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Ausgabe:

1907 Nr. 22

Spalte:

617-619

Autor/Hrsg.:

Simmel, Georg

Titel/Untertitel:

Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus 1907

Rezensent:

Elsenhans, Theodor

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Theologifche Literaturzeitung 1907 Nr. 22.

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Berlin im Okt. 1906 gehalten hat. Grünberg gefleht
felber, er habe zu dem alten Problem nicht wefentlich
neue Löfungen bieten können. Aber eine gute Uberficht
über die in Betracht kommenden Fragen hat er freilich
gegeben. Wohltuend berührt gegenüber einer Apologetik
, die alles wiffen will, das Eingefländnis, daß für uns
unlösbare Rätfei bleiben: 1. auf dem Naturgebiet. Hier
läßt fleh zwar gegenüber dem Materialismus zeigen: es
gibt Teleologie in der Welt; aber doch können wir nicht
in allem Zwecke erkennen. 2. Ebenfo im Menfchenleben
läßt fleh zwar der fördernde Zweck vieler Leiden nachweifen
. Aber anderfeits erdrückt vieles Elend das höhere
geiflige Leben oder läßt es nicht aufkommen. Hier gebührt
uns das Eingefländnis: wir wiffen nicht, warum

— - .... ... t—

des Endzwecks und damit des Lebenswillens flehen
bleibt, hat Nietzfche aus dem Entwicklungsgedanken den,
Schopenhauer gegenüber, völlig neuen Begriff vom Leben
gefchöpft, ,daß es von fleh aus, feinem eigenften, innerften
Wefen nach, Steigerung, Mehrung, wachfende Konzentrierung
der umgebenden Weltkräfte auf das Subjekt ift'.
So kann das Leben felbft zum Zweck des Lebens
werden, und bedarf damit keines Endzwecks, der jenfeits
feines rein und natürlich verlaufenden Prozeffes läge —
,eine dichterifch-philofophifche Verabfolutierung der Entwicklungsidee
Darwins, deffen Einfluß auf fleh Nietzfche
in feiner fpäteren Epoche fehr unterfchätzt hat' (S. 5).
Und nun folgen fünf Vorträge über Schopenhauer: ,der
Menfch und fein Wille', ,die Metaphyflk des Willens', ,der

vieles Elend da ift. 3. Ebenfo unlösbar ift die Frage: Peffimismus', ,die Metaphyflk der Kunft' und ,die Moral
woher flammt das Böfe? — Die Folgerungen für die und die Selbflerlöfung des Willens'. Die bleibende BePraxis
find: I. Die befle Apologetik liegt in der Stär- deutung der Schopenhauerfchen Willensmetaphyfik wird
kung des religiöfen Lebens, das allein in mutigem Gott- j vor allem darin gefunden, daß er der bisherigen Philo-
vertrauen und Gebet Übel und Sünde überwinden kann, j fophie gegenüber, welcher, von wenigen nicht in Betracht
2. Nutzlos ift alle Apologetik für bewußte Widerchriften kommenden Einfchränkungen abgefehen, der Menfch als
oder Indifferente. 3. Helfen kann die apologetifche Be- ein Vernunftwefen erfchien, die Willensfeite des Menfchen
handlung nur dem angefochtenen, mit Schwierigkeiten : zur Geltung brachte. Er wird dadurch zu einem der
ringenden Glauben, andererfeits ehrlich Suchenden. ! ,großen philofophifchen Schöpfer', ,der Entdecker einer

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Hafel. Johannes Wendland.

neuen Möglichkeit, das Dafein zu deuten'. ,Während

fonft im letzten Fundamente des Menfchen diejrnige

Simmel, Georg, Schopenhauer und Nietzfche. Ein Vortrags- Energie lag, die fleh jedenfalls am adäquateflen im Denken

11 t • • -r, ^ ^ Sr u:„rr,KW irvvz OHT ?f>i und 'elner Logik äußerte, wird nun die Vernunft aus
zyklus. Leipzig, Duncker & Humblot 1907. (XII, 263 diefem Wurzd|runde gerif(en und durch eine gewakige

S.) gr. 8° M- 4-2° Drehung zu einem Akzidens, einer Folge oder einem

In acht Vorträgen behandelt der Verf. den intereflan- Mittel des Wollens, das jenen Platz für fleh beanfprucht'
ten Stoff in feiner geiftreichen und immer anregenden (S. 39). In fcharfiinniger Analyfe wird befonders die
Art. Da für Schopenhauer bei feiner großen Deutlichkeit Schwäche der peffimiftifchen Beweisführung aufgedeckt,
und'Klarheit die bloße logifche Interpretation nicht nötig die in dem Schluß gipfelt: fo lange wir noch wollen,
ift, bei Nietzfches dichterifch oder emotionell gefteigerter haben wir noch nicht, alfo find wir elend und leidend,
Sprache aber die feiner Gedankenwelt fremde Aus- fo lange wir wollen. Für die hier allein entfeheidenden
prägung in abflrakten Begriffen zu wenig eindeutige An- , Reflexe des Gefühlslebens gilt vielmehr die pfychologifche
haltspunkte findet, fieht er feine tiefere Aufgabe bei bei- 1 Beobachtung, daß wir die Luft des Zieles nicht erft und
den ftatt in einer bloßen Darlegung der Philofophie des ausfchließlich in dem Augenblick feiner Erreichtheit
Denkers in .einer Philofophie über den Denker'. Was der fühlen, fondern daß wir fie im Maße der Annäherung
Verf. verfprach, damit .einen Beitrag zu der allgemeinen I an diefe vorwegnehmen. Wir bewegen uns dabei keines-

Kulturgefchichte des Geift.es und zum Verftändnis der
zeitlofen Bedeutung der Gedanken beider Philofophen
zu leiften' (S. VII), das hat er in reichem Maße erfüllt.

