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Ausgabe:

1907 Nr. 15

Spalte:

439-441

Autor/Hrsg.:

Kellner, K. A. Heinrich

Titel/Untertitel:

Heortologie oder die geschichtliche Entwicklung des Kirchenjahres und der Heiligenfeste von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. 2., vollst. neu bearb. u. verm. Aufl 1907

Rezensent:

Drews, Paul

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Theologifche Literaturzeitung 1907 Nr. 15.

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eben gegen die begriffliche Natur diefer Vorftellungen
gerichtet ift (S. 208. 216. 268). Mehrfach wird die er-
kenntnistheoretifch als ,Stammbegriff' eingeführte ,Sub-
ftanz' promiscue mit ,Materie' gebraucht, fodaß von der
,Atomiftifchen Theorie der Subftanz' die Rede ift (S. 304.
310. 432). Die Bogengänge des Labyrinths im inneren
Ohr werden in der Pfychologie in der Regel nicht als
Organ für den Raumfinn, fondern für den Gleichgewichts-
finn betrachtet (S. 133). Bei Nachbildern oder beim Nachklingen
von ,Nachwahrnehmungen' zu reden, ift unzweckmäßig
, da das Charakteriftifche der Wahrnehmung, der
Reiz, hier eben wegfällt (S. 161 f.). Der Ausdruck ,Gefühl'
für Taftrinn ift veraltet (S. 229).

Der Wert des Buches liegt in den naturphilofophifchen
Ausführungen über die Theorie der Materie, befonders
die Äthertheorie, und über das Energieprinzip, die manches
Anregende bieten.

Heidelberg. Th. Elfenhans.

Kellner, Prof. Dr. K. A. Heinrich, Heortologie oder die
gefchichtliche Entwicklung des Kirchenjahres und der
Heiligenfefte von den älteften Zeiten bis zur Gegenwart
. Zweite, vollftändig neu bearbeitete und vermehrte
Auflage. Freiburg i. B., Herder 1906. (XI,
303 S.) gr. 8° M. 6 —; geb. M. 7.20

Diefes Buch ftellt fich uns in ,zweiter, vollftändig
neu bearbeiteter und vermehrter Auflage' vor. Da mir
die erfte Auflage (1900) unbekannt ift, fo bin ich nicht im
Stande, den Abftand von der erften Auflage abzumeffen.
Nach dem Vorwort find die ,leitenden Gedanken und
Grundfätze' die gleichen geblieben, nur ,fei das Ganze
innerlich mehr ausgebaut', auch feien einzelne Paragraphen
und Exkurfe neu hinzugekommen. Das Buch will ,vor-
zugsweife Studierenden der [katholifchen Theologie] und
dem jüngeren Klerus' dienen, will aber auch ,ein Hilfsmittel
an höheren Schulen' fein. Es will im wiffenfchaft-
lichen Geifte die Ergebniffe der neueften Forfchungen
bieten. Im Allgemeinen wird man ihm gern zugeftehen, daß
es feinem Zwecke trefflich dienen mag, und daß in der
Tat, foweit die katholifche Anfchauung das Urteil des
Verfaffers nicht bindet, der Wiffenfchaft ihr Recht wird.
Der konfeffionelle Standpunkt des Verfaffers macht fich
allerdings fchon im Literaturverzeichnis bemerkbar. Hier
werden nur Ii proteftantifche Arbeiten aufgezählt, und
z. T. recht wertlofe, während wichtige Beiträge zur Sache
ganz übergangen find. Ich nenne z. B. Auguftis Handbuch
der chriftlichen Archäologie (1. Band, Leipzig 1836)
oder Grotefends Zeitrechnung des deutfchen Mittelalters
(Hannover und Leipzig 1891 und 1898); auch Binghams
altes Werk verdient noch immer berückfichtigt zu werden;
ebenfo find die einfchlagenden Artikel der neuen Auflage
der Proteft. Realencyklopädie mit Verachtung geftraft
worden, auch im Buche felbft. So ift z. B. in dem Exkurs
/über Miffa als Name für das Meßopfer' (S. 58 fr.) die
Ausführung von Kattenbufch über die Bedeutung und
den Urfprung des Wortes missa in dem Artikel ,Melle'
Bd. 12, S. 665—669 bei Seite liegen geblieben, obwohl
fich Kattenbufch an jener Stelle gerade auch mit Kellner,
der feine Auffaffung fchon in der theolog. Quartalfchrift
1901, S. 427 ff. vorgetragen hatte, ganz befonders auseinanderfetzt
. In dem Kapitel über die Heiligenfefte, bez.
in § 24: ,Die Anfänge und Grundlagen der Heiligenverehrung
' vermißt man das treffliche und grundlegende Buch
von E. Lucius, Die Anfänge des Heiligenkults in der
chriftlichen Kirche, Tübingen 1904.

