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Ausgabe:

1907 Nr. 22

Spalte:

619-621

Autor/Hrsg.:

Siebeck, Hermann

Titel/Untertitel:

Zur Religionsphilosophie. Drei Betrachtungen 1907

Rezensent:

Mayer, Emil Walter

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Theologifche Literaturzeitung 1907 Nr. 22.

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fchichtlichen und der zeitlos wertvollen, allgemeinen Idee
hebt NietzCche auf, ,indem ihm die innerhalb unterer Art-
Entwicklung herausgebildeten Werte, die Höhe- und
Konzentrationspunkte des gefchichtlichen Lebens in die
Region des abfolut Gültigen, deffen, was fchlechthin fein
foll, hinaufgehoben find' (S. 196). Sorgfältige Ausführungen
find dem Begriff der , Vornehmheit' gewidmet, in
welchem fich die unbedingte Konzentrierung des Wertes
auf das Individuum mit der Würdigung feiner objektiven
Bedeutung als Stufe der Entwicklung der Menfchheit
zufammenfindet (S. 235), ebenfo der Lehre von der ,ewigen
Wiederkunft', deren letztes Motiv in dem Gefühl der
Verantwortlichkeit liegt. ,Was als auf den Moment be-
fchränkte Handlung unwefentlich erfcheint und — von
dem Gefühl aus: vorbei ift vorbei — leichtfinnig aus dem
Gewiffen gefchoben werden würde, erhält nun ein furchtbares
Gewicht, einen nicht überhörbaren Akzent, fobald
ihm ein unaufhörliches „Nocheinmal" und „Nocheinmal"
bevorfteht' (S. 247 f.). Damit fei, meint der Verf., nur ein
Kantifches Grundmotiv gleichfam in eine neue Dimenfion
distrahiert. Kant ziehe die Tat in die Breitendimenfion,
in die unendliche Wiederholung im Nebeneinander der
Gefellfchaft, während Nietzfche fie fich in die Längen-
dimenfion erftrecken laffe, indem fie fich in endlofem
Nacheinander an dem gleichen Individuum wiederholt.
Dem angeblichen Beweis für die ewige Wiederkehr des
Gleichen gegenüber wird an einem hübfchen Beifpiel, an
dem einfachem Beifpiel eines aus drei Elementen be-
ftehenden Syftems gezeigt, daß auch zugegeben, daß der
Weltprozeß fich in unendlicher Zeit zwifchen endlichen
Elementen abfpielt, doch eine Kombination der Weltelemente
denkbar ift, bei der eine einmal zuftandege-
kommene Konfiguration diefer Elemente fich auch in
unendlicher Zeit nicht wiederholt (S. 250h). Aber auch
die ethifche Bedeutung der Realität diefes Gedankens,
die doch davon abhängig ift, daß das zweite Erlebnis
auf einen durch das erfte modifizierten Zuftand eines
reflektierenden Ich trifft, fällt dahin, wenn man mit der
abfoluten Gleichheit Ernft machte, und auf den abfolut
gleichen Zuftand eine abfolut gleiche Reaktion folgen
müßte (S. 251 f.).

Daß es bei einem Buch von fo eigenartiger Auf-
faffung (deffen Thema übrigens der Individualität des Verf.
offenbar mehr fliegt', als fein ,Kant'), auch an Gedanken
nicht fehlt, zu denen man ein Fragezeichen machen
möchte, liegt in der Natur der Sache. Ich nenne z. B.
gleich den Ausgangspunkt: die Charakteriftik der modernen
Kultur als,Gefangenfein in einem Netzwerk bloßer
Mittel', das doch auf verfchiedene Individuen fich verteilt
, fo daß im Gegenteil z. B. die Befchaffung des
Brotes für den einzelnen modernen Menfchen (und
darauf kommt es doch an) möglichft einfach ift (S. if.),
ferner die doch gar zu lchroffe Abfonderung des ,meta-
phyfifchen Willens' von der Bewußtfeinstatfache (S. 45 f.),
deren Qualität eben doch einmal die Grundlage zur Bezeichnung
als ,Wille' liefert, endlich die doch recht künft-
liche — faft nur durch ein Spiel mit fubjektiv-objektiv
herbeigeführte — Loslöfung Nietzfches von feinen Vorgängern
, den griechifchen Sophiften (S. 233). Solche Einwände
vermögen jedoch den Wert des ungewöhnlich anregenden
Werkes nicht zu fchmälern.

Heidelberg. Th. Elfenhans.

Siebeck, Herman, Zur Religionsphilofophie. Drei Betrachtungen
. Der Fortfehritt der Menfchheit. — Religion
und Entwicklung. — Naturmacht undMenfchen-
wille. Tübingen, J. C. B. Mohr 1907. (IV, 79 S.) gr. 8°

M. 1.50

Das Büchlein enthält drei Auffätze, die als Beiträge
zur Religionsphilofophie zufammengefaßt find.

