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Ausgabe:

1907 Nr. 19

Spalte:

537-539

Autor/Hrsg.:

Dorner, August

Titel/Untertitel:

Die Entstehung der christlichen Glaubenslehren 1907

Rezensent:

Lobstein, Paul

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537 Theologifche Literaturzeitung 1907 Nr. 19. 538

Dorner, Prof. D. Dr. Auguft, Die Entftehung der chrift- die in das rein Religiöfe zurückgenommen ift und fich
liehen Glaubenslehren. München, J. F. Lehmanns Ver- befonders im mönchifchen Lebensideale darftellt. In der
u , ^ ,vt ,„ c qo Tv/r zt ■ rrPh M n Periode der überwiegenden Tranfzendenz laffen fich zwei
lag 1906. (XI, 315 S.) gr. 8« M. 6—, geb. M. 7- , Typen untcrfcheiden, dergriechifche und der römifche. Auf
Diefe Schrift Dorners fchließt fich an die früheren J der griechifchen Seite ift es Athanafius, der diefe Periode
Veröffentlichungen des Verfaffers in organifcher Weife an. inauguriert; es werden hier die Dogmen der Trinität und
Hatte er in feinem Grundriß der Religionsphilofophie (1903) dann der Chriftologie kirchlich fixiert und durch Johannes
gezeigt, ,wie das Refultat des religionsgefchichtlichen j von Damaskus fcholaftifch zufammengefaßt. Auf der rö-
Prozeffes in der Religion der ethifch beltimmten Gott- , mifchen Seite fteht die Entwickelung unter dem Typus

Auguftins, und die Zufammenfaffung der Dogmen unter
römifchem Typus wird eingeleitet durch Scotus Erigena,
fortgefetzt durch Anfelm, auf die Höhe gebracht durch
Thomas v. Aquin. — Die Periode der einfeitigen Tranizendenz
wird durch die Periode der Immanenz abgelöll,
in welcher Gott der Seele und der Welt immanent wird,
und die Einigung Gottes und des Menfchen ohne Verkürzung
des Menfchen zuftande kommt. Mit erftaunlicher
Virtuofität findet D. in diefer Formel den Schlüffel zum
Verfländnis aller religiöfen Probleme, welche die Reformation
befchäftigt haben: es wird die Heilsgewißheit
betont, die das Subjekt felbft durch den ihm immanenten
Gottesgeift erfährt; da das gottmenfehliche Bewußtfein
die ganze Perfon erfaßt und die natürlichen
Grundlagen des Lebens umgeftaltet, fo wird die Ethik
weltliche Ethik; die lutherifche Rechtfertigungslehre und
das reformierte Erwählungsdogma finden in jenem Grundprinzip
ihre Erklärung. Auch der allgemeine Tenor bei-

menfehheit einmündet', fo will er in dem vorliegenden
Werke, das den 1899 erfchienenen Grundriß der Dogmen-
gefchichte ergänzt und eingehender begründet, nachweifen
, ,wie innerhalb des Chriftentums das Prinzip der
Gottmenfchheit fich immer bewußter und klarer durchfetzt
und eben damit fich als das leitende Prinzip des
Chriftentums erweift'. Speziell unternimmt er es hier,
,an dem Faden der Gefchichte das Wefen des Chriftentums
aufzuzeigen', indem er dabei von der ,Vorausfetzung
ausgeht, daß das Prinzip des Chriftentums den Schlüffel
zum Verftändnis feiner Gefchichte bildet'. ,Daß in dem
Prozeß retardierende Momente genug auftreten, leugne ich
damit gar nicht; nur hindern diefe nicht, daß das dem Ideal
der Religion entfprechende Prinzip fich fchließlich doch
durchfetzt. Ebenfowenig ftelle ich in Abrede, daß auch
das Prinzip des Chriftentums anfänglich fich noch ftark
von früheren Einflüffen beftimmt zeigt. Aber das hindert
nicht den, der den ganzen Prozeß überfchaut, anzuer

kennen, daß doch diefes Prinzip fich in der Gefchichte der Konfeffionen ift darin begründet. Während beide
des Chriftentums immer vollkommener dargeftellt hat, die Immanenz, das Einwohnen des göttlichen Geiftes in
daß die Freiheit eines Chriftenmenfchen fich immer ener- [ der Seele anerkennen, zeigt fich diefelbe bei den Luthe-
gifcher durchgefetzt hat. Das teleologifche Moment in ranern mehr innerlich in dem Gemüte, bei den Refor-
der Gefchichte vollzieht fich immer mit Hilfe der kau- mierten mehr in dem Willen. Von diefem Mittelpunkte
falen Zufammenhänge, und nur wenn man beide Seiten aus ift namentlich auch die Umgeftaltung der Lehre von

beachtet und verbindet, wird man den Zufammenhang

der Kirche zu begreifen; da ferner hier Gott der Welt

der gefchichtlichen Entwickelung verliehen' (VIII—XI). und den Subjekten immanent ift, fo mußte mit dem
— Es liegt dem Verf. vor allem daran, dielen Entwicke- j Intereffe an der felbftändigen weltlichen Ethik auch das

