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Ausgabe:

1907

Spalte:

18-20

Autor/Hrsg.:

Hitzig, Etta

Titel/Untertitel:

D. Ernst Constantin Ranke, Professor der Theologie zu Marburg. Ein Lebensbild, gezeichnet von seiner Tochter 1907

Rezensent:

Heinrici, Carl Friedrich Georg

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y Theologifche Literaturzeitung 1907 Nr. 1. 18

Stellung in der modernen Erkenntnistheorie errungen
hat, gibt in diefem neuen Werk eine Erkenntnistheorie,
die hauptfächlich in der Auseinanderfetzung mit Kant
entwickelt wird. Das Verhältnis desfelben zu der früheren
Arbeit und zugleich den gefamten Standpunkt beleuchtet
eine Bemerkung des Vorworts: ,Es hat lange gedauert,
bis ich erkannte, daß fich die Wahrnehmungsfrage nicht
nach der pfychologifchen Methode, fondern nur nach
der transzendentalen Methode Kants löfen läßt. Hier gebe
ich diefe Löfung'. Die Abficht des Verf. geht dahin, an die
Stelle der alten Metaphyfik, der Wiffenfchaft von den letzten
Gründen des Seienden eine,neue Metaphyfik' zu fetzen,
die eine .Wiffenfchaft von den Möglichkeitsbedingungen
unferer Erkenntnis, ihrer Objektivität und Allgemeingil-
tigkeit fein foll' (S. 11 f.).

Die Ausführung im einzelnen knüpft hauptfächlich
an Kants Inauguraldiffertation von 1770 an. In diefer
Schrift unterfcheidet Kant bereits fcharf zwifchen finnlicher
und Verftandeserkenntnis, Hellt fich aber noch auf
den Standpunkt, daß jene die Dinge erkennt, wie fie
erfcheinen, diefe, wie fie find, daß alfo eine Erkenntnis
der Dinge an fich durch den Verftand möglich ift.
Der Verf. beflreitet diefe Unterfcheidung der finnlichen
und der Verftandeserkenntnis. Denn alles Erkennen, fofern
es für uns faßbar und uns zugänglich ift, vollzieht fich in
Urteilen, und muß deshalb nach der Kantifchen Ausdrucksweife
als Verftandeserkenntnis betrachtet werden
(S. 22.86). Was die Dinge an fich betrifft, fo hat ihnen Kant in
der transzendentalen Äfthetik Exiftenz beigelegt und fie
für Urfachen der Empfindungen erklärt, aber beides ohne
Beweis und im Widerfpruch mit der transzendentalen Analytik
, in der die Anwendung der Kategorien Exiftenz und
Urfächlichkeit aufdieWeltderErfcheinungen eingefchränkt
wird. Falls, wie behauptet wird, diefe Begriffe in der transzendentalen
Äfthetik nicht im Sinne der Kategorien
gebraucht werden follten, fo hätte es einer ausführlichen
und gründlichen Auseinanderfetzung bedurft, die bei Kant
fehlt (S. 88 f.).

Der Verf. Hellt fich in diefer Frage auf die Seite
Piatons. Beide, Piaton und Kant, fragen nach den Möglichkeitsbedingungen
einer wirklichen d. h. allgemein
oder für alle Denkenden giltigen, in diefem Sinne objektiven
Erkenntnis. Aber Piaton findet diefe Möglichkeitsbedingungen
in der Annahme einer wirklichen Welt
unveränderlichen und beharrlichen Seins, der Idee,
während nach Kant die Piatons Ideen in vieler Hinficht
entfprechenden Noumena bloß notwendige Gedanken
find, denen eine Realität zuzufchreiben wir wiffenfchaftlich
in keiner Weife berechtigt find. Wir vermögen jene
Welt der wahren Wirklichkeit zuerkennen. Denn
durch die Erfcheinungswelt treten wir nicht mit den
bloßen Abbildern der Dinge, fondern mit den Dingen
an fich felbft in Verbindung. Die erftere Annahme führt
zu dem falfchen Erkenntnisbegriff, der alle Erkenntnis
auf Vorftellungen einfchränkt, die nur fich felbft und
nicht etwas von ihnen verfchiedenes vorftellen (S. 207 f.).
In jeder Wahrnehmung ift ein Etwas, das von diefer
felbft verfchieden und von unferm Vorftellen unabhängig
ift. Wie ift aber eine Verbindung der Erfcheinungswelt
mit diefen Dingen an fich felbft möglich, wie können
wir durch die Erfcheinungen, die unfere Vorftellungen
find, die Dinge an fich felbft erkennen? ,Nur darum,
weil die Dinge an fich Gedanken des über ihnen flehenden
Dritten oder Gottes find, von ihm vorher gedacht und
von uns nachgedacht werden. Ihre gedankliche Natur
fichert ihnen die Denkbarkeit; daß die Gedanken nicht
unteres fondern des allumfaffenden göttlichen Bewußtfeins
find, verleiht ihnen ihre Unabhängigkeit von uns, ihre
Objektivität und damit ihre Allgemeingiltigkeit für alle
Denkenden' (S. 208). Darauf führen auch die Gefetze des
Raumes und der Zeit, welche dem Nebeneinander des
anfchaulichen Raumes und dem Nacheinander der an-
fchaulichen Zeit zugrunde liegen, die Gefetze der Subftan-

