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Ausgabe:

1907 Nr. 20

Spalte:

564-565

Titel/Untertitel:

Praktische Fragen des modernen Christentums. Fünf religionswissenschaftliche Vorträge 1907

Rezensent:

Schuster, Hermann

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Theologifche Literaturzeitung 1907 Nr. 20.

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Sittlichkeit — und nicht die Religion — als auch die
kontrollierende Inftanz für das Naturrecht der Religion.
Darum behandelt und begründet fie das Recht und
Wefen der Sittlichkeit, die es nur mit dem Verhältnis
der Menfchen untereinander zu tun hat, fie wird auch
die entfcheidende Rolle im Wettkampf der Religionen
fpielen. 2. Gegenüber dem Abfolutismus der Religion,
die fich von der Philofophie ablöfen und Rechtsgrund
der Sittlichkeit fowie ihre Vollendung (gegen Herrmann!)
fein will, muß betont werden, daß fie aus dem Mythus
entftanden ift, der es, ohne jede Beziehung zur Sittlichkeit
, mit den Seelen und den Göttern in der Natur zu tun
hat. 3. Die Propheten Israels haben aber ftatt diefes Ver-
hältniffes zwifchen dem Ich und feinem Gott das zwifchen
Menfch und Menfch der Religion als wefentlich einverleibt
und damit haben fie die breite Kluft zwifchen Poly-
und Monotheismus überbrückt. Mit ihrer Betonung
des Sittlichen, die an dem Wort Michas: ,Es ift dir ge-
fagt, o Menfch, was gut ift', erläutert wird, ift die Einheit
des Menfchen und der Menfchheit und damit auch
die Einheit Gottes gegeben: die Propheten haben der
Welt die Religion im Unterfchied von dem Mythus ge-
fchenkt. 4. Von diefem Judentum unterfcheidet fich nun
das Chriftentum durch die Beimifchung mythifcher Elemente
im Gottesbegriff. Denn auf der Linie des Prophetismus
hat die jüdifche Philofophie des Mittelalters
nur folche Prädikate von Gott ausgefagt, die Mufter-
begriffe von fittlichem Handeln fein können; darum
tritt Gott in diefer Frömmigkeit hinter der Beziehung
zwifchen Menfch und Menfch zurück, und jedes unmittelbare
Verhältnis zwifchen dem Gläubigen und ihm, das den
Mythus kennzeichnet, ift ausgefchaltet. Vor Gott hat
fich der Menfch fittlich zu verantworten, denn er hat
fich feine Sittlichkeit felbft zu fchaffen und zu erhalten.
Das Chriftentum aber hat zum Inhalt das außerfittliche
Dogma, das Seelenheil des Einzelnen, fein unmittelbares
Verhältnis zu Gott, das noch feltfamer Weife durch einen
Mittler vermittelt wird. 5. Die Bedeutung, die in ihm
die Menfchheit und die Allheit hat, macht das Judentum
dem Chriftentum überlegen und macht es zum beften Grund
der Ethik; diefe hat von der Realität der Menfchheit
auszugehen, die das Korrelat zur Einheit Gottes bildet.
6. Zwar wird die fyftematifche Vollendung der Kultur
durch die Philofophie die aus der Verflechtung mit dem
Mythus gelöfte Religion in die reine Lehre der Sittlichkeit
verwandeln; aber bis dahin hat die Religion ihre
Bedeutung: fie wahrt die Gottesidee und die Selbftzucht.
Darum muß man vor allem das Judentum in Ruhe laffen
und darf es nicht in Verfuchung führen, und der moderne
Staat hat die Religionen zu verföhnen, um fie für das
Ideal der fyftematifchen Ethik dienftbar zu machen.

Offenbar ift gegen diefe Sätze manches einzuwenden.
Wir unterfcheiden direkte gefchichtliche Irrtümer, falfche
Methoden und eine falfche Grundftellung. Zu den erften
zähle ich die Behauptung, das Judentum habe kein unmittelbares
Verhältnis zwifchen dem Gläubigen und Gott
gekannt, ferner: die Verkennung der ethifchen Bedeutung,
die das unmittelbare Verhältnis zu Gott im Chriftentum
hat. Die Methode zeigt, wie polemifch-apolo-
getifcher Eifer auch einen alten Philofbphen von dem
rechten Pfad abführen kann. Statt uns nämlich zu belehren
, wie man das Wefen einer gefchichtlichen Ge-
famterfcheinung findet, wobei wir alle gern zugehört
hätten, vergleicht er die fchlechtefte Erfcheinungsform
des Gegners mit der beften feines Klienten. Wie er dabei
das Prophetentum zurückfchneidet auf einen neukanti-
anifchen Moralismus, ift ebenfo gewalttätig, wie fein
Verfuch, das Chriftentum als mythologifch in Verruf zu
bringen. Das ift nicht recht; fo braucht man eine gute
Sache nicht zu verteidigen oder — die Sache ift nicht
gut. Das alles fleht dann im Dienft feiner Tendenz, das
neukantianifch zugeftutzte Judentum über das mythologifch
aufgefaßte Chriftentum zu ftellen. Wem es Freude