Der erfite handelt vom ,Fortfchritt der Menfchheit'.

Er beginnt mit einer anfprechenden hiftorifchen Skizze.
Darin wird gefchildert, wie fich die moderne Idee eines
Fortfehritts der Menfchheit, der zugleich ein naturnotwendiges
und wertvolles Gefchehen fein foll, gebildet
und durchgefetzt hat. Diefelbe nimmt 2 verfchiedene
Formen an. Entweder wird der Progreß als ein folcher
in infinitum oder als Aufftieg zu einem letzten höchften
Ziele gedacht. Dem entfprechend wird der Wert des
Vorgangs bald lediglich in der Bewegung felbft, bald in
dem Endrefultat gefunden. Hier fetzt die Kritik ein.
In feinfinniger Erörterung wird dargetan, daß von beiden
Anfchauungen fchließlich eine jede mit fich felbft in
Widerfpruch gerate und deshalb unhaltbar fei. Die Idee
eines Sinn- und Wertvollen laffe fich mit der des Fort-
fchritts nur vereinigen, wenn diefer nicht als ein unausweichlicher
und unvermeidlicher, nicht als Naturnotwendigkeit
gedeutet, fondern als Aufgabe verftanden und ein-
gefchätzt werde. Dann nämlich brauche der Wert des
Vorgangs nicht im Endziel und nicht in der bloßen
Bewegung felbft gefucht zu werden. Er könne vielmehr
erkannt werden — und das fei eine ftichhaltige, mit fich
felbft übereinftimmende Auffaffung — in der freien Hingabe
des einzelnen an die ethifche Forderung. Das
fittliche Wollen an fich, das fich in den Dienft des
Fortfehritts (teilt, bedeute, wo auch immer diefer ausmünden
möge, den höchften Wert.

Der zweite Auffatz fetzt mit einer kurzen Darfteilung
der Grundgedanken Euckens zur Religionsphilofophie ein
und knüpft daran einige Betrachtungen, die fich ftellen-
weife mit denen des erften berühren. Dem Jenenfer
Denker ftimmt Siebeck darin zu, daß die Notwendigkeit
der Religion fich nur einfehen laffe, wo das Geiftesleben
in einem freien Glaubensakte bejaht werde. Im An-
fchluß daran führt er aus, daß, wie das Organifche aus
dem Anorganifchen und das Pfychifche aus dem Or-
ganifchen, fo auch das Geiftige aus dem Pfychifchen
hervorgehe, daß aber infofern ein Unterfchied zwifchen
den beiden erften Phafen der Bewegung und der dritten
beftehe, als es fich hier nicht mehr um ein Naturnotwendiges
, fondern um die in Freiheit unternommene Erfüllung
einer Aufgabe handle. So erfcheint das Geiftesleben
einerfeits als eine Fortfetzung des natürlichen Ge-
fchehens, durch das es vorbereitet wird, anderfeits als
ein Neues, als die Herftellung eines Übernatürlichen und
Überweltlichen. ,Damit aber ift im Weltprozeß, fofern
diefer eben als Entwicklung auftritt, fchon von vorn
herein der durchgehende Zufammenhalt durch ein einheitliches
und zwar überweltliches Moment aufgewiefen.'
Mehr als das! Wenn es für die .Entwicklung auf allen
Stufen' charakteriflifch ift, daß fie ein .Aufbilden an einem
Widerftande' bedeutet, fo gilt das insbefondere auch für
das geiftige Leben. Von diefer Einficht aus fällt aber
ein neues Licht auf den Begriff der Moral und der Religion
fowie auf die fchwierigen Probleme der Theodizee.

Der dritte Auffatz, der ,Naturmacht und Menfchen-
wille' betitelt ift, berührt fich etwa in ähnlicher Weife
mit dem zweiten, wie diefer mit dem erden. Er geht
aus von dem furchtbaren Gegenfatz zwifchen dem, was
der Menfch ,im Verlauf der Kultur aus fich gemacht hat,
und der unerfchütterten Abhängigkeit, worunter er dabei
doch allezeit von beftimmten Bedingungen feiner eigenen
und der umgebenden Natur gehalten wird', und gliedert
die Frage an, was diefe Paradoxie zu befagen habe.
Darauf wird zunächft die Antwort erteilt, daß die beklagte
jUnfügfamkeit' der Natur gegenüber dem Menfchen
doch nur die Kehrfeite ihrer Gefetzmäßigkeit fei, und
daß ohne letztere überhaupt keine Kultur möglich wäre.
Es wird weiter zur Geltung gebracht, daß, wie das Leben
überhaupt, fo auch fpeziell geiftiges und fittliches Leben
in einem ftetigen Äufringen und Ankämpfen gegen
Widerftände und in deren Überwindung beftehe. Wie
aber, wenn die Naturmächte fich nicht bloß als zu bewältigende
und befiegbare Gegner zeigen, fondern als