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Ausgabe:

1907 Nr. 4

Spalte:

124-125

Autor/Hrsg.:

Freisen, Joseph

Titel/Untertitel:

Der katholische und protestantische Pfarrzwang und seine Aufhebung in Österreich und den deutschen Bundesstaaten 1907

Rezensent:

Frantz, Adolf

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Theologifche Literaturzeitung 1907 Nr. 4.

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Stapper, Gymn.-Relig.- u. Oberlehrer D. Richard, Die
alterte Agende des Bistums Müniter. Mit Einleitung und
Erläuterungen als Beitrag zur Liturgie- und Kultur-
gefchichte herausgegeben. Im Anhang: I. Ein mün-
fterfches Domrituale vom Anfang des 16. Jahrhunderts,
II. Vier Lichtdrucktafeln mit Noten- und Textproben
aus der Agende. Münster, Regensbergfche Buchhandlung
1906. (VII, 148 S.) 40 M. 6.6b

Dem auch in Deutfchland erwachenden Bemühen,
wertvolle liturgifche Bücher des Mittelalters, die oft nur
in einem handfchriftlichen Exemplar vorhanden find,
durch den Druck zugänglich zu machen, haben wir auch
die forgfame und mühevolle Herausgabe der älteften
Agende des Bistums Münfter durch D. Stapper zu verdanken
. Das Original, eine Pergamenthandfchrift, ift nur
in einem Exemplar in dem bifchöfhchen Mufeum zu
Münfter vorhanden; Schrift und Einband weifen auf die
Wende des 15. und 16. Jahrhunderts hin. Der Inhalt
der Agende flammt jedoch aus älterer Zeit. Teilweife
ift fehr altes Gut darin konferviert. So finden wir (S. 45)
aus dem Sacramentarium Gelasianum das Gebet für die
Weihe der Ofterkerze hier zur Segnung des Ofterfeuers
verwendet; mit hohen Worten wird darin den Bienen
Lob gefungen, die partus non edunt, sed orc legcntcs con-
cepti fetus reddunt examina und deshalb ein Vorbild
Chrifti find, der ore paterno processit, ja ein Vorbild der
Maria, da fecunda est in Iiis sine partu virginitas. Die
Wichtigkeit der Agende befteht darin, dafs fie das erfte
Ritualbuch für Welftgeiftliche ift. Daraus erklärt es fich,
dafs viele kirchenrechtliche Anweifungen (Nr. 21—27)
und Inftruktionen für priefterliche Seelforger darin aufgenommen
find.

Der Herausgeber macht es wahrfcheinlich, dafs die
Agende im Fraterhaufe zu Münfter nach einer Vorlage
des Stiftes Borken gefchrieben wurde. Der Verfaffer
der Vorlage war ein Geiftlicher der Diözefe Trier, wie
aus dem Mainzer Kanzleideutfch in dem Ordo copulandi
in matrinionio (S. 62) und aus der ftarken Benutzung der
Statuten der Synode von Trier 1310 hervorgeht. Diefe
Vorlage ift von Münfter übernommen worden. Es mufs
vor 1420 gefchehen fein; denn feit diefem Jahr wurde die
Härefie zu den päpftlichen Refervatfällen gerechnet,
während fie in unfrer Agende noch zu den bilchöflichen
gehört. Es mufs auch vor 1418 gefchehen fein. Denn
in diefem Jahre wurde die kleine Exkommunikation durch
Martin V aufgehoben, während fie in unfrer Agende noch
vorkommt. Somit darf man den Grundftock der Agende
etwa in die Mitte des 14. Jahrhunderts fetzen, die Zu-
fätze des Trierer Redaktors etwa 1400—1414, die Nachträge
werden bis 1500 hinzugefügt fein.

Aus dem nach manchen Seiten hin bemerkenswerten
Inhalt der Agende heben wir hervor, dafs in dem
Ordo ad visitandum et ungendum infirmum — in dem,
nebenbei bemerkt, zweimal der Aaronitifche Segen vorkommt
— die alte Sitte, dafs im Anfchlufs an den Wortlaut
Jak. 5 u mehrere Priefter bei der letzten Ölung
fungieren, beibehalten ift; die Gebete und Zeremonien
nehmen eine unverhältnismäfsig lange Zeit in Anfpruch,
dem fterbenden Chriften zur Qual. Die kirchenrechtlichen
Beftimmungen zeichnen fich durch äufserfte Rigorofität
aus. Nicht nur, dafs der kleinen Exkommunikation omnes
haeretici et fautores eornm et eos in kospitium reci-
pientes verfallen, auch den joculatores, histriones ac
alii notoriipeccatores, ut figellatores (Violinfpieler),
fistulatores etc. droht ein gleiches Schickfai, das mit der
Sentenz motiviert wird: nam manibus deum stimulant,
qni vocibus populum dei delectant. Durch das Interdikt
(Nr. 26. 27) wurden ,meift nur Unfchuldige in einer überaus
harten Weife in Mitleidenfchaft gezogen' (S. 132);
eine Stadt verfiel oft dem Interdikt, weil nur einige wenige,
vielleicht ganz fremde, exkommunizierte Perfonen vorübergehend
zum Effen und Trinken, zum Übernachten oder
andrer Gefchäfte wegen fich dort aufhielten. Bemerkenswert
ift auch, wie fich die Agende gegen die Auflöfung
der Kirchendisziplin, die durch die von Clemens V 1312
an dieDominikaner und Franziskaner übertragene Befugnis,
überall Beichte zu hören, herbeigeführt wurde, zu wehren
fucht: fie nahm (24 Nr. 14) die Beftimmung des Trierer
Provinzialkonzils von 1310 auf, nach welcher jeder
Gläubige einmal im Jahre dem eigenen Pfarrer beichten
müffe. In der S. 131 A. 4 mitgeteilten Beftimmung der
Statuten des Kölner Erzbifchofs Wikbold (um 1300)
werden gar die predicatores (Dominikaner) mit den que-
stuarii zufammengeftellt und vor beiden wird das Volk
gewarnt propter pcricula, heresin et errores, quos sepius
seminant.

