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Ausgabe:

1907 Nr. 4

Spalte:

121-122

Autor/Hrsg.:

Grützmacher, Richard H.

Titel/Untertitel:

Modern-positive Vorträge 1907

Rezensent:

Niebergall, Friedrich

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121

Theologifche Literaturzeitung 1907 Nr. 4.

122

lifchen Vater Jefu Chrifti lauter Gutes zutraut. Angefichts
diefer warmen und ftarken Glaubenshaltung verliert man
die Luft, fie unter die theologifche Lupe zu nehmen.
Von felbft aber fällt es einem fchon auf, wie M. in
den Aufzug feines chriftlichen Denkens einen ftarken
indifchen Einfchlag gefügt hat; darum ift ihm der Gedanke
des Fortlebens wie auch der der Präexiftenz der
Seele fo fehr fympathifch. Frei und weit ift auch feine
Stellung in der Frage Religion und Religionen: er be-
feitigt jeden Reft des Supranaturalismus zugunften des
natürlichen Charakters aller Religionen, da er es nicht
begreifen kann, wie der Glaube der Chriften für fich
eine ganz befondere Herkunft beanfpruchen mag. —
Über diefen Punkt wollen wir mit M. nicht rechten. —
Das ganze Büchlein ift fehr hübfch ausgeftattet und mit
einem fympathifchen Bild von M. geziert. Es eignet fich
vorzüglich dazu, als Gefchenk an Leute gegeben oder
empfohlen zu werden, die fich von dem Hauch einer
freien und warmen Religion anwehen laffen wollen, ohne
daß fich ihrem Denken zu viele Schwierigkeiten und
Widerftände in den Weg legen.

Heidelberg. Niebergall.

Griitzmacher, Prof. Richard H., Modern-pofitive Vorträge.

Leipzig, A. Deichert Nachf. 1906. (VIII, 217 S.) 8°

M. 3.50

Es ift nicht leicht, ein einheitliches Urteil über diefe
Vorträge zu gewinnen, da fie an Inhalt und Wert fehr
verfchieden find. Man kann fie in drei Gruppen einteilen
, je nachdem ihr Inhalt vorwiegend dogmenge-
fchichtlich, apologetifch oder polemifch ift. — 1. Am
beften haben mir die beiden dogmengefchichtlichen über
Luthers vorbildliche Stellung zu Wort und Geift und
über die Sakramente gefallen. Hier ift Arbeit und
fefter Grund. Mit Nachdruck wird in beiden hervorgehoben
, daß es Luthers Anfchauung entfpricht, wenn fich
der Geift in der von dem Schöpfergott gefchaffenen
Welt Medien fucht, um die Gnade und Erlöfungskraft
desfelben Gottes darzubieten. Darin liegt das Pofitive,
das Moderne Hegt in der pfychologifchen Vertiefung
und in der modernen Betonung der Zufammenhänge
zwifchen Leib und Seele, die trotz der Erkenntnis, daß
geiftig nur auf den Geift gewirkt werden kann, der
Taufe eine Art von geheimnisvoller Bedeutung retten
will. Das ift modern-politiv. — 2. Die apologetifchen Vorträge
behandeln Evolution und Offenbarung: Analogien
find noch keine Zufammenhänge, eine Entwicklung gibt
es nur vom A. T. in das N. T., aber nicht von den
Religionen zum Chriftentum, dann noch von Chriftus
aus ins Chriftentum hinein; was wie alle wirklich großen
Erkenntniffe von der pofitiven Theologie gefunden fein
foll. — Jefu leibliche Auferftehung ift dem modernen
Denken viel plaufibler als fein bloß geiftiges Fortleben;
denn man denkt heute geift-leiblich und man will übernatürliche
Hilfe gegen Sünde und Tod. Der Tod ift
das Naturwidrige, das durch das gefetzmäßige Ereignis
der Auferftehung wettgemacht wird. — Darum ift auch
der Tod in der Menfchenwelt aufzuheben durch das
ewige Leben, das Unnatürliche durch das Natürliche. Der
Zufammenhang von Sünde und Tod hat fich vom
Sündenfall her gemäß dem modernen Vererbungsgedanken
vererbt. Zum Genuß des ewigen Lebens muß
man (das ift ein fehr fchöner Gedanke) die nötigen Organe
geiftiger Art gewinnen. — Der Materialismus
fchließt die Erziehung aus. — Die Religionsgefchichte ift
eine Zeugin des Chriftentums: Die Geftalten der Götter
find nur Projektionen der menfchlichen Wünfche, aber
das Chriftentum zeichnet fich durch feine Lückenlofig-
keit und Harmonie vor den andern Religionen aus und
ift darum wahr. — Das ift moderne pofitive Theologie.

