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Ausgabe:

1908 Nr. 7

Spalte:

214-218

Autor/Hrsg.:

Kähler, Martin

Titel/Untertitel:

Dogmatische Zeitfragen. Alte und neue Ausführungen zur Wissenschaft der christlichen Lehre. 2., sehr verm. Aufl. 1. Bd 1908

Rezensent:

Wendt, Hans Hinrich

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Theologifche Literaturzeitung 1908 Nr. 7.

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tritt die Forderung ftrengfter Askefe, vor allem in ge-
fchlechtlicher Beziehung, doch nicht nur in diefer (alle
Art von .Genuß', Alkohol, Rauchen, üppiges, reichliches
Effen ift zu meiden). Zur Seite geht ernfter, gefunder
fittlicher Anfpruch: die Forderung ,nicht zu Mehlen',
nicht .fchändliche Worte' zu führen ufw. Eigenartig ift
die ftrikte Arkandisziplin der Sekte. G. widmet ihr
eine fehr eindringliche Unterfuchung. Ihr Motiv ift nicht
etwa Furcht vor Verfolgung, fondern der tiefeEindruck, daß
der Geift eine geheime Kraft fei, und daher die Öffentlichkeit
nicht wolle. Aus ihrem Bewußtfein die geheimnisvolle
Stätte ftetiger Offenbarung zu fein, refultiert das eigentliche
Hochgefühl der Chlüftengemeinde gegenüber der
Großkirche: nur fie ift die wahre Kirche, zu der der Geift
ffch ftets neu herniederläßt. Es gehört zur .Wahrung der
Geheimniffe', daß alle Chlüften fich äußerlich zur orthodoxen
Kirche halten, freilich unter allerhand Vorkehrungen,
um nicht wirklich daran teil zu haben, mit viel reservatio
mentalis im einzelnen, Verkehrung mindeftens des Sinns
der Worte, die fie etwa zu fprechen haben (nämlich in der
Richtung auf eine heimliche Verhöhnung des Ritus) ufw.
Den Schluß der Darfteilung der ,Lehre' macht ein Ab-
fchnitt mit der Überfchrift ,die Eschatologie'. G.
ftellt eine Reihe von Mißverftändniffen zurecht, denen
die Lehre der Chlüften ausgefetzt gewefen. Man hat
ihnen die Idee der Seelenwanderung imputiert, auch
pantheiftifche Vorftellungen. Mögen einzelne ihrer Anhänger
folche ,philofophifche' Gedanken gebildet haben:
die Menge denkt nur an Erlöfung vom ,Fleifch', von der
Sinnlichkeit und das Eingehen in die Geifteswelt und damit
in den Frieden; Sonderlehre von allgemeiner Art
wider die Kirchenlehre ift nur die Leugnung der Aufer-
ftehung des Fleifches.

Es folgen gründliche Schilderungen des Kultus und
der Organifation der Sekte. Ich kann es nicht unternehmen
, darüber hier noch näher zu berichten. Allem,
was wie eine .äußerliche' Vermittelung des Geiftes aus-
fieht, abhold, haben die Chlüften doch für jedes der
kirchlichen Sakramente eine Art von Gegenftück und
gerade genug ,Riten'. Ein fehr gutes Bild weiß G. von
der Radenije, dem heil. Tanze, zu geben. Eine Reihe
von befonderen Tanzarten ift zu unterfcheiden. Der
Haupttanz ift die Schiffs- oder davidifche Radenije.
Die Gemeinde bildet einen länglichen Kreis, der feiner
Geftalt nach an ein ,Schiff erinnert und den Namen der
Einzelgemeinde begründet hat. Umftändlich und mit den
größten Vorfichtsmaßregeln ift umgeben der .Priwod', d.h.
der Aufnahmeakt. In einem Anhang behandelt G. .Strittige
fexuelle und Blutriten', nämlich a) den Swalnü grech
(die .gemeinfame Sünde', d. h. die angebliche heilige Unzucht
aller unter einander am Schluffe der Radenije),
b) das Abendmahl mit Kinderfleifch und -Blut, c) das
Abendmahl mit der Bruft der Gottesmutter. Ich habe in
meiner kurzen Schilderung der Chlüftowtfchina in dem
.Lehrb. d. Konfeffionsk.' I, 548 f., Dobrotworski bezw.
Pfizmaier folgend, wie ich f. Z. kaum umhin konnte (G.
fetzt fich ausführlich gerade mit ihnen auseinander), auch
diefe Riten wie Tatfachen hingeftellt: G. ..zeigt, daß fie
zum Teil Mißverftändniffe, zum Teil Übertreibungen
beftimmter Ausfagen, wirklicher (an fich harmlofer) Riten
und Vorgänge, auch laxer oder, wenn man will, frivoler
Ideen einzelner ,Chriftuffe' (befonders des Radajew)
find. In Wirklichkeit feien die Chlüften in der Mehrzahl
ernfte, echte Asketen. In dem Paragraphen, der die
Organifation behandelt, führt G. zunächft die unglaublich
vielfachen Namen vor, unter dem die Chlüften er-
fcheinen. Die ältefte Selbftbezeichnung fcheine ,Chri-
ftowtf China' gewefen zu fein. Seit dem 18. Jahrhundert,
zumal im 19., nennen fie fich offiziell die ,Gottesleute'
{ljudi boschji). .Chlüften', Geißler, werden fie vom Volke
genannt (mit Bezug auf einen nebenfächlichen, keineswegs
ernfthaft gemeinten Akt während des .Tanzes'), ebenfo
.Schaloputen' (Sonderlinge); letztere Bezeichnung ift

befonders im Kaukafus üblich. Die Gottesleute felbft
empfinden diefe Namen wie Schimpf- und Spottnamen:
von dem Namen ,Chlüften' fagen fie, er fei entftanden

