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Ausgabe:

1907

Spalte:

724-725

Autor/Hrsg.:

Nissen, Heinrich

Titel/Untertitel:

Orientation. Studien zur Geschichte der Religion. Erstes Heft 1907

Rezensent:

Mayer, Emil Walter

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flellen. Wenn er daher im erften Teil von den Toten
im Recht im Heidentum und Judentum handelt, fo gibt
fich der Teil damit als ein vorbereitender zu erkennen, j
Erft im zweiten, der die Toten im Recht des Chriflen- !
tums darttellt, kommt er feinem Thema nahe. Denn es j
bildet wohl der dritte Abfchnitt, der überfchrieben ift I
,die Toten im Recht im Königreich Griechenland' den
eigentlichen Mittelpunkt der Arbeit. Aus praktifchen I
Gründen ift dann noch ein Schlußteil angefügt, der von
den Privatverhältniffen in bezug auf die Toten handelt, i
Somit umfaffen die Darlegungen des Verfaffers ein fehr
großes Gebiet. Sie bewegen fich in der Kultur- und
Kirchen-Gefchichte, dem Kirchenrecht, dem bürgerlichen
und dem Strafrecht und erftrecken fich über mehr denn
2000 Jahre. Die Auswahl des Gegebenen bietet des In-
tereffanten und Anregenden genug und erftrebt dabei
eine gewiffe Abgefchloffenheit und Überfichtlichkeit, die |
das ßuch namentlich zum Nachfchlagen fehr geeignet j
macht. Dazu eignet es fich auch darum befonders, weil
der Text fehr kurz gehalten ift und feine Verdeutlichung
aus umfangreichen Nachweifungen erhält. Auf den Reichtum
derfelben, die auf ein fehr fleißiges Quellenftudium i
fchließen laffen. fei befonders hingewiefen. Hier find z. B.
Auszüge aus fpäten Byzantinern wie aus den klaffifchen
Autoren, aus dem franzöfifchen modernen Recht und aus
dem ruffifchen Kirchenrecht. Die Sprache des Verfaffers
ift ganz geläufig. Zwar merkt man, daß er ein Ausländer
ift. aber das macht fich nicht ftörend geltend.

Den genauen Gedankengang darzulegen, ift unmöglich
. Dazu ift der Inhalt zu detailliert. Nur einzelne
Bemerkungen kann ich anknüpfen. Im zweiten Teil, wo j
die Entwicklung des kirchlichen Rechts darzuftellen war, j
hätte ich die Erörterungen lieber gefchichtlicher gefehen.
Hier, wo es fich um einen großen Zeitraum handelt, wirkt
die Nebeneinanderftellung der Beftimmungen weniger angenehm
. Zur Frage der Leichenverbrennung hat Ver-
faffer eine ablehnende Stellung eingenommen. Das ift j
verftändlich. Wenn er aber lagt, daß die Lehre Jefu
nach Joh. 127 die Leichenverbrennung verböte, fo klingt
das für Abendländer feltfam. Verfaffer muß denn auch
im Folgenden zugeben, daß es ein Verbot der Leichen- j
Verbrennung im N. T. nicht gibt. Der zweite Teil hat [
einen intereffanten Anhang: ,Die Totengebräuche im
heutigen Königreich Griechenland während der Türken- I
herrfchaft bis zum Befreiungskriege 1821'. Diefer Anhang j
bildet die gefchichtliche Überleitung vom zweiten zum
dritten Teil. Hier ift auch fchwer zugängliche neugrie-
chifche Literatur benutzt. Der dritte Teil ift für den
praktifchen Gebrauch in Griechenland gefchrieben. Er
bietet auch eine Kritik des dortigen Rechts. Auch hier
ift für die Beurteilung der heutigen griechifchen Kirche
viel zu lernen. Intereffant ift z. B. die Stellung diefer
Kirche zum Begräbnis der Selbftmörder. Hier ift fie
fehr modern. Wenn mindeftens 2 Ärzte an Eidesftatt
verfichern, daß der Selbftmord ,in krankhaft geftörter
Geiftesverfaffung gefchehen' fei, fo beftattet die Kirche. 1
Bei der Frage, ob auch Exkommunizierte kirchliches Begräbnis
zu erhalten hätten, kommt die Rede auf Tolftois
Exkommunikation. Es ift auch hervorzuheben, wie tolerant
die griechifche Kirche bei der Beftatiung von Chriften
anderer Konfeffion verfährt. Ich weiß aus eigner Erfahrung
auch, daß die orthodoxen Priefter im Notfalle
die Leichen andersgläubiger Chriften auf den orthodoxen
Friedhöfen beftatten. Zum zweiten und dritten Teil kann
ich das Bedauern nicht unterdrücken, daß Verfaffer nicht
auf die orthodoxe Sitte weiter eingegangen ift, daß die
Leichen nach einigen Jahren ausgegraben, und die Gebeine
an heiligem Orte untergebracht werden. Er kommt
an mehreren Stellen darauf zu fprechen, aber niigends
erhalten wir etwas Gefchichtliches darüber. Und doch
ift das für das Abendland etwas ganz Außerordentliches.
Ich habe in den großen Athoskloftern und den unter-
irdifchen Koimeterien, z. B. in der Laura ungeheure

