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Ausgabe:

1907 Nr. 14

Spalte:

401-403

Autor/Hrsg.:

Scott, Ernest F.

Titel/Untertitel:

The fourth Gospel. Its purpose and theology 1907

Rezensent:

Holtzmann, Heinrich Julius

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4-OI

Theologifche Literaturzeitung 1907 Nr. 14.

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ahmungen und Konformationen hat, wie Blaß
felbft zugeftehen muß (nur läßt er dann in der Regel,
aber keineswegs immer, die LA von D für ß nicht gelten),
aber leider längft nicht überall erkannt hat.

Die ganze Unterfuchung endet alfo ganz anders als
Blaß wollte; dazu aber nehme man nun noch die Gegenrechnung
hinzu, nämlich alle die Stellen in diefen Kapp.,
in denen ß eigentümliche LLAA enthält, die Blaß übergehen
mußte, weil er in ihnen nichts fpezififch Lukani-
fches gefunden hat. In ihnen ift der fekundäre Charakter
der ß Rezenfion natürlich noch viel fchärfer ausgeprägt,
fo daß das Ergebnis ein zweifellofes iß. Ich fpreche es
ohne etwas Neues zu fagen, in folgenden Worten aus:
Soweit fich aus den bunten LLAA und den zahl-
lofen Fehlern in D und feinen Trabanten ein einheitlicher
Editionstypus als im Hintergrund liegend
ermitteln läßt — und er läßt fich feßßellen
—, zeigt dcrfelbe einen verdeutlichenden, ausmalenden
, Eindrücke verßärkenden, Schwierigkeiten
befeitigenden, nicht feiten aber daneben
greifenden, weniger grammatifch als ßilißifch
intereffierten und nicht ganz unkundigen Editor,
der, wo er ,Lukanifches' in feinen Zufätzen bringt,
fich feinem Originale konformiert hat. Daß er
mit Lukas identifch iß, ißnichtnur unerweislich,
fondern ausgefchloffen, mag er auch ein paar Mal
den echten Text allein bewahrt haben.

Ich bedaure es lebhaft, daß Blaß durch feine Abhandlung
die Methode diskreditiert hat, die ich bei dem
Nachweife der Identität des Verfaffers der Wirberichte
und des ganzen Werkes angewendet habe. Aber jeder,
der nicht nur oberflächlich prüft, muß, wenn er unfre
Unterfuchungen vergleicht, einfehen, daß in a das Gewebe
in jed er Hin ficht ein einheitliches iß und den Gedanken
an Nachahmung nicht aufkommen läßt, in dem Sondergut
von ß dagegen auf mehr als hunderten eingeflickten
Lappen einiges Lukanifche eingeflickt iß, um den Schein
der Einheit nicht zu zerflören.

Berlin. A. Harnack.

J ackson, Vic. Henry Latimer, B. D., The fourth Gospel and
some recent German Criticism. Cambridge, University
Press 1906. (XIV, 247 p.) 8° s. 3.6

Scott, Ernest F., M. A., B. A., The fourth Gospel. Its pur-
pose and theology. Edinburgh, T. & T. Clark 1906.
(IX, 379 p.) 8« s- 6-

Zwei höchfl erfreuliche Anzeichen des wachfenden
Intereffes und Verßändniffes, das man jenfeits des Kanals
der deutfehen Forfchung auch auf Punkten entgegenbringt
, wo die traditionelle Theologie aus wohl verßänd-
Hchen Gründen fich am empfindlichßen zeigt. Zugleich find
beides wirklich gelehrte Leißungen fachkundiger Männer,
ohne Zweifel die bedeutendßen in diefes Gebiet einfchla-
genden Erfcheinungen, welche der Büchermarkt der letzten
Jahre geboten hat.

