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Ausgabe:

1907 Nr. 14

Spalte:

416-417

Autor/Hrsg.:

Thilo, Chr. A.

Titel/Untertitel:

Spinozas Religionsphilosophie 1907

Rezensent:

Mayer, Emil Walter

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Theologifche Literaturzeitung 1907 Nr. 14.

416

alfo eine Art perfönlicher Religionsfchwäche. Allein das
ift fchwerlich richtig. Jeder Kundige erkennt in feinen
Argumentationen den englifchen Antideismus und feine
Behauptung der vom Deismus angegriffenen Pofitionen.
Die reine Bibelautorität, der Rückzug auf das testimonhim
Sp. S. war durch den Deismus erfchüttert und zwar mit
fehr guten hiftorifch-kritifchen Gründen. Da ftellte der
Antideismus alles auf die Wunderkontroverfe, auf die
die Wahrheit des Chriftentums bezeugenden Naturwunder
und Bekehrungswunder, und deren Tatfächlichkeit wieder
bewies er mit hiftorifch-philologifch-kritifchen Mitteln
aus Bibel und Kirchengefchichte, worin er auf dem Boden
des Deismus nachfolgte, aber die entgegengefetzten Re-
fultate gewann. Nicht einfach Ermattung ift es alfo bei
Mosheim, fondern Unhaltbarkeit der alten Pofition infolge
der deiftifchen Angriffe und Verlegung der Apologetik
in den durch Hiftorie zu leidenden Wunderbeweis.
Daher ift auch Mosheim wefentlich Hiftoriker der alten
Kirche, das fupranaturale Gegenftück zu der natürlich
erklärenden Urgefchichte des Chriftentums, die Gibbon
fpäter gab in polemifcher Abficht, wie Mosheim die feine
in apologetifcher. Es ift eine durch die innere Entwicke-
lung gebotene Verfchiebung der Probleme von fchola-
ftifch-begrifflicher Argumentation und von religiöfer
Gefühlsüberzeugung auf den Boden der Gefchichtsfor-
fchung und des von ihr zu erbringenden Wunderbeweifes.
Weil Reinhard das nicht erkannt hat, fpricht er auch von
Mosheims Dogmatik, ohne von deffen Kirchengefchichte
Notiz zu nehmen.

Ein kurzer Schlußabfchnitt des klar feine drei Autoren
wiedergebenden Buches fucht den Übergang der
Orthodoxie in die Aufklärungallgemein zu charakterifieren.
Er findet ihn angebahnt durch Melanchthons Lehre von
Gefetz und Evangelium und deffen Ausbau der Gefetzes-
lehre zu einem rationalen Syftem. Die allmähliche Verfchiebung
des letzteren habe faft von felbft die Orthodoxie
in Aufklärung übergehen laffen, während von Luthers
Gefetzeslehre und deffen Stellung zur Philofophie aus
eine folche Entwickelung nicht möglich gewefen wäre.
Das ift zweifellos richtig. Doch darf zweierlei nicht über-
fehen werden. Erftlich ift der Übergang nicht faft von
felbft erfolgt, fondern erft nach Auf löfung der orthodoxen
Pofition durch die focinianifche, armimanifche und dei-
ftifche Kritik und unter dem Einfluß des unter fchweren
Schmerzen geborenen Antideismus. In Deutfchland vollzieht
fich der Übergang ruhig, weil der heiße Kampf in
England ausgefochten ift, und in Deutfchland das apolo-
getifche Ergebnis des Kampfes, der Antideismus, fertig
übernommen und fortgebildet werden kann. Zweitens
ift in dem Übergang das Pmtfcheidende nicht das von
der Orthodoxie bereits anerkannte natürliche Syftem der
Prinzipienlehre, fondern der enge Zufarnmenhang diefer
natürlich-gefetzlichen Ordnung mit dem orthodoxen Gottesbegriff
, der die Satisfaktionslehre nur mit der Gefetzes-
ordnung als der eigentlich natürlichen unterbauen konnte
und die Gnadenordnung nur als Mittel der Umgehung
der moralifchen Rechtsordnung kannte. Wie R. richtig
fagt: ,Ihre (d. h. von Gefetz und Evangelium) höhere
Einheit liegt darin, daß das eine wie das andere der
Ausdruck des einen göttlichen Willens ift, der durch
übernatürliche Maßregeln das Ziel herbeiführt, zu dem
durch des Menfchen Schuld natürliche nicht mehr führen'
S. 68. Es braucht nur die Kritik das Satisfaktionsdogma zu
Fall zu bringen, und dann bleibt die natürlich-moraliftifche
Ordnung der Lex haturae übrig, die fich mit einem
weifen Weltmechanismus der Vorfehung wohl verträgt,
und der natürliche Theismus ift fertig. Es ift vor allem
der mit der Genugtuungslehre eng zufammenhängende
Gottesbegriff der Orthodoxie, der den Übergang bewirkt.
Dann aber liegt auch betreffs Luthers die Sache nicht fo
einfach, der zwar gewiß einen anderen Gottesbegriff, den
Gottesbegriff der prinzipiellen und primären Gnadenordnung
hatte, der aber mit feiner ftrengen Behauptung,