} macht, Gott auf eine fteinerne Gefetzestafel zu reduzieren
und diefe hoch über dem Haupt des Volkes aufzuhängen,

j mag es tun. Aber er nenne das nicht Religion; dazu ift
doch die Erkenntnis der fittlichen Gefetze als der Gebote
Gottes zu dürftig. Da ift mir nun doch irgend eine

I bunte Mythologie, die eine lebendige Beziehung zu Gott
herftellt, hundertmal lieber, als diefer Fetifch, den C.
übrig läßt und den er doch nicht ohne Mythologie gewinnt
. Wenn es C. gegeben wäre, das Geheimnis und
die Tiefe der Religion zu faffen, dann würde er ficher,
wie wir auch, Wege finden, die Mythologie als ihre einzig
mögliche Sprache, nämlich als die der Dichtung, zu rechtfertigen
und immer naiver gebrauchen zu lernen. Aber
davor fcheut folch ein Moralismus zurück. Man vergleiche
übrigens noch die Bemerkungen von W. Herrmann
und von K. Bornhaufen zu diefer Schrift im
3. Heft der Zeitfchrift für Theologie und Kirche 1907.

Heidelberg. Niebergall.

Praktifche Fragen des modernen Chriftentums. Fünf religi-
onswiffenfchaftliche Vortäge von Pfr. Lic. Traub, Pfr.
Jatho, Prof. Dr. Arnold Meyer, Priv.-Doz. Dr. Niebergall
und Pfr. Dr. Förfter. Herausgegeben von Prof.
Dr. Heinrich Geffcken. Leipzig, Quelle & Meyer
1907. (VIII, 126 S.) 8« M. 1.80; geb. M. 2.20

Das Büchlein enthält außer einem einleitenden Vorwort
von Profeffor Heinrich Geffcken fünf ftenographifch

j feftgehaltene Vorträge, die im Herbft 1906 in Köln je
vor einer großen Verfammlung von Freunden der evan-
gelifchen Freiheit gehalten find. Traub will die Taufe
als Kindertaufe fefthalten, fieht ihre Bedeutung aber
weniger in der Aufnahme in die Gemeinde, als (entfpre-
chend dem Lutherfchen Vorbild in der ,babylonifchen

: Gefangenfchaft') in der Verriegelung der ein für allemal
zureichenden göttlichen Gnade. — Für Jatho ift das
Abendmahl ,eine Gedächtnisfeier, die uns an den Tod

| Jefu erinnert, oder: ein feierliches Bekenntnis der Zugehörigkeit
zu Jefus'. Höher noch wertet er die ,Auffaffung
der Handlung als Brüdermahl als Liebesmahl' und fordert
im Anfchluß an Spitta eine entfprechende liturgi-
fche Umgeftaltung. — Zu einer tapferen und freudigen
Frömmigkeit voll Ewigkeitsfinnes möchte Arnold Meyer
die Jugenderziehung hinleiten. Haus, Schule und

j Kirche follen zufammen arbeiten. Dem Haus aber ge-

[ bührt der Vorrang. Nach Peftalozzis Vorbild foll es

j durch Pietät (gegen die Eltern) und Gemeinfchaftsgefühl
(mit den Gefchwiftern) zur Frömmigkeit führen: nicht
viel Worte, fondern Geift und Vorbild. Auch für den
Schulunterricht gibt M. vortreffliche praktifche Winke. —■
Ausgehend von jenem bekannten fchlefifchen Fall von
Konfirmationsnot, wodurch der charaktervolle Knabe gezwungen
wurde, außerhalb Preußens in Baden eine Konfirmation
ohne Apoftolikum zu fuchen, fchildert Niebergall
die Konfirmationsnot (Konflikt zwifchen kirchlichen
Zeremonien und perfönlichem Gewiffen), ihren
Urfprung und die verfchiedenen Befferungsverfuche. ,Ohne
ein Gelübde, darüber find wir mit unfern theologifchen
Gegnern einig, hätte die Konfirmationsfeier keinen Sinn.
Aber es foll ein Gelübde in der fchlichteften und ein-
fachften Form fein, daß es das Gewiffen nicht über die
Maßen belaftet'. Der Fremdkörper des Apoftolikums
müßte aus der Feier ganz wieder heraus. Vorläufig erhofft
N. ein Kompromiß etwa nach der badifchen Form,
in der das Apoftolikum lediglich rezitiert wird, ohne
daß die Konfirmanden fich ausdrücklich zu ihm bekennen.
— Im fünften und letzten Vortrag behandelt Förfter
die kirchlichen Bekenntniffe. Er zeigt, wie der alte
Stand der Bekenntnisverpflichtung bis auf den Reft des
theologifchen Ordinationsgelübdes zerbröckelt ift und
zerbröckeln mußte, weil diefer Bekenntniszwang weder

] mit der modernen Auffaffung vom Staat (Gewiffensfrei-