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Ausgabe:

1907

Spalte:

405-406

Autor/Hrsg.:

Besser, Gustav Adolf

Titel/Untertitel:

Geschichte der Frankfurter Flüchtlingsgemeinden 1554-1558 1907

Rezensent:

Foerster, Erich

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Seite 1

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Theologifche Literaturzeitung 1907 Nr. 14.

406

Beller, Guflav Adolf, Gefchichte der Frankfurter Flüchtlingsgemeinden
1554—1558. (Hallefche Abhandlungen
zur neueren Gefchichte. Herausgegeben von G. Droy-
fen. Heft 43.) Halle, M. Niemeyer 1906. (VI, 79 S.)
8° M. 2 —

Ebrard, Friedrich Clemens, Die franzöfirch-reformierte Gemeinde
in Frankfurt am Main 1554—1904. Mit 26 Abbildungen
. Frankfurt a. M., R. Ecklin 1906. (VII,
167 S.) gr. 8n M. 4 —; geb. M. 5 —

Ich befpreche die zuerft erfchiehene Schrift auch an
erfter Stelle. Beffer behandelt einen Abfchnitt aus der
Reformationsgefchichte, des näheren aus der Gefchichte
der Lehrflreitigkeiten zwifchen Lutheranern und Sakra-
mentierern. Er fchildert uns die Entftehung zweier jener
Flüchtlingsgemeinden, deren Exiftenz dem konfelfionell
einheitlichen Staate des Altproteftantismus fo fchwierige
Probleme geflellt hat. Sehr merkwürdig ift die Abgrenzung
des behandelten Zeitraums. B. endet feine Darfteilung
mit dem Sommer 1558: da fei die Entwicklung
der Fremdengemeinden zu einem Abfchluß gekommen,
freilich zu einem Abfchluß, der unmöglich endgiltig fein
konnte. Ich kann diefe Begrenzung nicht fachlich begründet
finden; m. E. hätte Beffer entweder bis 1561,
d. h. bis zur Unterdrückung des fremden Gottesdienltes,
erzählen oder vor dem Eingreifen der lutherifchen Prä-
dikanten abbrechen müffen. Die Ereigniffe, mit denen B.
feine Schilderung befchließt, find in ihrer Bedeutungüber
fchätzt: weder hat Perucelles Auftreten den Streitigkeiten
in der franzöfifchen Gemeinde ein Ende gemacht, noch
konnte der Frankfurter Rezeß die ftreitenden Parteien der
Lutheraner und Reformierten beruhigen, noch kann endlich
der Beftimmung des Rates befondere Wichtigkeit beigelegt
werden, die die Verleihung des Bürgerrechts von
der Vorzeigung eines Abfchiedsbricfes abhängig machte.
Beffers Darfteilung bricht alfo mitten im Konflikt ab.

Davon abgefehen, ift Beffers Arbeit nur zu loben.
Den Höhepunkt bildet das dritte Kapitel, worin er ausgezeichnet
erklärt, wie der Widerftand gegen die PYemd-
linge gleicherweife aus wirtfehaftlichen und politifchen,
wie aus kirchlichen Motiven erwuchs. Vermißt habe ich
dabei nur den Hinweis auf den Anftoß, den der bei
jenen übliche Akkordlohn den Einheimifchen bot. Vortrefflich
ift auch betont, daß die Ankunft Laskis und die
dadurch auf die lokalen Frankfurter Gefchehniffe gerichtete
Aufmerkfamkeit der fuhrenden Lutheraner in Deutfch-
land das Signal zum Ausbruch der Feindfeligkeiten bot.
Endlich gewinnen wir aus B.s Darftellung ein ganz einheitliches
, wohl motiviertes Bild von der Haltung des
Rates.

Ebrards Buch gibt mehr und weniger. Mehr, denn
E. will ja in feiner aus einem P"eftvortrag erwachfenen
Schilderung die Gefchichte der franzöfifchen Gemeinde
von ihrer Gründung bis zur Gegenwart erzählen; ander-
feits ftreift er nur die Vorgänge in der englifchen und
niederländifchen, foweit dies für feinen Zweck unerläßlich
ift. Ich notiere zunächft, worin E. von Beffer abweicht.
Es find ziemliche Kleinigkeiten, denn im ganzen ftimmen
beide überein. Auch E. behandelt mit großer Unparteilichkeit
die häßlichen Streitigkeiten im Schoß der franzöfifchen
Gemeinde und hütet fich vor Schönfärberei der in Betracht
kommenden Perfonen. Er korrigiert mit Recht
(S. 53) Beffers Darftellung von der Ankunft der Gefährten
Poullains in Frankfurt und vor allem deffen Cha-
rakteriftik (S. 93f.); dagegen fcheint mir in der Beurteilung
der Fürfprache Landgraf Philipps bei dem Rat (S. 87)
Befler das Richtige getroffen zu haben.

