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Ausgabe:

1907 Nr. 1

Spalte:

20-21

Autor/Hrsg.:

Tyrrell, George

Titel/Untertitel:

Lex credendi. A sequel to Lex orandi 1907

Rezensent:

Holtzmann, Heinrich Julius

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Theologifche Literaturzeitung 1907 Nr. 1.

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voller Vertiefung, zu felbftlofer Freude an innerer Bereicherung
kaum noch Zeit findet. Und eben darin liegt
der befondere Reiz des Buchs, daß es Wege zum inneren
Glück weift.

Die Mitteilungen beginnen mit dem Fragment einer
Selbftbiographie, das Jugendeindrücke fchildert, welche
dann durch Tagebuchnotizen, die gefchickt in die Erzählung
des Lebensgangs eingeflochten find, fortgefetzt
werden. Es folgt eine Auswahl von Gedichten, herzige
Stimmungsbilder eines naturfrohen, frommen Gemüts.
Den Hauptteil bildet eine Auswahl von Briefen, für die
der Lebensabriß den wohl orientierenden Untergrund
herftellt. Sie geben wertvolle Beiträge zur Familien-
gefchichte. Mit Ernft tritt namentlich fein Bruder Leopold
und Heinrich charaktervoll heraus. Dann kommen
auch die Freunde zu Wort, unter denen der treuherzige,
ftürmifche Hans von Kleift, der, wie feine Mutter
Ernft dankbar fchreibt, durch ihn zu Chriftus geführt
worden ift (S. 192), in erfter Stelle fleht. Die älteften
Briefe fallen in die Zeit des Abfchluffes der Pfortaer
Studien (1834), wo auch die wichtigften Freundfchaften
gefchloffen find, die durchs Leben vorhielten. Der letzte
ift ein Glückwunfeh Kleifts zu Ernfts letztem Geburtstage
vom 9. IX. 1887. So fpiegeln fich in ihnen in intimen
Zügen, in lebhaften Bekenntniffen, im Hoffen, Planen,
Erwägen, in Rechenfchaft über die Probleme und Er-
eigniffe, in Schilderungen von Erlebniffen und Erfahrungen
nicht nur Perfönliches, die Eindrücke des Studenten
, die Bemühungen des Pfarrers und fein Familienglück
, die Marburger Wirkfamkeit, fondern auch die
Zeitläufte wieder, wie fie auf einen innig verbundenen
Kreis edler, frommer, tüchtiger Menfchen wirkten. Die
Gegenfätze der Charaktere machen fich geltend und die
Gegenfätze der Stellungnahme zu den großen theolo-
gifchen, kirchlichen und politifchen Zeitfragen. Grundton
bleibt das dürjd-sveiv sv ctyaxy. Wahrheitsliebe und
mildes Gewährenlaffen, eine ,tiefe, finnreiche Vertraulich-
lichkeit,' ift Ernft zur anderen Natur geworden. Er bewährt
beides in den wiffenfehaftlichen Schmerzen feiner
Marburger Lehrjahre, befonders in feinem Verhältnis zu
feinem Kollegen Zeller — fein Gutachten über denfelben
(S. 48 f.) ehrt ihn ebenfo wie den Beurteilten. Er bewährt
beides in feiner Stellungnahme bei den kirchlichen
Kämpfen Heffens. Wie er fich da innerlich behauptete,
zeigt fein Wort: ,Das Schickfal, beleidigt zu werden,
kann nur durch Gebet für den Beleidiger ertragen und
überwunden wurden. Aber ehe es dazu kommt, ift viel
Unruhe im Herzen'. Offen markiert er die kirchlichen
Differenzpunkte mit Kleift. Aber ,ich bin, fo frei ich
mich auch von Orthodoxismus weiß, Lutheraner'. Auch
fo gehts nicht ab ohne innere Konflikte. ,Auf allen
Seiten finde ich mich von kirchlichen Dogmen beengt.
Und gleichwohl fteht diefes (das Abendmahlsdogma)
hiftorifch fo bedeutend da, daß die Abweichung davon
ein gefährlich Ding ift' (S. 52). Aber unbeirrt bleibt er
in der Empfindung des Glücks, ein Profeffor zu fein.
,Es ift das etwas herrliches auf einer Univerfität, daß
man fich fo offen ausfprechen kann.' .Lernen ift glücklich
fein.' ,Für mich ift das Ziel die Ausbildung der mir
von Gott verliehenen Gaben.' So widmet er fich denn
auch mit größtem Fleiß der Vorbereitung auf feine Vor-
lefungen. Seine ganze Zeit, so fchreibt er noch 17. XII.
1864, nehmen fie in Anfpruch, ,nur daß ich behufs der
nötigen Abwechflung etwa eine Ode des Horaz oder
eine Seite des Lucian lefe'. Der eigenen Forfchung gehörten
die Ferien. Im Briefwechfel mit Ernft tritt zugleich
Leopolds innerftes Wefen in helles Licht. Wer
den großen Hiftoriker noch gekannt hat, weiß, wie er
bei aller Freundlichkeit und entgegenkommender Anerkennung
der Verdienfte anderer fich fchwer erfchloß.
Er gab fich als die verkörperte Sachlichkeit. Bis zur
Rückfichtslofigkeit ftellte er fich ganz in den Dienft feiner
Arbeit. Im Verkehr mit feinem Bruder aber erfchließt

