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Ausgabe:

1907 Nr. 20

Spalte:

556-559

Autor/Hrsg.:

Simon, Theodor

Titel/Untertitel:

Entwicklung und Offenbarung 1907

Rezensent:

Heim, Karl

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Theologifche Literaturzeitung 1907 Nr. 20.

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phyfik nicht zu erreichen ift. Ebenfowenig Erfolg ver-
fpricht ein Verfahren, da« fich begnügt, die Frömmigkeit
aus den Gefühlen und Bedürfniffen des Individuums abzuleiten
, feien diefe auch noch fo erhaben. Allerdings will
der Autor damit Unterfuchungen über das pfychologifche
Wefen der Religion ihren Wert nicht abfprechen; aber
er urteilt — und das gewiß mit Recht —, daß fie doch
nur präliminarifche Bedeutung in Anfpruch nehmen
können, und daß lediglich auf diefem Wege eine irgendwie
rationale Begründung des Glaubens nicht durchzuführen
fei. Beffer geftalten fich die Ausfichten, wenn man
fich entfchließt auszugehen von einer umfaffenden Einheit
über den Seelenvermögen, vom ,Geiftesleben', das als
eine eigentümliche, neue, höhere Wirklichkeit, nicht
,als ein Erzeugnis des bloßen Menfchen', fondern als eine
Bewegung, die an ihm fich vollzieht, verftanden werden
muß, und innerhalb deffen erft das Individuum zur Per-
fönlichkeit im wahren Sinne des Worts zu werden vermag
. Ein derartiges Geiftesleben ift als eine felbftändige
Größe nicht denkbar ohne eine zugleich überweltliche
und in der Welt wirkfame Realität, darin es gründet;
und es läßt fich in den mancherlei Kämpfen, in die es
fortwährend verwickelt wird, nicht bejahen und behaupten,
wenn es nicht aus jener transempirifchen Tiefe immer
wieder mit neuen Kräften und Impulfen gefpeift wird.

Ift auf diefe Weife die Religion begründet, fo be-
fchäftigt fich das zweite Kapitel befonders mit dem Verhältnis
, in dem die Gefchichte zu ihr fleht. Die Gefahren,
die den überlieferten Formen des Glaubens von diefer
Seite drohen, werden mit unerbittlicher Deutlichkeit ge-
fchildert und durch einzelne Beifpiele veranfchaulicht.
Die größte unter ihnen, die einzige wirklich ernft zu
nehmende, die nicht nur beftimmte Geftaltungen der Religion
, fondern diefe überhaupt in Frage ftellt, bleibt
doch immer ein alles auflötender und alles verfchlingen-
der Relativismus. Aber der Skeptizismus, der damit in
den Gefichtskreis tritt, wird nun eben überwunden —
und hier geftaltet fich die Auseinanderfetzung zu einer
geradezu fpannenden — mit Hülfe der Vorausfetzungen
der Wiffenfchaft, ja, der Hiftorie felber. Eucken beruft
fich auf den Gedanken, den er bereits in einer früheren
Publikation ausgeführt hat, daß die Gefchichtsfchreibung
gar nicht möglich wäre ohne einen dem Fluß der Zeitlichkeit
entzogenen Standort und ohne ein Uberwinden
der Zeitlichkeit, und erweift von da aus abermals die
Notwendigkeit, ein zeitüberlegenes felbftändiges Geiftesleben
und ewige Werte anzuerkennen, worauf es der
Religion vornehmlich ankommt. Freilich wird anderfeits
dem Hiftorizismus zugeftanden, daß unterfchieden werden
müffe zwifchen ewigen Werten als folchen und ihrer
Darftellung in der Zeit, insbefondere zwifchen der Sub-
ftanz der Religion und ihrer zufälligen Exiftenz: ,wir
können auch die erften Anfänge nicht mehr ihrem Ge-
famtbeftande nach als ewig und göttlich hinnehmen, wir
müffen das Ewige und Göttliche in ihnen erft fuchen
und freilegen, um nicht bei blinder Hingebung an jenen
Beftand Menfchliches mit Göttlichem und Zeitliches mit
Ewigem zu verquicken und damit eben das zu fchädigen,
was wir hochhalten möchten'. Die Religion werde bei
einem derartigen Zugeftändnis nur an ,Einfachheit' und
JJnmittelbarkeit' gewinnen.