Der Verf. des erßgenannten, kleineren Buches iß Vicar
°f St. Marys with St. Benedicts in Huntingdon, aber
wohl bekannt mit deutfehen Vcrhältniffen und namentlich
mit deutfehen Theologen (vgl. S. VII Deutfchland
>second home'). Kann man auch nicht gerade fagen, daß
feine Schrift ein neues und durchfchlagendes Moment zur
Erledigung der johanneifchen Frage bringe, fo bleibt ihr
doch ein nicht gering anzufchlagendes Verdienß um
Elarßellung der gegenwärtigen Sachlage. Sie fleht bei
aller Neigung zu konfervativen Auffaffungen doch faß.
unübertroffen da in unbefangener, vor allem aber auch fachkundiger
und wefentlich vollßändiger Würdigung der für
und wider apoflolifche Abfaffung und gefchichtlichen
Wert fprechenden Gründe. Diefe werden der Reihe nach
aufgeführt, durchgefprochen und gewertet. Als Repräfen-
tanten entgegengefetzter Auffaffungen erfcheinen gewöhnlich
die Schweizer Barth und Wernle. Bezeichnend für
das Streben nach Unparteilichkeit iß beifpeilsweife der
Umßand, daß in Sachen der Tempelreinigung die Synoptiker
, in Sachen des Todestages der vierte Evangelift
Recht behalten. Die äußeren Zeugniffe bringen es zu
keiner Entfcheidung. Die Erwägung der inneren fuhrer.
zu dem Refultat, daß in dem 1935 fich anmeldenden
A ugenzeugen der Lieblingsjünger und wahrfcheinlich auch
Verfaffer des ganzen Evangeliums zu erkennen fei; und
zwar trotzdem daß er die Worte Jefu in durchaus fub-
jektiver Auffaffung und Formulierung wiedergibt (S. 142 f.
184h 227). Aber der Zebedaide iß doch er fchwerlicfi
gewefen, foll dagegen, wenigßens möglicher Weife, neben
diefem in Ephefus noch Raum finden (S. 211 f.). Den
neueßen Angriff Wellhaufens auf die Integrität des Evangeliums
kennt der Verf. noch nicht. Aber an 1431, woran
jener erßen Anlaß nahm, flößt er fich doch gleichfalls
(5. 25). Abgefehen natürlich von 753—811 foll das Ganze,
mit Einfchluß von Kap. 21, eine unteilbare Einheit bilden.
Das Verhältnis zu den Synoptikern wird fchließlich auf
die Formel gebracht, daß hier das Menfchliche, dort das
Göttliche anjefus hervortrete, was freilich das Vorhandenfein
von Verbindungsfäden weder auf der einen, noch
auf der andern Seite ausfchließt (S. 161 f. 185). Ift auch
ein dauerndes Verbleiben auf einem Standpunkt, der faß:
dem Begriff des labilen Gleichgewichts entfpricht, fchwer-
lich möglich, fo verdient doch die Leißung des Verf.s
alle Anerkennung, fofern fie befonders für die englifche
Theologie einen foliden Ausgangspunkt für eine traditionsfreie
, gut orientierte und fruchtbare Diskuffion der
johanneifchen Frage bietet und in die diesfeits des Kanals
ßatthabende Behandlung derfelben einzuführen trefflich
geeignet ift.

Einen Schritt weiter geht die zweite Schrift, die gleich
in der Vorrede ihren Standpunkt ,by Continental scholars'
nimmt. Klar und durchfichtig, im Verhältnis zu dem
kleineren Werk allerdings etwas breit und wiederholungsreich
gefchrieben, verteilt fie den zu bewältigenden Stoff
auf 12 Punkte: Charakter und Tendenz, Quellen und Be-
einfluflungen, polemifche Richtung, kirchliche Richtung,
Logoslehre, Chriftus als Sohn Gottes, fein Werk, Leben,
Lebensmitteilung, Wiederkunft, heiliger Geiß, zufammen-
faffender Schluß. Es ift die vollftändigfte Darßellung der
johanneifchen Theologie, die das neue Jahrhundert auf-
zuweifen hat. Die Richtung, in der fie geht, kann ich
kurz bezeichnen, wenn ich faß. auf allen Punkten Über-
cinftimmung mit dem 3. Kapitel des 2. Bandes meines
Lehrbuches konßatiere. Das will nicht etwa im Sinne
der Abhängigkeit verßanden werden. Aber eingehendes
Studium der neueren, zumal der deutfehen Theologie
verrät das Buch faß auf jeder Seite, wenn der Verf. auch
nur ganz ausnahmsweife Namen nennt (S. 31 f. Wendt,
S. 85 f. Baldenfperger, S. 133 Purchas, S. 155 Harnack).
Als charakterißifcher Grundzug der Auffaffung fei hervorgehoben
die Stellung des im Verlauf dererften 20
Jahre des 2. Jahrhunderts entftandenen Evangeliums auf
der Übergangsfchwelle von dem feine jüdifche Geburt bekennenden
Urchrißentum zur Anfiedelung der jungen
Religion auf dem erweiterten Gebiet der griechifchen
Kulturwelt, wo überall neue Bedürfniffe befriedigt fein
wollten, wenn der Chriftusgedanke verßändlich werden
follte (S. 4f. i20f. I39f. 302 353f. 367E). So deutlich und
erfolgreich der Evangelift diefen durchweg gerecht zu
werden weiß, fo entfchloffen zeigt er fich andererfeits
auch wieder, den gefchichtlichen Zufammenhang mit dem
chrißlichen Urdatum zu wahren, fo daß nicht etwa von
widerwillig gemachten Konzeffionen zu reden ift (S. 10),
wenn allenthalben Beftandteile des alten engeren Bildes
in das größer umriffene neue hineinragen. Viel mehr
noch als das matthäifche ift daher das johanneifche das
Evangelium der Widerfprüche, der Antinomien, der Dop-
pelfcitigkeit, und wir müßten die Perfönlichkeit des merkwürdiger
Weife unbekannt gebliebenen Evangeliften