Die Agende wird in würdiger Ausstattung dargeboten;
die Einleitung und dieErläuterungen des Herausgebers zeichnen
fich durch Sorgfalt, Umficht und Gelehrfamkeit aus. An
Druckfehlern notiere ich: S. VI 13 lies 109 ftatt 100, 31 ih sit
ftatt si, 3622 pulsate ftatt pultate, 50 7 digneris ftatt dignis.
65 i8 und 69 15 de ftatt te, 66 11 fustes ftatt fustos, 78 u ift
,et' zu tilgen, 680 und Anm. 1 lies ut ftatt et, 10914 fehlt
,zu' vor ,denken', 11718 lies 1215 ftatt 1216, 128 letzte
Zeile ift ,der' zu tilgen, 14411 lies ,das' ftatt ,daß'.

Marburg. E. Chr. Achelis.

Frei Ten, Prof. DD. Jofeph, Der katholifche und pro-
tettantifche Pfarrzwang und feine Aufhebung in Öfterreich
und den deutschen Bundesftaafen. Ein Beitrag zur
Rechtsgefchichte der Toleranz. Mit Abdruck der
ftaatskirchenrechtlichen Erlaffe. Paderborn, F. Schö-
ningh 1906. (XII, 195 S.) gr. 8» M. 5 —

Verfaffer, der gelegentlich der Quellenforfchung für
fein großes Werk über Staat und katholifche Kirche
(befprochen in Theologifche Literaturzeitung 1906,
Nr. 20) das Material auch zu der vorliegenden Arbeit
gefammelt hat, gibt nicht fowohl eine erfchöpfende Darfteilung
des Pfarr/.wangs überhaupt nach hiftorifchen und
dogmatifchen Gefichtspunkten, als vielmehr behandelt
er den Pfarrzwang, foweit er Angehörige anderer Konfektionen
betrifft, und bringt feine vollständige oder teilweife
Aufhebung in diefer Hinficht in Öfterreich und
den deutfchen Bundesstaaten zur Darstellung. Dabei
gibt er in der Hauptfache nur eine Zufammenftellung
des einfchlagenden Gefetzesmaterials für die einzelnen
Staaten, der meist nur kurz gehaltene Einleitungen
vorausgefchickt find. Übrigens ift die in Rede flehende
Aufhebung durchweg feitens der Staatsgewalt erfolgt.
Von feiten der katholifchen Kirche konnte fie, wie Verf.
hervorhebt, prinzipiell nicht verfügt werden wegen des
Grundfatzes, daß jeder Getaufte Mitglied der Kirche ift,
wogegen auf proteftantifcher Seite folche prinzipiellen
Bedenken nicht entgegenstanden. Bei einigen kleineren
Staaten ift Verf. über feine eigentliche Aufgabe hinausgegangen
und veröffentlicht überhaupt bisher noch nicht
publiziertes ftaatskirchenrechtlich.es Material. Was die
Anordnung des Stoffes anlangt, fo behandelt Verf.,
nachdem er in der Einleitung den Begriff des Pfarrzwangs
festgestellt und feine Aufgabe präzisiert hat, in
drei Abfchnitten das Kaifertum Öfterreich, die deutfchen
Bundesstaaten und die Nordifchen Mißtönen (Bremen,
Lübeck, Hamburg, Schaumburg-Lippe, Schleswig-Holstein
, Mecklenburg). Mögen ihn zu diefer Anordnung
des Stoffes vielleicht auch innere Gründe bestimmt
haben, fo macht diefe Gegenüberstellung der deutfchen
Bundesstaaten und der Staaten der Nordifchen Mißtönen
doch einen eigentümlichen Eindruck und ebenfo wirkt
es einigermaßen befremdend, wenn unter den deutfchen
Bundesstaaten noch ein Königreich Hannover oder ein
1 Kurfürstentum Heffen aufgeführt wird. Indeffen han-
| delt es fich hierbei nur um Äußerlichkeiten, die den