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Ausgabe:

1907 Nr. 22

Spalte:

613-615

Autor/Hrsg.:

Schieß, Traugott (Hrsg.)

Titel/Untertitel:

Bullingers Korrespondenz mit den Graubündnern. III. Teil. Oktober 1566 - Juni 1575 1907

Rezensent:

Virck, H.

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Theologifche Literaturzeitung 1907 Nr. 22.

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wird die am Schluß der obigen Befprechung (Sp. 239)
ausgefprochene Hoffnung, daß der Verf. fich über die
von Troeltfch zur Diskuflion gellellte Frage äußern werde,
nicht erfüllt. Aber an einer Stelle wenigftens kommt
einmal der Gegenfatz zwifchen dem katholifch-mittel-

gegen das Veltlin, die mit den religiöfen Gegenfätzen
auf das engfte verquickten Intrigen der fich befehdenden
und nach franzöfifchen oder fpanifchen Penfionen lüfternen
vornehmen Familien, die Abenteurerluft der niederen
Bevölkerung, die in der entfittlichenden und doch nicht

alterlichen und dem proteftantifchen Reformieren J zu unterdrückenden Reisläuferei ihren Ausdruck fand, die
zu eigenartigem und lichtvollem Ausdruck. L. erörtert I unbändige Leidenfchaftlichkeit der auf ihre Selbftändigkeit

da (Bd. II. S. 358 A.) die Frage, ob Pollard {Cambridge
Modern History II,/. 478/9) recht habe mit der Behauptung
, daß die englifche Reformation durch die vom Kontinent
herbeigekommenen" Theologen nicht aus der Bahn des
Wiclefismus gebracht worden fei; er ftellt fich Pollard
entgegen und findet das eigentliche Wefen des mittel-
alterlich-katholifchen Reformierens, deffen Bahnen auch
Wiclef nicht verlaffen habe, in der jmitation of Christ'
als der auf die Frage nach dem Wege der Heilsgewinnung
gegebenen Antwort — während die Antwort pro-
teftantifcher Reformation laute: ,by trust in the promises
of God —for that is what is meant by Justification by
Faith'. Das ift eine Weifung auf den richtigen Weg hin.

Angefichts der Fülle einer foliden und gereiften Information
, wie L. fie erkennen läßt und weitergibt, ift es
kaum angängig, hier einzelnes hervorzuheben. Jedoch mag
— und das zeigt vor anderm, wie forgfam der Verf. den
neueren r orfchungen auf dem Gebiete der Reformations-
gefchichte nachgegangen ift — das 2. Kapitel des fünften
Buches befonderer Beachtung empfohlen werden: ,Ana-
baptism'. Was unter diefem Sammelnamen heutzutage
behandelt werden muß, ift ein fehr weit rückwärts verzweigtes
vielartiges Gebilde, das fich nicht mehr einfach
unter die einft üblichen Etappen (Zwickauer Schwarm-
geifter — Schweizer und Niederländer Täufer — Münfterer

eiferfüchtigen Bauerngemeinden, die fich in plötzlichen
furchtbaren Strafgerichten über die führenden Gefchlech-
ter entlud, denen man vorwarf, das Land an die auswärtigen
Mächte verraten zu haben, die das religiöfe
und kirchliche Leben der Gemeinden fchädigenden unaufhörlichen
Wühlereien der Sektierer, alles das ftellte
an die fittliche Tüchtigkeit, diplomatische Gewandtheit,
phyfifche und geiftige Spannkraft des erften Geiftlichen
in Graubünden Anforderungen, deren Befriedigung feine
Kräfte nur allzu rafch aufrieben. Kein Wunder, daß die
Klagen der Geiftlichen über die allzu große ihnen aufgebürdete
Laft nicht aufhören wollen, und daß fie, je
länger fie im Amte find, defto mehr fich fehnen, diefen
allzu heißen Boden zu verlaffen, um endlich einmal
der Ruhe pflegen zu können. Um fo anerkennenswerter
ift der Eifer, mit dem fie alle und vornehmlich auch
Egli ihre Aufgabe bis zum letzten Atemzuge ihres
geplagten Lebens erfüllen. Wie feine Vorgänger wird
auch Egli darin in der felbftlofeften Weife von Bullinger
unterftützt, deffen klarer Blick und ruhiges durch keine
Leidenfchaft getrübtes Urteil fich auch in der letzten
Zeit feines Lebens nicht verleugnet. Obwohl er unter
der immer drückender werdenden Laft des Alters und
zunehmender Kränklichkeit die auf ihm liegenden Ge-
fchäfte nur unter den größeften Anftrengungen erle-