[ aus .Chnften', entweder durch ein Mißverftändnis oder
in abfichtlicher Verdrehung. Die Menge weiterer Selbft-

I benennungen und Volksnamen für fie ift gelegentlicher,
zufälliger Art. Recht inftruktiv ift auch das, was G.
über die .Verfaffung' ausmacht: die .Chriftuffe' find
der Mittelpunkt, aber es gibt gewiffermaßen Ober- und
Unterchriftuffe, je nachdem einzelne über die Durch-

j fchnittskraft eines Chriftus hinausragen, oder dahinter
zurückbleiben: ein Oberchriftus heißt ,Gott Zebaoth'
(fo nannte fich Danila gegenüber von Suslow, der ,bloß'
Chriftus war), ein Unterchriftus ift ein ,Profet'. Die
.Gottesmütter' ftehen zur Seite, zuweilen wichtiger als
die Chriftuffe. Überhaupt fehlt es nicht an Eiferfüch-
teleien und dann unter Umftänden nicht an Gelegen-
heitsausgleichen in den Rangbeftimmungen. Ein Gan-

I zes im Sinne einheitlicher Regierung bildet die Chlüftow-

I tfchina nicht.

In § 7, S. 508—588, führt G. die .Denominationen'
bezw. Sonderformen auf, in die die Gottesleute zerfallen
find: er fchildert mehr als ein Dutzend von Ausprägungen
des Chlüftentums neben der eigentlichen
Stammfekte; die bedeutfamfte ift die der Schtundo-
Chlüften oder Maljowanzü (S. 524—561).

Den Schluß, S. 588—648 (worauf noch eine reichliche
Summe von .Nachträgen', zumal auch ein .Regifter
der benutzten ruffifchen Literatur' folgt, S. 648—714)
bildet eine Unterfuchung der verfchiedenen Theorien
über den Urfprung der Sekte. G. unterfcheidet vier
I lauptableitungen, a) die von abendländifcher Sektirerei,
b) vom flavifch-finnifchen Heidentum, c) vom ruffifchen
Chriftentum felbft, d) von älteren flavifchen Sekten, fpe-
ziell vom Bogomilentum; er legt gründlich alle wefent-

I liehen Argumente der (ruffi(chen) Forfcher dar und
nimmt fchließlich felbft Stellung zu der Frage. Indem
er ganz befonders auf die Arkandisziplin und die Pneu-
matologie (Chriftologie) hinweift, denkt er an nicht mehr
unmittelbar zu beweifende, dennoch wahrfcheinlich be-

j flehende Zufammenhänge mit altkirchhchen, gnoftifch-
asketifchen Sekten, vielleicht fpeziell mit den Meffali-
anern oder Euchiten, die in frappanter Weife (G. vet weift
dabei auf Bonwetfchs Artikel über fie in der Realency-
klopädie) Parallelen zu faft allen Zügen des Chlüftentums
böten.

Halle a. S. F. Kattenbufch.

Kahler, Prof. D. Martin, Dogmatifche Zeitfragen. Alte und
neue Ausführungen zur Wiffenfchaft der chriftlichen
Lehre. Zweite fehr vermehrte Autlage. Erfter Band.
Zur Bibelfrage. Leipzig, A. Deichert, Nachf. 1907.
(X, 441 S.) gr. 8« M. 8.50

Unter dem beibehaltenen Gefamttitel .Dogmatifche
Zeitfragen' bietet Kähler in der zweiten Auflage einen
wefentlich anderen Inhalt dar, als in der 1898 erfchie-
nenen erften Auflage. Das frühere zweite Heft über die

| Verföhnung foll als felbftändiges Ganzes abgetrennt
werden. An die Stelle des früheren erften Heftes dagegen
foll jetzt in 3 Bänden eine Sammlung feiner kürzeren
, bisher in Berichten und Zeitfchriften erfchienenen
oder noch ungedruckten Arbeiten treten. Von den im
vorliegenden erften Bande zufammengeftellten, auf die
Bibelfrage bezüglichen Auffätzen war in der vorigen Auf-

I läge überhaupt keiner enthalten.

In dem erften Auffatze unter dem Titel: .Befteht
der Wert der Bibel für den Chriften hauptfächlich darin,
daß fie gefchichtliche Urkunden enthält?', einer Abhandlung
, die früher der 2. Aufl. der Schrift Kählers: ,Der
fogen. hiftorifche Jefus ufw.', 1896, vorangeftellt war,
entwickelt K. feine dogmatifchen Hauptgedanken über