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Ausgabe:

1907 Nr. 23

Spalte:

642-650

Autor/Hrsg.:

Haering, Theodor

Titel/Untertitel:

Der christliche Glaube (Dogmatik) dargestellt 1907

Rezensent:

Wendt, Hans Hinrich

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Theologifche Literaturzeitung 1907 Nr. 23.

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wirkfam geworden, daß mit dem Eintreten unter die i hebt, fo überfieht er, daß für den Neuplatonismus das-
Wirkungen des Chriftentums die ganze Welt-und Gottes- : felbe gilt. Und dringt die Kontemplation unmittelbar
anfchauung eine andere geworden fei oder werden rnüffe. ! in das göttliche Wefen ein, dann bleibt dem Willen dies
Der Voluntarismus behält alfo auch jetzt noch fubfidiäre ! eben vertagt. Auguflin muß plotinifch fprechen, wenn
Bedeutung, ohne den Intellektualismus aus feiner bisher | er die Seligkeit befchreiben will. In diefer Beziehung
innegehabten Domäne verdrängen zu können und ein 1 bleibt fein Gefpräch mit feiner Mutter in Oftia (Conf. 910)
eigenes, vom Intellektualismus überhaupt nicht mehr be- j immer lehrreich. In diefem ganzen Gefpräch ift kaum ein

rührtes und ihm übergeordnetes Erkenntnisgebiet zu gewinnen
. Erft wenn dem Voluntarismus diefe, nicht mehr
bloß pfychologifch für jedes Erkennen unterfchiedslos
begründete, Selbftändigkeit und maßgebende Bedeutung
für die Sicherung der höchften und letzten Erkenntnis und
eine dem entfprechende Überordnung über die anderweitig
gewonnene und anders geartete Erkenntnis gegeben ift,
kann von einem Primat des Willens gefprochen werden

Gedankenbild enthalten, das ohne die Zwifchenkunft des
Plotinismus zu verftehen ift. Die in die Rede einge-
ftreuten Schriftworte ändern daran nichts. Stufenweife
fteigen Auguftin und feine Mutter durch die Regionen
der Schöpfung empor, bis fie ins Heimatsland der'Seele
kommen, in die Gefilde der Wahrheit, wo Leben Vereinigung
mit der Wahrheit ift, durch welche alles befteht,
was ift, was war und was fein wird; bis fie die ewige

Diefen konnte aber Auguftin nicht erreichen, weil feine ! Weisheit berühren, die in Wahrheit feiende. ,Es fchweige
metaphyfifche, fpiritualiftifche Erkenntnistheorie eine | in fich die Seele und ihrer felbft vergeffend erhebe fie
religiöfe Erkenntnistheorie blieb. Das hat Zänker, der I fich über fich felbft'. Und fie ahnen das feiige Schauen,
übrigens die zum Ausgangspunkt genommene kantifche 1 das ihnen vorbehalten ift, wenn alles fchweigt und Er
Definition des Primats pfychogenetifch und nicht er- I allein redet. Wer fo fchreiben und empfinden kann, der
kenntnistheoretifch verftanden zu haben fcheint, unbe- j hat fich noch dem Zauber der neuplatonifchen Art, die
achtet gelaffen. Das hat dann zu der m. E. unrichtigen ! Gottesgemeinfchaft zu genießen, nicht entzogen und

Wertung der herangezogenen Gedankenreihen geführt.
Man kann wohl bei Auguftin von voluntariftifchen Gedanken
fprechen, man kann ein eigentümlich ftarkes
Intereffe für die Pfychologie des Willens konftatieren,

noch nicht zum Primat des Willens fich hindurchgerungen.
Trotz der Willenspfychologie, die zu leugnen mir keineswegs
in den Sinn kommt, hat Auguftin eine durchgreifende
Änderung der überkommenen Problemftellung nicht

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aber von einem Primat des Willens zu fprechen ift I vollzogen. Zänkers verdienfthche Arbeit hat forgfältig
nicht möglich. die Argumente namhaft gemacht, die die Gegenpofition

Einen ficheren Primat hat fchließlich auch Zänker berechtigt erfcheinen laffen. Aber der Beweis, der hier
nicht fefthalten können. Er fucht ihn freilich doch zu 1 natürlich nicht im einzelnen hat nachgeprüft werden
retten, indem er erklärt, auf das letzte, im Schauen lie- j können, reicht für die Sicherung der Thefe vom Primat
gende Ziel komme es nicht an, fondern auf die Mo- des Willens nicht aus; er kann nicht tragen, was Zänker
iuente, die zum Entfchluffe führen. Und er räumt zwar j ihm zumutet. Mein Diffenfus richtet fich nicht gegen die
ein, daß es für Auguftin ein Erkennen gebe, welches das | Willenspfychologie, fondern gegen ihre Verwertung für
Ziel alles Strebens und Lebens ift, weil es unmittelbar 1 die Thefe vom Primat des Willens. Weder der frühere
ins göttliche Wefen eindringe, nämlich die Kontemplation. ] noch der fpätere Auguftin kennt diefen Primat; im ent-
Aber fie dürfe nicht ohne weiteres mit den übrigen Funk- fcheidenden Augenblick lenkt er zurück. Will man die
tionen des Intellekts in eine Reihe gehellt werden, da ] von Zänker herausgehobenen Elemente bereits für den

Willensprimat in Anfpruch nehmen, fo nimmt man der
Thefe vom Willensprimat ihren fpezififchen Gehalt.