Mengen von Menfchengebeinen gefehen. Die Stelle,
wo zunächft die Leiche begraben wurde, führte nicht
einmal den Normen xoifirjrrjQiov, fondern nur vexQoxcupelov.
Auch bei Parochialkirchen finden fich folche Beinhäufer,
wenn auch weniger ftimmungsvoll. Diefe Sache hat auch
für die Heiligerklärung in der griechifchen Kirche ihre
Wichtigkeit. F>s ift eines der erforderlichen Zeichen für
die Heiligkeit des Verftorbenen, wenn bei der Ausgrabung
die Knochen einen Wohlgeruch ausftrömen und Wunder
tun. Diefes hätte Verfaffer wohl auch erwähnen können.
Der vierte und letzte Abfchnitt, der fich ganz befonders
durch fleißige Literaturüberfichten auszeichnet, kommt
an diefer Stelle kaum in Betracht, da er von den Privatrechten
an den Leichen handelt. Er hat mehr kultur-
hiftorifches (z. B. Leichenverpfändung) oder juriftifches
Intereffe (Rechte der Perfon an ihrem Leichnam).

Ein fauberes Regifter erleichtert den Gebrauch des
Buchs.

Hannover. Ph. Meyer.

Niffen, Heinrich. Orientation. Studien zur Gefchichte
der Religion. Erltes Heft. Berlin, Weidmann 1906.
(IV, 108 S.) gr. 8° M. 2.80

Auf einen Befchluß, den die Generalverfammlung
der Deutfchen Gefchichts- und Altertumsvereine am 27.
September 1899 in Straßburg gefaßt hat, und auf eine
Denkfchrift H. Wehners gründet der Verf. die Anklage,
,daß das Bewußtfein von der Bedeutung, welche die
Himmelskörper in der Gefchichte unferer Religion eingenommen
haben, bei uns völlig erlofchen' fei. Er fleht
fich dadurch veranlaßt, Studien, deren Ertrag er einft in
feinem ,Templum' und einer Reihe von Auffätzen dargeboten
hatte, wieder aufzunehmen.

Die fo entftandene Publikation, die nur einen Anfang
bedeutet und deren Fortfetzung in Ausficht geftellt
wird, zerfällt in vier Kapitel.

Das erfte trägt den Titel ,Grundzüge der Orientation'
und weift im allgemeinen auf die große Rolle hin, die
überall auf Erden der Sonnen- und Geftirnkultus ge-
fpielt hat. Das zweite hat es mit der Orientierung bei
den Ägyptern zu tun und gelangt zu folgendem Ergebnis
: ,von den 21 aufgezählten Tempeln find 4 nach der
Sonnenwende, 2 nach dem Sirius, dem hellften Fixftern,
2 nach Canopus, dem zweithellften, 2 nach Arktur dem
dritthellften, gerichtet. Ferner entfallen auf fo hervorragende
Sterne wie Orion 1, Antares 3, Regulus 3,
F"omalhaut 2 Tempel. Minder überzeugend ift die Beziehung
der 2 letzten auf Ophiuchos'. Kapitel III handelt
von den Semiten und beginnt mit einer kurzen Unter-
fuchung über die alten Kulturfitze am Euphrat. ,Die
Orientation nach den Nachtgleichen fcheint' dafelbft vorzuwiegen
', wie fpeziell an dem großen Heiligtum von
Baalbek und an dem Baaltempel von Palmyra dargetan
wird. Auch bei den Juden fchaute entfprechend dem
Umftand, daß Jahve ,von Haufe aus' ein in der Sonne
verkörperter Himmelsgott war, der Tempel Salomos nach
Often. Erft fpäter richten fich die jüdifchen Beter und
Bethäufer nach Jerufalem, wie die Mohammedaner nach
Mekka fich wenden. Dagegen Hellte die Chriftenheit
,nicht willkürlich einen toten Stein als Vertreter des
Göttlichen hin.' Sie ,hat das höchfte Prinzip der Sittlichkeit
, das in der Perfon ihres Stifters verkörpeit war,
im Bilde der mächtigften Offenbarung der Natur gefchaut,
hat den unfichtbaren Heiland in der leuchtenden Sonne
verehrt'. Das vierte Kapitel endlich berichtet über das
Verfahren der römifchen FTldmeffer und die Städtegründung
im klaffifchen Altertum und hebt abermals die Bedeutung
der Sonne und der Geftirne für die Orientation
hervor.

Faßt man die Schrift als Ganzes ins Auge, fo wird
man fie wohl als einen wertvollen Beitrag zur Gefchichte
der Orientation bezeichnen dürfen. Das Thema als