Propheten) unterbringen läßt. In der Tat geht auch L. | digen konnte, fo wurde er doch niemals müde, den
den fchon im 15. Jahrhundert und früher hervortretenden ! jüngeren Freund in deffen mannigfachen Anfechtungen
Strömungen nach, die fich fcharf fcheiden in die der,Brüder' | zu tröffen, zu ermutigen, mit Rat und Tat zu unterftützen,
im engern Sinne — der ,Altevangelifchen' nach Kellers wenn es nötig fchien, auch wohl zu tadeln und anzu-
Bezeichnung — und die der fozialiftifch Beftimmten. Wie 1 fpornen. Bewundernswert ift die geiftige Frifche, die fich
diefe beiden bald neben, bald mit einander weiter gehen, [ Bullinger bis ins höchfte Alter bewahrt. Bis zuletzt
welche Formen und Auswirkungen das religiöfe und das verfolgt er die Ereigniffe in Frankreich, England, den
foziale Moment in den erften Jahrzehnten der Reforma- | Niederlanden, Polen, Italien, über die er dank feinem

ausgedehnten Briefwechfel mit hervorragenden Männern

dargeftellt.

Einen wunderlichen blunder notiere ich S. 53, wo
neben ,van Hoen' (Honius) ein ,Karl Stadt in the Netherlands1
als Vertreter der zwinglifchen Abendmahlslehre
genannt wird.
Königsberg. . Benrath.

tionszeit gewinnt, das ift in dem obigen Kapitel fach-

und quellengemäß, wenn auch nur in den Hauptumriffen, aller Länder vortrefflich unterrichtet ift, mit der ge

fpannteften Aufmerkfamkeit. Sein reges wiffenfchaft-
liches Intereffe und die ungemeine Vielfeitigkeit feines
Geiftes erhellt befonders aus einem kurz vor feinem Tode
an Johannes Pontifella, den Rektor der Nicolaifchule in
Chur, gerichteten Brief, in dem er eine bis ins einzelne
gehende Anweifung gibt, worauf er bei der Abfaffung
einer Gefchichte Graubündens zu achten habe. Als
Grundlage hierfür verlangt er eine umfaffende Schilderung
der Natur des Landes und feiner Bewohner. Vor allem
foll Pontifella den Lefer über die Berge, ihre Namen
und ihre Höhe, über die Straßen, die warmen Quellen,
die Alpenfeen, die Wafferfälle, Höhlen, Schluchten,
Klammen, Engpäffe, Lawinen, Gletfcher, fodann über
die gefamte Pflanzen- und Tierwelt der Alpen unterrichten
und dabei die Angaben der alten und neueren
Schriftfteller verbeffern und ergänzen. Darauf zu den

Bullingers Korrerpondenz mit den Graubiindnern. III. Teil.
Oktober 1566—Juni 1575. Herausgegeben von Traugott
Schieß. (Quellen zur Schweizer Gefchichte.
Herausgegeben von der Allgemeinen gefchichtfor-
fchenden Gefellfchaft der Schweiz. 25. Band.) Bafel,
Basier Buch- und Antiquariatshandlung 1906. (CXX,
640 S.) gr. 8° M. 15 —

Wie der 2. Band der Korrefpondenz fein Gepräge J Bewohnern übergehend hat er ihre Sitten und Gebräuche
hauptfächlich durch Bullingers Briefwechfel mit Joh. zu fchildern, ihre Sprache zu beobachten, charakteriftifche
Fabricius erhält, fo der vorliegende 3. und letzte durch I Sprüche und Volksweifen auf das forgfältigfte zu Verden
brieflichen Verkehr Bullingers mit Tobias Egli, dem j zeichnen. Für die eigentliche Gefchichte endlich foll P.
Nachfolger des Fabricius an der Martinskirche in Chur. | in ausgedehntefter Weife nicht nur frühere Darftellungen
Die Briefe diefer beiden Männer nehmen fünf Sechftel ; und Chroniken benutzen, fondern auch öffentliche und
des Bandes in Anfpruch. Noch mehr faft wie durch j Privaturkunden aller Art, daneben Urbarien, Rodeln,
Fabricius werden wir durch Egli in das für die Churer | Münzen heranziehen, fchließlich auch Denkmäler früherer
Prediger im höchften Maße aufreibende politifche und Zeit und Ausgrabungen nicht unbeachtet laffen. Wie

kirchliche Leben und Treiben Graubündens eingeführt
Der Kampf der Franzofen und Spanier um den beherr-
fchenden Einfluß in dem für die Anwerbung von Truppen
fo wichtigen Lande, der immer fchärfer fich zufpitzende
Gegenfatz zwifchen Katholiken und Proteftanten, die
immer kühneren Vorftöße des neu erftarkten Papfttums

man fieht, gibt es kaum einen Gegenftand aus dem
großen Gebiet der Länder- und Völkerkunde, der Bullinger
nicht anzieht, und hat er von der Aufgabe eines
Gefchichtsfchreibers, den er mit fo großem Nachdruck
auf die Benutzung der urfprünglichften Quellen verweift,
eine hohe Vorftellung. Wie dem Text der beiden erften