er fich in rückhaltslofer Offenheit. Dem taftenden Jüngling
erweift er wie väterliche Fürforge, mit dem reifen
Manne tritt er in wirkfame Arbeitsgemeinfchaft, wie
namentlich die gehaltvollen Briefe über bibelkritifche
Fragen beweifen. Wir gewinnen einen Eindruck von
feiner Arbeitsweife, von feiner ftrengen Selbftkritik, von
der Vorficht, mit der er feine Ergebniffe feftftellt. Uberall
leuchtet feine tiefe und fchlichte Frömmigkeit, in der
alle Glieder der Rankefchen Familie fich zufammenfanden,
hervor. Er ift fich auch deffen wohl bewußt, daß der
Hiftoriker, der mit dem Herzen die Bedeutung der Religion
in der Gefchichte der Völker zur Darftellung bringt,
halte er fich auch noch fo objektiv, auf voreingenommene
Beurteilung rechnen muß. Mit Bezug auf den vierten
Band der Weltgefchichte fchreibt er: ,lch bin mir meines
Erfolges nicht ganz ficher. Denn ich habe darin von
Monarchie und Religion zugleich zu handeln, wobei ich
ganz anderen als bloß literarifchen Antipathien entgegen
fehen muß' (S. 344). — Alles in allem, das Lebensbild
Ernft Rankes vervollftändigt die Gefchichte des fo reich
gefegneten Gefchlechts, es bereichert die Gelehrten-
gefchichte, es verdient ein Familienbuch zu werden, wo
immer Intereffe für die großen Fragen des inneren Lebens
lebendig ift.

S. 52, 2 v. o. 1. hyperphysica, 290, 17 v. u. t für s,
327, 4 v. u. Schlottmann.

Leipzig. G. Heinrici.

Tyrrell, George, Lex credendi. A sequel to Lex orandi.
London, Longmans, Green & Co. 1906. (XVIII, 256 p.)
8° s. 5 —

Eine Kundgebung des englifchen Reformkatholizismus
und zugleich ein kirchengefchichtliches Dokument!
Verf. galt als der befte Kopf unter den englifchen Je-
fuiten. Infonderheit fchien er im Befitz des Geheimniffes,
gebildete und mit dem kirchlichen Dogmatismus und
Mechanismus zerfallene Katholiken bei der Kirche feft-
zuhalten, bezw. mit derfelben zu verföhnen, indem er
ihnen zu höheren Gefichtspunkten für Beurteilung ihrer
Gefchichte und Würdigung ihrer Schätze verhalf. Zur
erfolgreichen Ausübung diefes Spezialberufes beanfpruchte
er eine über das fonft zuläffig befundene Maß hinausgehende
Freiheit der Auslegung biblifcher und kirchlicher
Auslagen. Eine Zeitlang hielten feine Ordensbrüder
das für zweckmäßig. So erfchienen die Werke
,Nova et vetera', ,Hard sayings', , The faith of the mil-
lions1, ,The soul's orbit' und als unmittelbarer Vorläufer
des obigen ,Lex orandi or Prayer and Creed' 1904, das
mit der Behauptung, Papft, Kirchenväter und Konzilien
feien bloß theologifche, nicht abfolute Autoritäten für
die Kirche, in reformkatholifchen Kreifen willkommene
Aufnahme fand. Dafür gehört er wohl zu denjenigen
Mitgliedern religiöfer Orden, die dem gegenwärtigen Papft
in einem im laufenden Jahr erlaffenen Hirtenbrief an
den Erzbifchof Ferrari in Mailand die Klage auspreßten,
es fei fchmerzlich, felbft unter den guten ungehorfame
Geifter zu finden. Jedenfalls mußte Tyrrell infolge einer
Denunziation aus dem Orden austreten. Um Mißver-
ftändniffe, zu welchen die Lex orandi Anlaß gegeben
hatte, zu befeitigen, veröffentlichte er jetzt die Lex credendi
. Hatte er dort das Credo unter dem Gefichtspunkt
des Gebetes betrachtet, fo behandelt er jetzt das Herrngebet
als Regel und Prüfftein reiner Lehre, da es im-
plicite alles enthalte, was das, den Bedingungen irdifcher
Zeitlichkeit unterliegende, Dogma meint und ausdrücken
will, deffen Berechtigung aber durchaus an jenem als
dem getreueften Ausdruck des Geiftes Chrifti zu meffen
fei. Glaubensfätze find nur formelhafte Zeichen für
Vorgänge, die keine Umfetzung in adäquate Begriffe
und korrekte Terminologie vertragen. Die aus ihrer
zeitlichen Naturbefchränktheit in die Zeitlofigkeit der
Welt Gottes hineinwachfen.de, zur Gemeinfchaft, ja Ein-