Kafualrede, deffen
erde Auflage ich in diefer Zeitung 1905, Sp. 282 ff angezeigt
habe, liegt fchon in zweiter Auflage vor, ein Beweis,
daß es viele dankbare Lefer gefunden hat, und daß es
als brauchbar erkannt worden ift. Die zweite Auflage
ift nicht wefentlich verändert. Nur die gefchichtlichen
Abfchnitte find umgearbeitet worden. Vielleicht hat
fich der Verf. dazu durch meine Ausftellungen in der
genannten Befprechung veranlaßt gefehen. Er hat fich
von feiner damaligen gefchichtlichen Autorität, Friedr.

j Uhlhorn, jetzt freigemacht und fich auf Grund der vorhandenen
Literatur um eine gründlichere Erfaffung der

I gefchichtlichen Vergangenheit jedes liturgifchen Aktes,
den er befpricht, bemüht. Auch der von mir (Sp. 282)
beanftandete § 6: ,Was man aus der Gefchichte der
Kafualrede lernen kann', ift gefallen und hat einem
Paragraphen Platz gemacht, der die Literatur eingehend
behandelt. Leider hat fich N. trotz meines früheren
Hinweifes nicht entfchließen können, Diegels treffliche
Schrift, die nicht in Vergeffenheit geraten foll: Ratfchläge
und Texte zu evangelifchen Leichenreden (Friedberg 1877)
zu nennen und darauf aufmerkfam zu machen. Über das
Verhältnis von Gefchichte und Praxis hat er dann im
fiebenten Paragraphen (die Taufe) einige allgemeine und
gute Bemerkungen vorgetragen, die weit mehr Verftändnis
für die Bedeutung, die die Gefchichtskenntnis für den behandelten
Gegenftand hat, zeigt, als feine früheren Ausführungen
.

Gern hätte ich es gefehen, wenn N. etliche recht
burfchikofe und unäfthetifche Wendungen und Ausdrücke
getilgt hätte, die mich wenigftens in einem ernften Buche
ftören. Ich finde es z. B. unpaffend, wenn N. fchreibt: ,So
bekommen die Pfarrer .... gar manchen vor die
Flinte (!), der der kirchlichen Beeinfluffung fonft unzugänglich
bliebe' (S. 25). Oder unfehön find Ausdrücke wie:
,patentierte Mufterpfarrer' (S. 57), ,die Weiber fangen an
zu fchnüffeln' (S. 95). Anftößig ift es auch, wenn Bibel-
ftellen wie Apok. 210 und 311 als großfpurige Worte
bezeichnet werden.

Doch das find zuletzt Kleinigkeiten. Im ganzen ift das
Buch recht gut. Wer fein Lob kennen lernen will, der lefe,
was ich am Schluß meiner Befprechung von 1905 gefagt
habe. Oder noch beffer: er lefe das Buch felblt.

Gießen. P. Drews.

Berichtigungen.

Zu Sp. 170: Das Blatt, welches das unkanonifche Evangelienfragment
enthält, ift kein Papyrus-, fondern ein Pergament-Blatt.

Sp. 179, Z. 17 v. o. lies Gefehene ftatt Gefchehene.

Bibliographie

von Lic. theol. Paul Pape in Berlin.
JDeutfcbe «litcrarur.

Schulz, A., Doppelberichte im Pentateuch. Ein Beitrag zur Einleitg. in das
AlteTeftament. (BiblifcheStudien. Hrsg. v. ü. Bardenhewer. XIII. Bd.
i. Heft.) Freiburg i. B., Herder 1908. (VIII, 96 S.) gr. 8° M. 2.80