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Ausgabe:

1907 Nr. 4

Spalte:

120-121

Autor/Hrsg.:

Müller, Max

Titel/Untertitel:

Leben und Religion. Gedanken aus den Werken, Briefen und hinterlassenen Schriften 1907

Rezensent:

Niebergall, Friedrich

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Theologifche Literaturzeitung 1907 Nr. 4.

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und Philofophie durch die ,wirkliche' zu erfetzen. Als das
Wefen diefer Welt faßte er die Kraft auf, wozu als Ergänzung
für die Bezeichnung der Lebensaufgabe und
die Erklärung der menfchlichen Dinge der Wille zur
Macht tritt. An diefen beiden Beftimmungen und an
ihrer Verbindung fetzt K.s Kritik ein. Zunächft führt
er aus, daß die ,wirkliche' Welt N.s, die Welt der Kräfte,
nichts anderes als eine Konftruktion ift, wie es fich angeblich
mit der ,wahren' Welt verhält. Weit entfernt
davon, daß diefe Auffaffung der Welt auf Wiffenfchaft
beruht, ift fie eine Deutung der Welt unter dem Ge-
fichtspunkt eines praktifchen Ideals, des Willens zur
Macht. Diefes Ideal aber verträgt fich nicht mit diefer
fo ausgeführten Weltauffaffung, weil fie ja keinen Willen
kennt, fondem nur Kräfte und Kraftzentren. So bricht
feine Philofophie hier unrettbar in zwei Hälften auseinander
. Alfo beruht fein Syftem nicht auf Wiffenfchaft,
wie er es verfpricht, fondern auf einer Tat der Wert-
fchätzung und Freiheit, die noch dazu falfche Wege
einfchlägt.

Den Schluß macht der Verfuch, aus N.'s perfön-
lichem Wefen feine Philofophie zu erklären: die entfchei-
dende Tat feines Lebens, der Übergang vom Nein zum
Ja, der ihn zum Feind aller Läfterer der ,wirklichen'
Welt machte, feine eigene Schwachheit, die ihn fein
Menfchenideal gerade aus folchen Zügen zufammen-
fetzen ließ, die ihm abgingen, fein krankhaftes Selbft-
gefühl, das zur Betonung gerade der Dinge führte, die
dem Zeitgeift entgegen waren, und endlich die Mufik,
die fich z. B. in dem Gedanken der ewigen Wiederkehr
geltend macht, die nach der Analogie eines an das
Ende Mets wieder neu anknüpfenden Mufikftückes gedacht
wird.

Darum wird die Philofophie N.s als ganzes fchwerlich
eine Zukunft haben.

Heidelberg. Niebergall.

Kirn, Prof. D. Otto, Grundriß der evangelifchen Dogmatik.

Zweite, durchgefehene Auflage. Leipzig, A. Deichen,
Nachf. 1907. (XI, 131 S.) gr. 8<> M. 2.20; geb. M. 2.80

Es ift nicht zu verwundern, daß bei der kurzen
Zeit, die feit dem Erfcheinen der erften Auflage (1905)
diefes Grundriffes verfioffen ift, Kirn mit feinem Buch
keine weiter gehende Umgeftaltung vorgenommen hat.
Methode und Anordnung, die fich dem Verfaffer bewährt
haben, find unverändert geblieben. Hierüber darf
Ref. fich auf die frühere Belprechung in diefem Blatt
(Jahrgang 1905, Nr. 21) zurückbeziehen. Dagegen muß
auf die Durchficht, welche die Schrift erfahren hat, nachdrücklich
hingewiefen werden. Die Paragraphen find zu
zählen, in denen nicht kleinere oder größere fachliche
oder redaktionelle Änderungen ftattgefunden haben.
Wer fich um eine dogmatifche Formulierung der evangelifchen
Glaubenserkenntnis bemüht, wird nicht ohne
reges Intereffe und wefentliche Förderung die Texte
der beiden Auflagen vergleichen können. Eine eingehende
Umarbeitung ift dem von der Aufgabe des
dogmatifchen Beweifes handelnden § 27 zuteil geworden
. In dem Kapitel über den Beweis (1. Aufl.
,die Beweisführung') für die Wahrheit des Chriften-
tums ift § 29 (der Beweis aus der Religionsge-
fchichte) mit befonderer Rückficht auf Troeltfchs
Forfchungen zwifchen die §§ über die Unmöglichkeit
eines bloß theoretifchen Beweifes für die Wahrheit
des Chriftentums und über den Beweis aus
der religiöfen Erfahrung eingefügt worden. Der § 16
des II. Teils über die göttliche Vorfehung und das
Wunder bietet eine die metaphyfifche und die religiöfe
Fällung des Wunderbegriffs beleuchtende Erweiterung.
Eine erhebliche Anzahl von Zufätzen dient bald
zur Vervollftändigung des biblifch-theologifchen oder
dogmenhiftorifchen Materials, bald zur eingehenderen