Tübingen. Otto Scheel.

fie zweifellos dem Schauen viel näher flehe und oft in
Gegenfatz gegen Wiffen und Erkennen wie gegen Glauben
gefetzt werde, wenigftens aber alle diefe Funktionen gleichermaßen
ablöfe. Schließlich wird doch zugegeben, daß
jedenfalls fich Ausführungen finden, in deren Beweisgründen
eine doppelte Wurzel, eine neuplatonifch-erkennt-
nismäßige neben der chriftlich-paulinifchen aufzuweifen fei.
Und wenn man mit der Frage nach dem Primat des Willens
in die höchfte Sphäre komme, fo dürfe man nicht,
wie dasfelbe ja auch für Paulus gelte, von vornherein i

Haering, Prof. D. Th., Der chriftliche Glaube (Dogmatik)
dargeftellt. Herausgegeben vom Calwer Verlagsverein.
Calw und Stuttgart, Vereinsbuchhandlung 1906. (616 S.)
gr. 80 M. 7 —; geb. M. 8 —

erwarten"dört "noch"eine folche ftarke Wertlegung auf J — Das chriftliche Leben (Ethik), dargeftellt. Herausge-

das Willensmoment im menfchlichen Denken und Han- | geben vom Calwer Verlagsverein. Zweite Auflage,
dein zu finden, wie in den früheren Sphären. Je naher ! Taufend. Ebd. 1907. (464 S.) gr 8° M c coder
Menfch Gott rücke, defto mehr verliere der Wille ; *» ■>J ^ * > f ■ ■ 5-5V

an Bedeutung und Tragweite. Eine folche Annahme ift j geb. M. 6.So; ,n Halbfrz. 7.50

aber fatal für die Thefe vom Willensprimat. Ift diefer I Hanngs ,Chnfthcher Glaube' erfchien im Herbfte
wirklich vorhanden, fo kann der Wille niemals feine 1 1906, als von meinem eigenen ,Syftem der chriftlichen
Bedeutung und Tragweite verlieren, weder für die dies- Lehre' der erfte Teil gerade fertig gedruckt und der
feitige noch für die ienfeitige Seligkeit. In demfelben | zweite fall ganz druckfertig war. So konnte ich H.s
Augenblick, wo man feine Bedeutung für erlofchen j Werk bei meiner Arbeit leider nicht mehr verwerten,
erklärt und' durch eine andere Funktion ihn ablöft, ift ; Um fo mehr freue ich mich, hier über fein Werk berich-
auch der behauptete Primat des Willens preisgegeben. { ten und auf den hohen Wert desfelben hinweifen zu können.
Es muß der Wille unter allen Umftänden und für alle j In formeller Beziehung tragen H.s Dogmatik und
Stadien diefelbe Bedeutung, Stellung und Tragweite 1 Ethik nicht den Charakter von Lehrbüchern, fondem
behalten und diefelbe Eigenhändigkeit gegenüber allem [ den einer allgemeinverftändlichen, leichtflufügen Aus-
anderweitig gewonnenen Erkennen. Sonft wird nur ein j fprache über die dogmatifchen und ethifchen Probleme,
pfychologifcher Primat von letztlich vorübergehender Be- ; Alle fchulmäßigen Formeln, auch alle lateinifchen und
deutunganerkannt. Die fpiritualiftifch religiöfe Erkenntnis- griechifchen Ausdrücke find vermieden. Aber bei diefer
theorie, die Auffaffung von der feiigen pax und der fpe- : leichten, gefälligen Form fehlt doch keineswegs die wiffen-
kulative Gottesgedanke hinderten Auguftin, die Konfe- | fchaftliche Tiefe und Gründlichkeit. H. will nicht etwa
quenzen feines Voluntarismus, feiner Gnadenlehre und nur den überlieferten Stoff der chriftlichen Lehre für
feiner Autoritätslehre zu ziehen. Wenn aber Zänker die gebildete Lefer anfprechend auseinanderlegen. Er fucht
Bedeutung der Kontemplation dadurch abzufchwächen [ vielmehr überall auf den Kern der Probleme zu dringen,
fich bemüht, daß er fie dem Schauen zuordnet und ihren Er tut das mit großer dialektifcher Schärfe. Nur folche
Gegenfatz gegen Wiffen, Erkennen und Glauben heraus- Lefer werden Genuß und Gewinn von feinem Werke