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Ausgabe:

1907 Nr. 6

Spalte:

172-174

Autor/Hrsg.:

Hahn, Ludwig

Titel/Untertitel:

Rom und Romanismus im griechisch-römischen Osten 1907

Rezensent:

Blaufuß, ...

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Theologifche Literaturzeitung 1907 Nr. 6.

172

auf beiden Gebieten die gleiche. So ift die urkundliche
Mitteilung des Materiales aus der Mifchna, welche wir
dem Verfaffer verdanken, auch für das Verftändnis des
Neuen Teftamentes lehrreich. Ich wüßte kein anderes
Hilfsmittel, durch welches man auf fo bequeme Weife
fich eine deutliche, durch eine Fülle der mannigfaltigften
Beifpiele gefättigte Anfchauung von dem Wefen der
rabbinifchen Exegefe machen könnte wie durch diefe
Arbeit eines katholifchen Theologen.

In einem erften einleitenden Teile (S. 5—53) behandelt
A. ,Die Wertung der Heiligen Schrift in der
Mifchna'. Er gibt hier viel nützliches Material über die
ausdrücklichen Erwähnungen biblifcher Bücher in der
Mifchna (S. 16 f.), über die Art, wie größere Abfchnitte
erwähnt werden (S. 17 ff.) und über die Formeln, mit
welchen einzelne Stellen angeführt werden (S. 41 ff.);
fpricht auch über .Verunreinigen der Hände' (S. 23
bis 26) und über T5Ä (S. 27—33). Das Material wird in
reicher Fülle, doch nicht immer ganz vollftändig dargeboten
. Unter den biblifchen Büchern, welche in der
Mifchna erwähnt werden (S. 17), fehlt Ezechiel (Tamid

III, 7. Middoth IV, 2). Esra wird auch Schekalim I, 5
erwähnt. Als Parallelen zu der Einführungsformel
Rom. 11, 2 ev 'ff/Lsia ri Xiyst r yQcxprj wären außer den
S. 17 angeführten Stellen noch zu nennen: Kiddufchin

IV, 14 fin. (DITiaiO), Sanhedrin II, 2—3 (TnS), Sanhedrin
VI, 2 (pSO). Ob mit dem Ausdruck rwrßPJ (,die Schrift')
jemals die Gefamtheit der Bücher des A. T. gemeint ift
(S. 45), möchte ich bezweifeln, obwohl es eine fehr verbreitete
Meinung ift. Ein Hauptgedanke, welchen der
Verf. in diefem erften Teile durchführt, ift der, daß in
der Mifchna keine Wertunterfchiede hinfichtlich der
einzelnen Bücher des A. T. gemacht werden (S. 34ff.);
alle gelten in gleicher Weife als heilig und fchlechthin
autoritativ. Letzteres ift zwar in der Hauptfache richtig,
fchließt aber nicht aus, daß die Thora in der Wert-
fchätzung noch über den andern Schriften fteht. Die
Gründe, aus welchen dies hervorgeht, find von dem
Verf. felbft angeführt und durch das von ihm Beigebrachte
nicht widerlegt.

Den Kern der Arbeit bildet der zweite Teil: Die
Verwertung der heiligen Schrift in der Mifchna (S. 53
bis 170). Was hier einleitungsweife über ,Halacha und
Haggada, ihr Verhältnis zur heiligen Schrift' gefagt wird,
ift vielleicht der am wenigften befriedigende Abfchnitt
in dem Buche. Über das Wefen der Halacha und
Haggada wird man nicht ausreichend orientiert; ftatt
deffen wird manches hereingezogen, was nicht eigentlich
zum Thema gehört. Um fo wertvoller ift nun die Vorführung
des eigentlichen Materiales, um welches es fich
handelt (S. 67—140). Es werden in fachlicher Gruppierung
die in der Mifchna angeführten Stellen aus dem
Alten Teftamefnte im Wortlaute (in deutfcher Über-
fetzung) mitgeteilt und jedesmal zugleich der Wortlaut
des Satzes, der dadurch bewiefen werden foll, oder der
Folgerung, die daraus gezogen wird. Wir haben hiermit
fchon das Einteilungsprinzip angegeben, nach welchem
Aicher disponiert. Er betitelt den einen Abfchnitt ,Die
Schriftanwendung in der Mifchna' (S. 67—107), den
andern ,Die Schriftauslegung in der Mifchna' (S. 107
bis 140). Diefe nicht fehr deutlichen Überfchriften wollen
fagen, daß in jenem Teile diejenigen Fälle zufammen-
geftellt werden, in welchen ,der heilige Text zur Be-
ftätigung einer vorher dargelegten Idee herangezogen
wird' (S. 63), in dem andern dagegen diejenigen Fälle,
in welchen die Schrift ausgelegt und Folgerungen aus
ihr gezogen werden. Aber A. felbft fagt (S. 107), daß
man auch hier, wo man die Schrift felber reden laffen
will, oft fchon das mitgebracht hat, was man findet.
Der Unterfchied ift alfo fließend. Auch die Unterabteilungen
, welche A. macht, greifen ineinander über.
Eine fefte Dispofition ift eben hier, wo tatfächlich die
Willkür herrfcht, nicht möglich. Es kommt daher auf

die Rubriken auch nicht viel an. Die Hauptfache ift,
daß uns die Fülle des Stoffes durch Mitteilung des
jedesmaligen vollen Wortlautes in fo zweckmäßiger
Weife dargeboten wird.