lungsprozeß in feinen verlchiedenen Epochen und Wende
punkten zu fchildern, und ihn ftets aus dem die chrift-
liche Religion befeelenden Prinzip abzuleiten und zu
deuten. Die erfte Phafe des Chriftentums Hellt die Gottmenfchheit
in der unmittelbaren Form dar, und alle in
demfelben verborgenen Gegenfätze ruhen noch naiv nebeneinander
. In der Zeit des Ürchriftentums und derapoftoli-
fchen Väter erfcheint der Inhalt des Chriftentums ebenfo
fehr in der Form der Phantafie wie des Begriffs. Sodann
beginnt teils auf Anregung der Gnoftiker, teils aus dem
inneren Erkenntnisdrang des Chriftentums felber der
Verfuch, das Chriftentum als die wahre Philofophie zu
erweifen; diefer durch die Apologeten unternommene Verfuch
gipfelt in der Weltanfchauung des Origenes. Damit

Intereffe an der Gefchichte erwachen.

So entfaltet die chriftliche Lehrbildung den Inhalt
des chriftlichen Prinzips immer vollkommener. Diefer
Fortfehritt dokumentiert fich noch durch zwei wichtige
Momente. Einmal werden wir durch das Verftändnis diefes
Entwickelungsgangs in den Stand gefetzt, einzufehen, daß
alle Stufen der durchlaufenen Phafen ihre Berechtigung
haben, daß die Einfeitigkeiten der einzelnen Stadien einen
Durchgangspunkt darfteilen, daß die Gegenwart die Glieder
der Gegenfätze in höherer Form verbindet, daß nun erft
auch eine wirkliche Gefchichte der chriftlichen Lehre unternommen
werden kann. Zum zweiten läßt fich auch der
Fortfehritt der Lehrbildung nach der formalen Seite erkennen
. Anfangs ift das chriftliche Prinzip noch in Bilder-

ift die erfte Epoche der Ausbildung der chriftlichen fprache gehüllt; es fchreitet aber immer mehr zu klarer,
Lehre zu einer wiffenfehaftlich fundierten Weltanfchau- begrifflicher Präzifion der Lehre fort, es ergreift immer
ung gegeben (S. 20—55).— Nachdem fo der Inhalt des 1 energifcher die Welt des Denkens und Wollens, es wird
Chriftentums als der Religion der Gottmenfchheit vor- j fchließlich durch das Erkennen immer klarer fixiert,
läufig expliziert ift, treten nun die in demfelben ent- j immer geiftiger gefaßt und in feiner Verniinftigkeit erhaltenen
Gegenfätze immer ftärker hervor und üben j griffen. Aus dem Zuftand des unmittelbaren Bewußtfeins
nach und nach auf die ganze Auffaffung des Chriften- i hat fich das Chriftentum zu immer klarerem Bewußtfein
tums ihren Einfluß: die Ausbildung der Lehre geht nun j feiner felbft, Zuletzt auch noch durch die Überfchau
in das Konkrete ein. In zwei großen Perioden vollzieht | feiner eigenen Gefchichte erhoben und zu einer immer
fich diefe dogmengefchichtliche Entwickelung. Zuerft foll ! geiftigeren Auffaffung der Religion durchgearbeitet. —
dieGottmenfchheitunter dem Überwiegender Tranfzendenz ! Daß diefer Prozeß der Vergeiftigung, durch welchen die
Gottes verftanden werden (56—204); hierauf findet die | Erkenntnis fich immer mehr von der finnlichen Form
Lehrentwickelung unter dem Überwiegen der Immanenz 1 der Vorftellung befreite, fich nicht fchneller vollzogen hat,
ftatt (205—304). Die erfte Periode erftreckt fich bis zur | das hat feinen Grund darin, daß nach d em allgemeinen
Reformation, die zweite wird durch die Reformation ein- j Gefetz der Entwickelung diefe fich nicht nur teleolo-
geleitet. Daßzuerftdie überwiegend tranfzendenteRichtung ' gifch vollzieht, fofern alle Religionen in das Chriftentum
lieh geltend macht, ift ganz natürlich. Das Chriftentum j als die Religion der ethifch beftimmten Gottmenfchheit

erfcheint als etwas neues und wird vor allem als eine
Tat Gottes betrachtet; es erfcheint das Hiftorifche in
der Religion in ftreng fupranaturaliftifcher Form. Von

einmünden, fondern daß fich der teleologifche Fortfehritt
kaufal-pfychologifch vermittelt. Hieraus erklart lieh wohl
zur Genüge, daß der Fortfehritt in der religiöfen Er-

dtefem Standpunkt der Tranfzendenz find alle einzelnen j kenntnis nicht immer ein geradliniger fein kann. Ja man
Logmen als integrierende Momente diefer Entwickelung wird die religiöfen Streitigkeiten im Chriftentum großen-
zuverftehen; diefem Standpunkt entfpricht auch die Ethik, | teils aus dem Zufammenftoß des teleologifchen Gefetzes