ja Steigerung des Satisfaktionsdogmas doch dem Gottesbegriff
der Rechtsordnung ftarken Vorfchub getan hat.
Hier trägt keineswegs Melanchthon allein die Verantwortung
; die Erhaltung und Steigerung des Satisfaktionsbegriffes
im Proteftantismus ift der letzte Grund. Im

j Katholizismus von allen Frommen geltend und durch die
Sakramentsgnade balanciert, gilt er im Protefiantismus
allein vom Gottmenfchen und bewirkt er oder der Glaube
an die Satisfaktion allein das Heil ohne Balancierung
durch die fakramentale Gnadeneinflößung. Das hieß trotz
aller Tiefe des Gottesbegriffes Luthers die moraliffifche
Rechtsordnung zum Zentrum machen, viel mehr als im
Katholizismus, und ermöglichte erft die Ausbildung des
Gefetzesbegriffes und der lex naturae und damit bei
Zerftörung der Genugtuungslehre, fei es durch kritifche
Erforfchung des Lebens Jefu, fei es durch Kritik der

! ethifch-religiöfen Genugtuungsidee, den rationaliftifchen
Deismus des Gottesbegriffes.

Heidelberg. Tröltfch.

Lehmen, Alfons, S. J., Lehrbuch der Philofophie auf arifto-
telifch-fcholaftifcherGrundlage zum Gebrauche an höheren
Lehranftalten und zum Selbftunterricht. Vierter (Schluß-)
Band: Moralphilofophie. Freiburg i. B., Herder
1906. (XIX, 333 S.) gr. 8» M. 4-; geb. M. 5.80

Der Schlußband diefes nach Grundlage und Methode
,fcholaftifchen' Lehrbuches der Philofophie behandelt im
erften Teil die ,Allgemeine Moralphilofophie' mit folgender
Gliederung: Erfte Abhandlung: vom Endzweck des
Menfchen. Zweite Abhandlung: von der Moralität der
menfchlichen Handlungen, mit dem grundlegenden Satz
über die ,wahre Sittennorm': ,NächfteNorm der Sittlichkeit
für den Menfchen ift die vernünftige Menfchennatur als
, folche; letzte und Univerfalnorm ift die Wefenheit Gottes'
(S. 55). Dritte Abhandlung: vom natürlichen Sittengefetze.
Vierte Abhandlung: die Lehre vom Recht. Der zweite
Teil enthält die ,Befondere Moralphilofophie' und zwar
in einem erften Buch: ,Pflichten und Rechte des Menfchen
als Privatperfon', wobei das Pligentumsrecht und die
Widerlegung des Sozialismus eine bcfonders eingehende
Darftellung erfahren. Das zweite Buch behandelt die
,Gefellfchaftslehre' in drei Abhandlungen: von der Familie
, vom Staate und vom Völkerrecht. Das der Einleitung
vorangefchickte Verzeichnis der 89 Lehrfätze
orientiert in Kürze über den Standpunkt, der im ganzen
mit demjenigen der (auch mehrfach zitierten) ausführlichen
Moralphilofophie von V. Cathrein fich deckt.

Heidelberg. Th. Elfen hans.

Thilo, Chr. A., Spinozas Religionsphilofophie. (Religions-
philofophie in Einzeldarftellungen. Pierausgegeben
von O. Flügel. Heft VII.) Langenfalza, H. Beyer
& Söhne 1906. (III, 80 S.) gr. 8° M. 1.25

Was die Schrift als Spinozas ,Religionsphilofophie'
befchreibt, ift die Metaphyfik und Ethik diefes Denkers
unter befonderer Berückfichtigung der Bedeutung und
Stellung des Gottesbegriffs im Syftem, der Lehre vom
menfchlichen Geift und der menfchlichen Freiheit und
der auf die Unfterblichkeit bezüglichen Gedanken. Die
Darfteilung ift von einer fcharffinnigen und zugleich
fcharfen Kritik durchfetzt, die an Heftigkeit der von
Herbart geübten nicht nachfteht, und die methodifch und
inhaltlich fich vielfach an diefe anfchließt ohne darum
auf Selbftändigkeit zu verzichten und der Originalität zu
entbehren. Befonders häufig ift die Klage über ,eine
unvorfichtige Übertragung logifcher Verhältniffe auf das
Seiende'. Dazu kommt der Hinweis darauf, wie wenig
die Gottesvorftellung des großen Pantheiften dem religi-
öfen Bedürfnis zu genügen vermöge.