Begründung oder präziferen Formulierung der perfön-
lichen Pofition des Verfaffers: man vergleiche im I. Teil,
§ 5 (Das Wefen der Religion) die Bemerkungen über
den Buddhismus, § 11 (Das Wefen des Chriftentums)
die Stellungnahme zur Unterfcheidung zwifchen Perfon
und Prinzip in der Beftimmung des Wefens der chrift-
lichen Religion, fowie die nähere Ausführung des Gedankens
der Erlöfung, den wichtigen neu hinzugefugten
Schluß von § 12 (Der Begriff der Offenbarung), die
wefentlichen Erweiterungen von § 14 (Theologifche
Auffaffungen des Wefens der Offenbarung), den
dankenswerten Schluß von § 18 (Der Glaube als Aneignung
der göttlichen Offenbarung), die Andeutungen
über den Schriftbeweis für die Verbalinfpiration
der Bibel (§21 Das Selbftzeugnis und die tatfäch-
liche Befchaffenheit der heiligen Schrift), die
Erweiterung und nähere Begründung von § 30 (Der Beweis
aus der religiöfen Erfahrung). Im zweiten
Teil haben befonders § 35 (Dogmatifche Fragen des
Lebens Jefu), §41 (Grundlinien derVerföhnungs-
lehre), §44 (Die Rechtfertigung aus dem Glauben),
§ 49 (Die Taufe), § 54 (Das Fortleben nach dem
Tode) größere oder geringere Zufätze erhalten. Von
redaktionellen und ftyliftifchen Änderungen mag abge-
fehen werden. Die meiden derfelben dienen zur fchär-
feren Herausarbeitung und präziferen Faffung der Gedanken
und müffen als glücklich bezeichnet werden.
Als Nachträge zur Literatur find, abgefehen von dem
in der Vorrede angeführten Buche Härings, Der
chriftliche Glaube 1906, die Angaben im I.Teil § 3.
12. 14. 17. 26. 31, im 2. Teil § 11. 44. 49. 54 zu erwähnen
.

Wirwünfchen dem durch rafchen und wohlverdienten
Erfolg bewährten ,Grundriß' auch für diefe neue Auflage
viele Lefer, die aus der lichtvollen und warmen Behandlung
des Stoffs, aus dem umfichtigen und weitherzigen
Geifte, der das Ganze beherrfcht, gewiß mannigfaltige
Anregung und Förderung erhalten werden.

Straßburg i. E. P. Lobftein.

Müller, t Prof. Max, Leben und Religion. Gedanken aus
den Werken, Briefen und hinterlaffenen Schriften.
4. bis 5. Taufend. Stuttgart, M. Kielmann 1906. (VII,
251 S. m. Bildnis.) 8° M. 3—; geb. M. 4 —

Das ift ein feines und liebes Buch, das uns die Witwe
von M. M. gefchenkt hat. Es enthält unter etwa vierzig
Abteilungen eine Fülle von Gedanken über eine Reihe
von wichtigen Punkten. Bald fpricht der Gelehrte, bald
der erfahrene Menfch, bald der tief fromme — ja, foll
man fagen Chrift? — oder vielmehr der Religiöfe, der
fich aus dem Bellen, was er auf dem weiten Feld der
Religionen fand, feine eigene Religion zufammengelefen
hat. Unter dem theoretifchen Gut find z. B. Bemerkungen
über den Begriff des Logos, die Entwicklung
der Religionen, die Sprache u. a. Der vielerfahrene
Menfch fpricht über Liebe und Freundlichkeit, über Natur
und Mufik, über Arbeiten und Wirken und das Wefen
der Menfchen — alles fo warm und fo klar, fo weit und
fo gütig. Es muß ein liebenswürdiger Menfch gewefen
fein. Den größten Raum nehmen aber die Bemerkungen
über die Religion ein. Hier fpricht fich ein außerordentlich
tiefes und abgeklärtes religiöfes Leben aus:
der Grundzug der perfönlichen Religion ift Friede und
Harmonie, Freude und Dank beim Blick auf das vergangene
Leben, zumal auf feine Trübfale, daneben ein
außerordentlich ftark ausgeprägtes Verlangen nach der
ewigen Heimat, die ohne allen Zweifel geglaubt und als
harmonifcher Äbfchluß von Welt und Leben erfehnt
wird. Von hier aus ftrahlt dann jener Friede und jene
Güte in diefes Leben hinein. Der Glaube erfcheint
darum als eine frohe Grundftimmung, die dem himm-