Der erfte grundlegende Vortrag: ,Schopenhauer und
Nietzfche in ihrer geiftesgefchichtlichen Stellung' knüpft
an die fteigende Vielgliedrigkeit und Komplizierung
unferer Kultur an, die aus dem bloßen .Gefangenfein in
einem Netzwerk bloßer Mittel, Umwege, Vorläufigkeiten'
die angftvolle Frage nach dem Sinn und Zweck des
Ganzen, die von der Befriedigung diefes Bedürfniffes
durch das Chriftentum übrig gebliebene tiefe Sehnfucht
nach einem abfoluten Zwecke erwachfen läßt, den die
moderne Kultur aber doch tatfächlich als ein leeres
Drängen nach einem ungreifbar gewordenen Ziele empfindet
. Die Philofophie Schopenhauers ift ,der abfolute
philofophifche Ausdruck für Siefen inneren Zuftand des
modernen Menfchen'. Der Wille als der erfchöpfende
Grund aller Dinge ift zu ewiger Unbefriedigtheit verurteilt
. Denn er kann nichts außer fleh finden, worin er
fleh befriedige, ,weil er immer nur fleh felbft in taufend
Verkleidungen greifen kann, von jedem fcheinbaren Ruhe-
punkt feines endlofen Weges weitergetrieben wird'.
(Damit ift die Eingeflelltheit der Exiftenz auf einen Endzweck
und die gleichzeitige Verfagtheit feiner in eine
Gefamtweltanfchauung projiziert' (S. 4) (zugleich ein Bei-

... n 1-

wegs nur in Illufionen, in denen wir uns den Befitz des
Unbefeffenen fuggerieren und uns von dem Phantafie-
bilde wie von der Wirklichkeit erregen lafifen, fondern
wir antizipieren wirklich das Glück des Erreichthabens
,fchon an den Stationen des Erreichens, nach dem
Maß ihrer Annäherung an jenes' (S. 77 f.). Auch fonft
treten bei aller Virtuofität des Nacherlebens doch die
Unebenheiten des Schopenhauerfchen Syftems deutlich
hervor, in der Metaphyflk der Kunft z. B. der Wider-
fpruch zwifchen der Kunft als Selbftzweck und der Kunft
als Mittel zur Darfteilung der Idee (S. Ii9f.) und derjenige
zwifchen dem Schmerz und Jammer der Menfch-
heit, der in der Tragödie um fo furchtbarer wirken muß,
je tiefer und wahrer fie erkannt find, und dem äfthetifchen
Genuß, den das dramatifche Kunftwerk gewährt (S. 135L);
in der Moral einerfeits die Betonung des Altruismus,
andrerfeits eine metaphyfifche Begründung desfelben aus
der Einheit der Wefen, welche gleichfam Luft und Leid
an eine Zentral- und Ausgleichungsfitelle münden läßt,
fo daß es ganz gleichgültig wird, ,ob die Stelle Ich oder
Du heißt, an der innerhalb der Erfcheinung die beftimmten
Quantitäten des einen und des andern haften' (S. 162).

Die beiden letzten Vorträge: ,die Menfchheitswerte
und die Dekadenz' und ,die Moral der Vornehmheit'
befchäftigen fleh mit Nietzfche. Der tieffte Gegenfatz

fpiel dafür, wie das Bedürfnis einer gedrängten Zufammen- ; Nietzfches zu Schopenhauer äußert fleh von vornherein
faffune- abflrakter Beziehungen den Verf. gelegentlich an 1 in feiner Stellung zur Gefchichte. Nach Schopenhauer

die Grenze das fprachlich Möglichen und ftiliftifch Ge
fchmackvollen drängt).

Eben diefe vom Zweckwillen getriebene und des
Zweckes beraubte Welt ift auch der Ausgangspunkt Nietzfches
. Aber zwifchen Schopenhauer und Nietzfche liegt

haben es alle Wiffenfchaften und insbefondere die Philofophie
mit dem Zeitlofen und Allgemeinen zu tun; die
Gefchichte aber ift kein würdiger Gegenftand des Geiftes,
weil fie fleh nur mit dem Einmaligen und den individuellen
Zufälligkeiten abgibt. Diefe Scheidung zwifchen dem ein-

Darwin. Während Schopenhauer bei diefer Verneinung | maligen, zufällig-individuellen Sich-Ereignen des Ge-