3. Das Wefen des Chriftentums und die Religion der
Offenbarung im Gegenfatz gegen die des Geheimniffes

werden in ftark polemifchen Auffätzen behandelt.
Erfteres befteht in der Durchfetzung der Herrfchaft
Gottes durch Jefus, der in feinem Kreuz und feiner Auferftehung
Vergebung und neues Leben wirkt. — Die
moderne negative Theologie kennt immer nur das Geheimnis
, die pofitive dagegen die Offenbarung. Letzterer
Satz ift fehr bezeichnend für eine Methode, die vor
allem darauf ausgeht, andere fchlecht zu machen: denn
der Begriff des Geheimniffes wird mit Bezug auf die Dar-
ftellung Jefu, alfo biographifch, dagegen der der Offenbarung
dogmatifch verwandt. — Das ift Gr.s Modern-
pofitive Theologie.

Was er will, ift nicht einheitlich: bald will er (S. 19)
das Moderne am Pofitiven meffen, um feftzuftellen, was
von ihm bleiben darf, bald will er um den alten Kern
Schalen (S. 106) legen, die aus dem Geiftesleben unfrer
Zeit herausgefchnitten find. Wie die Schale den Kern
beeinträchtigt, bedenkt er nicht; es fcheint ein fehr einfaches
Experiment, wenn nur immer der Kern der alte
bliebe und die Schale wirklich neu wäre. Aber Ähnliches
wollen wir ja auch, nur mit ein bischen andern
Worten. Vor dem Verdacht diefer Gemeinfchaft fucht
fich darum Gr. durch einen polemifchen Ton zu retten,
der fogar das Mißfallen feiner Gefinnungsgenoffen erweckt
hat (f. Theol. Literaturbericht 1906 Nr. 11). Zwar be-
fticht das Buch durch die außerordentlich gewandte und
gefällige Sprache; aber es macht einen recht unangenehmen
perfönlichen Eindruck. Diefe überlegene ,wenig
vornehme' (a. a. O.) und fchnoddrige Art ift nicht vom
heiligen Geift und muß erbittern auf beiden Seiten. —
Wenn der Anfpruch, durch Denken die Probleme zu löfen,
mit dem Tadel verbunden ift, daß die Negativen fo oft die
Erbaulichkeit an Stelle des gefürchteten Denkens fetzen,
fo ift an dem Tadel etwas Wahres: man follte weniger
in die Überzeugung hineinerbauen, als theoretifch zeigen,
daß man die letzten Fragen nur praktifch löfen kann.
Aber Gr.'s eigener Anfpruch fleht auf fchwachen Füßen;
denn überall zeigt fich, daß es fich unter allen Umftänden
bei dem furchtlofen Denken darum handelt, gewiffe alte
Pofitionen feilzuhalten, und nun krampfhaft im modernen
Geiftesleben ein paar Motive aufzutreiben, die fie ftützen
können. Dann ruft man den Negativen fchadenfroh zu:
Ihr wollt modern fein? Hier meine Herrfchaften, das
Allermodernfte, das Allermodernlle! — Gr.s Buch kann
jedem Theologen zu einem Bußfpiegel werden: wir
follen in unfrer Arbeit nicht nach dem Modernen, fondern
nach der Wahrheit fragen. Aber noch zwei Dinge
können einem klar werden: einmal die Unart, den Gegner
abfolut zu meffen nach der Stellung, die er zu den
Dingen einnimmt, die einem felbft wichtig find. So ift
es einfach eine Unart, wenn ein junger Mann in diefer
Weife von der,negativen Theologie' fpricht, der er nicht
wenig verdankt; ebenfo wenn ein freierer Theologe die
Orthodoxen fchmäht, von denen er vielleicht fein Beiles
hat. Dann aber kommen einem noch befondere Gedanken
über die ganze Vortragerei der Gegenwart: Wer
über ein bischen Denk- und Sprachgewandtheit, über
etwas Witz und Draftik verfügt, fleht in der Gefahr, von
dem fchrecklichen Bedürfnis nach Vorträgen verdorben
oder wenigftens konfumiert zu werden. Dann gibt es
eine folche kecke und leichte Hufarentheologie, wie hier
bei Gr. Der Beifall einer auf Pointen und Bosheitchen
lauernden Parteihörerfchaft ift für uns jüngere Leute
alle miteinander eine Verfuchung, fchnellfertige Worte
zu produzieren, flatt in ftiller, emfiger Arbeit gründliche
Ergebniffe zu zeitigen, die etwas länger halten, als die
auf allgemeines Verlangen in den Druck gegebenen
momentanen Geiftesprodukte.

Heidelberg. Niebergall.