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Ausgabe:

1907 Nr. 2

Spalte:

43-45

Autor/Hrsg.:

Harris, J. Rendel

Titel/Untertitel:

The Cult of the heavenly Twins 1907

Rezensent:

Dobschütz, Ernst

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Theologifche Literaturzeitung 1907 Nr. 2.

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Im nächften Abfchnitt fucht dann der Verfaffer in
den heidenchriftlichen Gemeinden ein ,Gemeindeökonomat'
nachzuweifen. Er findet folche ,Auffichtsbeamten auf
dem Gebiet der Gemeindearmengutsverwaltung' in dem
uexaöiöovg Rom. XII, 8 (,ein Gemeindeglied welches unter
feinen Brüdern Macht hat die Anteilnahme an den
Armengaben zu gewähren oder zu vertagen') dasfelbe
findet er in den ävxiXrjtyeig I Kor. XII, 88, ähnliches auch
Phil. 11 und 1 Theff. 512 — überall Ämter nicht von
rein geiftlichem, fondern rechtlichem Charakter, ein ius
divinum in der älteften Kirche (S. 124). Solche Auffaffung
ift, wie der Verfaffer felbft zugibt, nicht unabhängig von
den Anfchauungen der römifchen Kirche.

Trotzdem will er ,die Quellen im Lichte des Rechts'
unbefangen prüfen. Zuerft findet er in den Paftoralbriefen
freilich nur in fchwachen Andeutungen ,Gemeindeökono-
men mit diakonalem Klerikat' (ot xaXmg diaxovnöavxeq
ßa&fiov savzoig xaXbv xeQutoiovvzac 1 Tim. 313). Dann
prüft er die Schriften des Ignatius, Hegefippus, Hermas,
Polykarp, den Brief der Gemeinden von Lugdunum, die
apoftolifche Kirchenordnung, die Philofophumena, die
arabifchen Canones Hippolyti, die Didaskalia und Kon-
ftitutionen, und viele andere Schriften des 2. und 3. Jahrhunderts
und kann natürlich Stellen nachweifen, nach denen
einem Diakon befondere Vollmachten gegeben find oder
ein Diakon die Gemeindearmengutsverwaltung in der
Hand hat — aber m. E. reicht keine zu, um ein neben
der dreigeteilten Hierarchie hergehendes befonderes Amt
des ,Bifchofsdiakons' zu konftruieren. Auch die erfte
Erwähnung des Archidiakonats für Laurentius unter Xyf-
tus II muß zweifelhaft bleiben. Jedenfalls beginnen die
ficheren Zeugniffe für eine übergeordnete Stellung eines
Diakonen über die Andern erft mit dem vierten Jahrhundert
. Von da an treten denn die Ausführungen auch
auf den feueren Boden der Gefchichte. Der Archidiakon
in feinem doppelte Amt, einerfeits als Vorfteher des
niederen Klerus, andererfeits als Vertrauensperfon des
Bifchofs, entwickelt fich in der Verwaltung der Diözefen
zu einer immer machtvolleren Perfönlichkeit — er wird
zum Verwefer des Bifchofsamts in der Zeit der Vakanz
und zum Generalbevollmächtigten in allen wichtigen Fragen
. Zweifellos wirken in diefem Amt viele wichtige
Funktionen der altkirchlichen Diakonen nach; aber es
erhellt auch, wie der Fortfehritt in der Entwicklung abhängig
ift von der Entwicklung des bifchöflichen Amts
aus einem fehr einfach zu überfehenden Gemeindeamt zu
einem fehr umfangreichen Verwaltungsapparate, in welchem
auch die Diakonen fich hierarchifch gliederten.
Der Zufammenhang diefes entwickelten Amtes mit den
Funktionären der altkirchlichen Gemeindearmenpflege ift
nicht größer als der des fpäteren bifchöflichen Amts mit
dem der altchriftlichen Vorfteher. Eine rein geiftliche
Organifation hat freilich niemals beftanden, eine Analogie
zum ,Recht' hat es von jeher gegeben. Aber es ift und
bleibt eine Vergewaltigung der Gefchichte, wenn für
ein erft fpät entftandenes Amt eine Vorgefchichte bis
zum Urchriftentum zurück konftruiert wird. Wer fich
aber über die Entwicklung des Archidiakonats vom 4.
Jahrhundert an orientieren will, dem fei die Lederfche
Arbeit beftens empfohlen.

Dembowalonka. Ed. von der Goltz.