In einem Schluß-Abfchnitt (S. 141—170) Hellt der
Verf. noch die rabbinifchen Interpretations-Regeln dar,
nämlich die rieben Regeln Hillels (S. 141 —148), die dreizehn
Regeln Ismaels (S. 148 f.) und die 32 Regeln
Eliefers des Sohnes des R. Jofe ha-Gelili (S. 149—153).
Sodann aber erörtert er das Verhältnis von Midrafch
und Halacha (S. 154—170). Er wendet fich hier gegen
die Anficht, daß der Midrafch, d. h. die Schriftauslegung,
die ältere Form der traditionellen Lehre gewefen fei,
und aus ihr fich erft die Halacha (welche den Rechtsftoff
in fachlicher Anordnung gibt), entwickelt habe. Er fucht
zu zeigen, daß das Verhältnis das umgekehrte war: erft
die Halacha, dann der Midrafch. Zu diefer —- ficher
falfchen — Anficht ift er gelangt unter dem Eindruck
der uns vorliegenden Schriftwerke. In unterer Mifchna
verhält es fich allerdings fo, daß die halachifchen Sätze
in vielen Fällen erft nachträglich durch ein Schriftwort
begründet werden, das fachlich kaum etwas damit zu
tun hat. Und auch in unteren Midrafchwerken wird in
der Regel der dargebotene Stoff nicht aus dem Text
abgeleitet, fondern an denfelben äußerlich angeknüpft,
während er feinen Urfprung tatfächlich anderswo hat.
Aber was in Bezug auf die uns vorliegenden Schriftwerke
■— wenigftens überwiegend — richtig ift, ift
keineswegs zutreffend für die Periode des lebendigen
Werdens und Wachfens der. Stoffe. Die Halacha hat
ihren Urfprung zweifellos im Midrafch, d. h. in der ka-
fuiftifchen Bearbeitung des Textes der Thora. Wenn auch
Manches durch bloße Gewohnheit gültiges Recht geworden
ift, fo ift doch die Hauptmaffe des halachifchen Stoffes
dadurch entftanden, daß man die fchriftliche Thora ausgelegt
hat, alfo durch Midrafch. Auch für die Haggada
gilt dies wenigftens teilweife, obwohl hier allerdingsgrößere
Mafien des Vorftellungsftoffes unabhängig vom Schrifttext
— aus andern Quellen — erwachfen find. Der
Verf. hat fich offenbar nicht ernftlich genug die Frage
vorgelegt: wie denn die halachifchen und haggadifchen
Stoffe entftanden find. Hätte er dies getan, fo hätte
er erkennen müffen, daß eine Hauptquelle derfelben der
Midrafch war. Erft fpäter ift dann die bereits herrfchende
Halacha und Haggada nachträglich auch wieder durch
Midrafch geftützt worden. Für diefe Zeit kann man
allerdings vielfach fagen: erft die Halacha, dann der
Midrafch.

Göttingen. E. Schürer.

Hahn, Profeffor Dr. Ludwig, Rom und Romanismus im
griechisch-römischen Osten. Mit befonderer Berück-
fichtigung der Sprache. Bis auf die Zeit Hadrians.
Eine Studie. Leipzig, Dieterich'fche Verlagsbuchhandlung
1906. (XVI, 278 S.) gr. 8» M. 8 —

Der Einfluß, den das Griechentum auf römifche
Verhältniffe ausgeübt, ift oft gefchüdert worden. Daß
umgekehrt der römifche Geift auf griechifchem Boden
mannigfache Veränderungen des Denkens, Lebens und
der Sprache hervorgebracht, war zwar Einfichtigen bisher
nicht unbekannt, aber an einer umfaffenden Nachweifung
folch römifcher Beeinfluffung des Griechentums hat es
bisher gefehlt, und der Verfaffer hat das nicht zu bezweifelnde
Verdienft, mit feinem Werke eine Lücke der

! philologifchen Wiffenfchaft ausgefüllt zu haben. Von den
älteften Zeiten ausgehend zeigt er für die einzelnen Ent-

j wicklungsperioden (italifche Zeit, Pyrrhos bis Polybios,
bis zur Schlacht von Aktium, Auguftus, Kaiferzeit bis
Traian), wie griechifches und römifches Leben fich einander
genähert oder wechfelfeitig durchdrungen und wie
diefes Verhältnis in mehr oder minder bedeutfamer Weife