Der Verfaffer zeigt fich auch völlig unberührt von
neuerer Kritik. Er gehört nicht zu der Gruppe moderner
Reformkatholiken, die fich nicht fcheuen, auch von pro-
teftantifcher Kritik zu lernen. So ift ihm der Markus-
fchluß echt (S. 82); fo hält er an der Anfchauung noch
feft, daß von Erfchaffung der Welt bis zur Geburt Chrifti

4—5000 Jahre vergangen find (S. 3 und S. 119); fo zweifelt
er nicht an der Gefchichtlichkeit des Zenfus Luk. 2 und
baut darauffolgende Vermutung: ,Übrigens ift es möglich,
daß die Geburt des Herrn in den Anfang des Winters
fiel; denn da der gleichzeitig ftattfindende Zenfus es notwendig
machte, daß die Einwohner Judäas fich in die
Stammfitze ihrer Familien begaben, fo wird die römifche
Obrigkeit diefen Zenfus jedenfalls in eine Zeit gelegt
haben, in der alle Feldarbeiten ruhten, alfo in den Spät-
herbft oder Anfang des Winters' (S. 108 f.). Das jüdifche
Ofterfeft mit feinen Bräuchen ift ihm ein Typus des
chriftlichen Oftern (S. 32 f.). Das Kirchenjahr beruht
für ihn auf einer ,Wirkung des in der allgemeinen Kirche
waltenden und fich ftets erneuernden Geiftes' (S. 3), oder
,die Grundlagen dafür und der Kern der Fehlordnung
waren durch höhere Hand gegeben, und nur die Weiterbildung
, alfo der geringere Teil des Ganzen, ift auf
menfchliches Denken und menfchliche Tätigkeit zurückzuführen
'. Natürlich kann bei einer folchen Auffaffung
von einer energifchen Betonung und Durchführung der
Anfchauung, daß der katholifche Feftkalender in nicht
geringem Maße einfach eine Fortfetzung und Umbiegung
des heidnifchen Feftkalenders ift, —■ von fchwachen An-
fätzen abgefehen — nicht die Rede fein.

Auch fonft bietet die Darftellung zu manchen Bedenken
Anlaß. An nicht wenigen Stellen finden fich
unkritifche und ungefchichtliche Behauptungen, die fich
wohl aus der ganzen Grundanfchauung des Verfaffers
erklären. Ich greife eine Reihe folcher Stellen heraus,
die ich mit einem Fragezeichen verfehen muß. Wenn
es S. 7 über den Sonntag heißt: ,Man war von Anfang
(von mir gefperrt) darüber einig, daß alle Arbeiten zu
unterbleiben hätten, welche den Gläubigen den Befuch
des fonntäglichen Gottesdienftes unmöglich gemacht
haben würden, alfo vor allen die Arbeiten der Sklaven
oder Knechte, d. h die Feldarbeiten', fo dürfte es fchwer
fallen, für diefen Satz auch nur eine Belegftelle aus der
älteften Zeit beizubringen. Hier ift der Wunfeh der
Vater des Gedankens. — S. 5 wird behauptet, daß fchon
,in der Urzeit' der chriftliche Gottesdienft aus zwei Teilen
beftanden habe: .einem vorbereitenden Teile in der Nacht,
welcher bereits in Plinius Briefen fchon (sie!) erwähnt
wird, bei welchem Pfalmen gefungen, Gebete verrichtet
und Stücke aus der Heiligen Schrift vorgelefen wurden.
Daran fchloß fich zur Zeit der Morgendämmerung der
euchariftifche Teil des Gottesdienftes'. Ungefähr das
Gegenteil von dem ift richtig. Auch hier wird einfach
eine gefchichtliche Konftruktion kühnfter Art vorgenommen
, um die katholifche Sitte, hier insbefondere die
Vigilien, fo alt wie möglich zu machen. — Daß Juftin im
Dialog c. Tryphone c. 40 und 111 das chriftliche Oftern
erwähne (S. 30), ift ficher verkehrt. Juftin erwähnt niemals
ein chriftliches Feft. — Der Verbuch, das Wort
missa im Sinne von dimittere, alfo als Entlaffung zu
erklären (S. 58 ff.), hat mich nicht überzeugt. Ich fagte
fchon, daß Kellner Kattenbufchs Ausführungen ftolz ignoriert
habe. Er hätte aber gut daran getan, fie nachzulefen.
Dann hätte er nicht von Neuem feine Auslegung der ihm
fehr wichtigen Stelle bei Avitus von Vienne, die Kellner,
fo behauptet Kattenbufch (a. a. O., S. 666,32), gar nicht
aufgefchlagen haben könne, wiederholen können. Kattenbufch
hat n. m. M. recht, wenn er missa = leixovQyia
faßt. — Ebenfowenig wie diefe Behauptung leuchtet mir
die S. 64 vorgetragene ein, daß der Ritus der Weihe des
,neuen Feuers', deffen Urfprung im Dunklen liegt, fehr
gut ,für den Karfamftag als den legalen Termin der Erteilung
der Taufe paffe, welche mit Vorliebe Erleuchtung
(illuminatio, rpoiricifioq) genannt worden fei' (S. 64). Warum
hat man dann aber nicht auch am Pfingftfabbat, an dem
doch auch getauft, wurde, eine Feuerweihe vorgenommen?
Daß diefe öfterliche Sitte altheidnifch ift, habe ich in
dem Artikel: ,Paffah, altkirchliches, liturgifch' in der
I Realencyklopädie Bd. 14, S. 748, S. 59 ff. gezeigt. Eben-