Harris, J. Rendel, M. A., D. Litt, The Cult of the heavenly

Twins. With seven plates. Cambridge, University Press
1905. (III, 160 p.) 8° s. 6 —

Rendel Harris hat feine im Jahrg. 1903 Nr. 20 Sp. 547
befprochenen Dioskurenftudien mit vielem Erfolg fortgefetzt
. Von grundlegender Wichtigkeit ift da zunächft
der neue Ausgangspunkt: nicht mehr der aftraltheolo-
gifche des als Zwillinge verehrten Morgen- und Abend-
fterns, fondern der anthropologifche der Beurteilung von
Zwillingsgeburten bei den Primitiven. Immer wird eine

folche als etwas anormales, übernatürliches empfunden;
aber während die einen darin mit Freuden ein befonderes
Fruchtbarkeitszeichen begrüßen, die Zwillinge als Frucht-
barkeitsbringer oder Regenmacher ehren und dem glücklichen
Vater erlauben, von allen Stammesgenoffen einen
Tribut zu erheben, fehen die anderen darin unheimliche
Mächte wirkfam. Vielfach müffen es Mutter und Kinder
mit dem Leben büßen, oder doch die Kinder, während
die Mutter durch langwierige Luftrationen ihr Leben erhalten
kann; mindeftens aber wird das eine Zwillingskind,
als das unnatürliche, dämonifche aufgeopfert. Stellenweife
erfolgt ftatt Tötung Ausfetzung, und diefe wieder wird
gemildert zu einem Exil in eignen Zwillingsafylen für
Mütter und Kinder (das erfte Bild zeigt eine Miffionsftation
mit geretteten Zwillingen). Zwillinge find Tabu. Bald
werden beide, bald der eine als Himmelskinder bezeichnet;
vielfach find für Zwillinge befondere Namen üblich.

Von hier fällt zunächft ein überrafchendes Licht auf
manche antike Mythen: Romulus' und Remus' Ausfetzung
und die Tötung ihrer Mutter; Letos Afyl auf Delos;
der unfterbliche und der fterbliche Zwilling Herakles
und Iphikles. Auch Didyma, Milet, Amphiffa und Am-
phipolis (Zwillingsftadt??), Samothrake-Melite (von femi-
tifchem malat retten) werden als alte Zwillingsafyle in An-
fpruch genommen. Die Dokana glaubt Harris auf dem bekannten
Dioskurenrelief in Verona nachweifen zu können.

Von Bedeutung ift fodann der Nachweis, daß die
bildende Kunft bei Zwillingen nicht nur völlige Ähnlichkeit
, fondern manchmal auch Unterfcheidung anftrebt
durch Haar- und Bartwuchs (Efau und Jakob!); daß aus
Zwillingsgeftalten zuweilen auch Drillinge werden; neben
männlichen ftehen weibliche Zwei- und Dreiheiten. Harris
vermutet, daß die oft an dritter Stelle flehende Schwerter
urfprünglich die Mutter bedeute. Treten doch auch die
Zwillinge manchmal als Himmelskinder neben den Himmelsgott
. Eine folche Trias entdeckt Harris in den
3 Gärten Abrahams (Dioskurenbewirtung durch Eupho-
rion; Zwillinge Fruchtbarkeitsbringer; Eiche Baum des
Himmelsgottes). Auch die Säulen Jachin und Boaz am
Jahvetempel follen diefe Trias darftellen (als letzten Ausläufer
des jerufalemifchen Dioskurenkults nimmt Harris
die Angelophanie des Heliodor II Makk. 3,25 f. in An-
fpruch). Ebenfo die beiden Säulen von Edeffa, deren
fchwer lesbare, teilweife zerftörte Votivinfchrift — hier in
Photographie wiedergegeben und mit einem edeffenifchen
Mofaik verglichen — er geradezu auf die ,Zwei Jünglinge'
deutet (<& ^almane foll Dual von alim fein; es heißt aber
einfach ,darauf). Außer Schlachtenbeiftand und Schutz
auf See (in der Argonautengefellfchaft werden lauter
Zwillingsgruppen entdeckt) kommt den himmlifchen Zwillingen
auch Heilkraft zu (der Arztname Dioscorides fcheint
faft nurEponym); alsBeifitzer des Himmelsgottes wachen
fie auch über die Heiligkeit der Eide.

Der Hauptteil der Arbeit wird aber von der Fort-
fetzung der ,Dioskuren in chriftlichen Legenden' eingenommen
. Harris hat fich durch die Kritik von Delehaye
und Pio Franchi de Cavalieri nur zu dem Zugertändnis
bewegen laffen, daß einige Kleinigkeiten in feinen früheren
Aufftellungen unrichtig gewefen feien. Die Hauptthefen
fucht er neu zu ftützen. Bei Gervafius und Protafius entkräftet
er das ikonographifche Gegenargument gegen den
Zwillingscharakter und glaubt Ambrofius felbft als Zeugen
für dielen aufführen zu können. Seine Argumentation
ift fehr bedenklich: in jedem fratres oder germani ficht
er gemini; wo fie als luminaria gepriefen werden, ift der
Aftralcharakter handgreiflich; auf den Gewandabzeichen
rekognosziert er das Dioskurenfymbol. Neben den Mailänder
Zwillingsheiligen, bei denen ihm der (wie er meint)
nachweisbare Betrug des Ambrofius polemifche Bedeutung
hat, intereffieren ihn am meiften die edeffenifchen Dios-
kuren: Jefus und Judas Thomas, wobei er viel Aufhebens
macht von der Verbreitung diefer Idee im Abendlande, als
ob fich diefe nicht rein literarifch aus der Aufnahme in das