Von dem ,Wefen des Chriftentums' handelt das dritte
Kapitel. Der Verf. ftellt da zunächft ,Gefetzesreligionen'
und ,Erlöfungsreligionen' einander gegenüber und faßt
die erfteren, unzweifelhaft richtig, als Vorftufen der
letzteren auf, die nun wiederum in zwei große Gruppen
fich gliedern: den indifchen Typus einerfeits, den chrift-
lichen Typus anderfeits. ,Dort ift es die Exiftenz einer
Welt überhaupt, die Form des Gefchehens, hier ift es
ein befonderer Stand der Welt, der zum Bruch mit der
vorgefundenen Lage zwingt'. Dem entfprechend ift das
Neue, was begründet und eröffnet wird, dort wefentlich
die Verneinung des Dafeins, hier die mutige Bejahung

eines höheren und vollkommeneren Dafeins. Mit aller Ent-
fchiedenheit hält Plucken daran feft, daß das Bewußtfein
eines fchroffen Konflikts zwifchen den Aufgaben des
Menfchen und deffen tatfächlichem Verhalten und die
Überwindung diefes Zwiefpalts in der Erfchließung eines
übernatürlichen, göttlichen Lebens zum Wefen des Chriftentums
gehört. Da läßt er nichts nach, und er findet herbe
tadelnde Worte gegen eine ,heute weitverbreitete, vage
und verfchwommene Denkweife', welche nivellierend die
eigentümlichen Merkmale des Chriftentums zu verwifchen
fucht, ihm ,alle verneinende und abflößende Kraft nimmt
und damit auch fein Ja zur völligen Mattheit herabftimmt'.
Ift danach das Charakteriftifche der chriftlichen Religion
die Herftellung eines weltüberlegenen Geifteslebens, durch
das die tragifche Spannung im natürlichen Menfchen gehoben
werden foll, fo wird darüber die Bedeutung der
,Lehre' nicht verkannt. Nur daß diefe nicht an eine
ftatutarifche Form fklavifch gebunden bleibe. Am Schluß
des Kapitels werden dann noch einige Einzelheiten befonders
befprochen: die Größe und nicht abzuleugnende
Originalität der Perfon Jefu; die Univerfalität des Chriftentums
; deffen Verhältnis zum Semitifchen und Indoger-
manifchen, fowie zu dem Wechfel der Zeiten; der Gegen-
fatz, in dem es zu gewiffen modernen Beftrebungen fleht
und flehen muß; die Ausfichten für die Zukunft. Von
diefer wird eine Wiederaufnahme des religiöfen Problems
erwartet, das aber eine glückliche Löfung nur finden kann
durch Befreiung des Chriftentums ,von aller kleinmenfch-
lichen Zutat', durch ,kräftige Heraushebung und fefte

| Zufammenfaffung des chriftlichen Lebens fowohl gegenüber
einer fklavifchen Bindung der Religion an äußere

! Formen und Formeln, als gegenüber einer charakterlofen
Abfchleifung und Verflüchtigung ihres Inhalts'.

Wie hoch der Unterzeichnete die Bedeutung der
Euckenfchen Religionsphilofophie für eine groß angelegte
Apologetik einfchätzt, hat er wiederholt ausgefprochen.
Wenn der Jenenfer Denker gelegentlich fehr nachdrücklich
den Finger auf gewiffe Schwierigkeiten legt, deren
Druck die Theologie der Gegenwart längft empfunden
hat, namentlich wo es eine Verftändigung gilt über die
Abgrenzung des Ewigkeitsgehalts im Chriftentum gegenüber
den temporären Formen des letzteren, fo fetzt das
den Wert feiner Dienftleiftung nicht herab. Insbefondere
aber fei ihm auch die energifche Abwehr jener pan-
theiftifchen und naturaliftifchen Immanenzlehren gedankt,
die fich heute fo gern für den Inbegriff philofophifcher
Weisheit ausgeben. Und auch noch gegen einen Vorwurf
fei es geblattet die vorliegende Schrift in Schutz zu nehmen:
daß fie nämlich'mit ihrer ariftokratifierenden Verkündigung
einer Religion des Geifteslebens den Wert der einzelnen
Perfönlichkeit verkenne. Wenn Refer. anders recht
verftanden hat, ift das nicht der Fall. Bloß ift die Meinung
wohl die, daß die menfchliche Perfönlichkeit zur
Vollentfaltung erft gelange, indem fie fich dienend eingliedert
in das umfaffende Ganze eines Reichs des Geiftes,
und daß allein von der Betrachtung der letzteren Größe
aus eine objektive, überindividuelle, nicht bloß auf fub-
jektive Anfprüche geftützte Begründung der Religion fich
ermöglichen laffe.

Straßburg i. E. E. W. Mayer.

Simon, Paft. Lic. Dr. Theodor, Entwicklung und Offenbarung
. Berlin, Trowitzfch & Sohn 1907. (III, 129 S.)
gr. 80 M. 2.40

Es ift wertvoll, daß in diefer Schrift der Kampf
gegen die irreligiöfen Folgerungen aus der Deszendenzlehre
nicht durch den Hinweis auf die Lückenhaftigkeit
des zoologifchen und paläontologifchen Beweismaterials
geführt wird, die dem bedrohten Glauben doch nur eine
zeitweife Beruhigung gewähren kann, fondern durch eine
prinzipielle Unterfuchung des Entwicklungsbegriffs, mit
dem die Naturwiffenfchaft operiert. ,Ift Entwicklung ein