Die großen Verdienfte von E.s Buch liegen in Folgendem
: Erftens in der Aufhellung der Vorgefchichte,
'odann in der exakten und ertragreichen Unterfuchung
von Poullains, d. h. eigentlich Calvins Gemeinde- und
Gottesdienftordnung, die fehr wertvolle Einfichten eröffnet, I

drittens in der Unterfuchung der innern Zuftände der
Gemeinde nach Schließung des öffentlichen Gottesdienft.es
in der Stadt. Die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts ift
die dunkelfte in der Gefchichte der Gemeinde. Das 18.
und 19. hat E. mit Fug und Recht nur kurz behandelt. —
In einer Befprechung von E.s Buch aus der Feder des
Frankfurter Stadtarchivars Dr. R. Jung (Frankf. Ztg. Nr.
301 v. 31. Okt. 1906) ift hervorgehoben, daß E.s Darftellung
zu einfeitig kirchengefchichtlich orientiert, und daß
der Kampf zwifchen der lutherifchen Partei und den
Reformierten im Grunde ein Kampf um die Macht ge-
wefen fei. Dies mag für das 17. Jahrhundert z. T.
zutreffen; natürlich regte fich bei den wohlhabenden und
in den Welthandel verflochtenen Kaufleuten der reformierten
Gemeinden das Verlangen nach Teilnahme am
Regiment der Stadt, und die Beteiligung mehrerer von
ihnen am Fettmilchfchen Aufftand ift daher voll erklärlich
. Aber ficherlich ift der Kern des Streites im 16. Jahrhundert
nicht politifch oder wirtfehaftlich, fondern kirchlich
konfcffionell.

Endlich kann ich nicht umhin, darauf hinzuweifen,
daß von Einzelunterfuchungen, wie die beiden hier be-
fprochenen, ein helles Licht auch auf die Gefchichte der
proteftantifchen Kirchenverfaffung fällt. Ich glaube, jeder
vorurteilslofe Lefer wird auch hier wieder beftätigt finden,
daß für den Rat nicht etwa die Nachfolge in die bifchöf-
liche Jurisdiktion den Rechtsboden feines Vorgehens bildet
, fondern daß er fich dazu fchlechtweg als politifche
Obrigkeit berufen weiß. Und fo fehen auch die lutherifchen
Prädikanten die Sache an.

An Druckfehlern notiere ich bei Beffer: S. 25 Anm.
1 a Laskos; S. 27 ift die Anm. 6, auf die im Text hin-
gewiefen ift, ausgefallen; S. 60 ift Anm. 4 verftümmelt;
S. 43 Z. 13 lies Einfügung ftatt Einführung. In dem
mit künftlerifchem Feingefühl gedruckten, reich ausge-
ftatteten und mit feltenen Illuftrntionen gefchmückten
Buch von Ebrard habe ich keine Druckfehler bemerkt.
Frankfurt am Main. E. Foerfter.

S chumann, Pfr. Dr. Alexis, Alexander Vinet. Sein Leben. —
Seine Gedankenwelt. — Seine Bedeutung. Mit einer
Abbildung. Leipzig, J. C. Hinrichs'fche Buchhandlung
1907. (V, 215 S.) 8° M. 2—; geb. M. 3 —

Die vorliegende Schrift Schumanns ift die erfte,
ausführliche Biographie, die in deutfeher Sprache über
den tieffrommen, feinfinnigen und geiftesmächtigen Begründer
der waadtländifchen Freikirche Alexander Rudolf
Vinet (1797—1847) erfchienen ift; deffen ungeachtet
aber erfüllt fie ihren Zweck, weitere Kreife des gebildeten,
deutfehen Volkes mit dem hohen Idealismus, den kühnen
Gedankengängen und der fchlichten FYömmigkeit des
großen, fchweizerifchen Theologen bekannt zu machen,
in geradezu vorbildlicher Weife. Sie ift in allen drei
Kapiteln (Die Urfprünge und Anfänge; In Bafel; In Laufanne
) gleich klar, anfehaulich und feffelnd geichrieben
und zeugt auf jeder Seite von der gründlichen Kenntnis
und der innigen Freude des Verfaffers an dem Gegen-
ftande feiner Darfteilung. Der Hauptvorzug des kleinen
Werkes aber darf wohl darin gefunden werden, daß in
ihm tatfächlich etwas von dem warmen Hauche der
edeln, chriftlichen Perfönlichkeit Vinets zu fpüren ift,
die auf ihre ganze, nähere und fernere Umgebung einen
fo unvergleichlich tiefen Eindruck gemacht hat. Das
Buch verdient einen weiten Leferkreis, und das lebhafte
Intereffe, das heute die Frage der Trennung von Kirche
und Staat allenthalben bei vielen ernften Chriften findet,
dürfte dazu mithelfen, ihm einen folchen zu verfchaffen.
Denn Vinet ift zu einer Zeit, wo diefe Frage außerhalb
feines engeren Vaterlandes nur fehr wenige befchäftigte,
für die Befreiung der Kirche von dem Staatsfchutz und
der Staatsbevormundung unentwegt eingetreten und hat