tialität und Kaufalität, der beharrlichen Diefelbheit und des
hinreichenden Grundes fowie die Einheit des Bewußtfeins.
Die überzeitliche Geltung aller diefer Beziehungen, wie fie
allem in den Tatfachenurteilen gemeinten eignet, trotzdem
diefes in ihnen gemeinte ebenfo wie fie felbft in
die Zeit fällt, kann nur in einem Dritten, in dem über
allen Beziehungen flehenden allumfaffenden Unendlichen
ihren Grund haben (S. 255 f.). Ebenfo ift Gott die Möglichkeitsbedingung
allgemeingiltiger Willenswerte und
der allgemeingiltigen Beurteilung nach Zwecken, in denen
die Stellung der Dinge in der Gefamtwirklichkeit fich
ausprägt.

Einer der letzten Abfchnitte befchäftigt fich mit
der .Religion innerhalb der bloßen Vernunft' und gelangt
zu dem Ergebnis, daß zur Überwindung des .radikalen
Böfen' der Glaube an den vollkommenen Menfchen d.h.
an den endgiltigen Sieg der Sittlichkeit in der Menfchheit,
auf den fich Kant beruft, nicht ausreicht. Es gilt vielmehr
auch hier das Wort Spinozas: .Affekte können nur
durch Affekte überwunden werden'. Der Affekt, durch
den alle anderen Affekte, aus denen fich unfer Hang zum
Böfen zufammenfetzt, wenn auch nie völlig beft itigt
werden, fo doch unterdrückt und unterbunden und in
diefem Sinne überwunden werden können, ift die rück-
haltlofe Hingabe an Gott, der die Sittlichkeit felbft ift,
wie fie als Erwiderung der in der Schöpfung fich darfteilenden
felbftlofen Liebe Gottes erwächft (S. 307 ff.).

Das gedankenreiche Werk, von deffen Inhalt hier
nur einige Hauptpunkte wiedergegeben werden konnten,
liegt völlig in der Linie einer Renaiffance der Metaphyfik
, der wir nach der Meinung vieler entgegengehen
. Es knüpft auch vielfach mit Glück an fchwache
Punkte des Kantifchen Syftems an, um die Notwendigkeit
einer .neuen Metaphyfik' daran einleuchtend zu
machen. Weniger überzeugend wirkt die Ablehnung
des Unterfchiedes einer finnlichen und einer geiftigen
Erkenntnis, durch welche die Kantifche Raum- und Zeit-
anfchauung in .Begriffe' (S. 117) verwandelt werden, und
die Widerlegung der Kantifchen Kritik einer über die
Erfahrung hinausgehenden Erkenntnis. Die ,neue Metaphyfik
' muß fich wohl zweier Dinge ftärker bewußt
bleiben, als es hier gefchieht, des hypothetifchen
Charakters ihrer Annahmen und des unvermeidlichen
Anthropomorphismus jeder wirklichen Gottesidee.

Heidelberg. Th. Elfenhans.

Hitzig, Etta, D. Ernft Conftantin Ranke, Profeffor der
Theologie zu Marburg. Ein Lebensbild, gezeichnet
von feiner Tochter. Mit einem Bildnis vom Jahre 1886.
Leipzig, Duncker & Humblot 1906. (IV, 363 S.) gr. 8°

M. 6 —

Es ift nicht bloß ein Denkmal pietätvoller Kindesliebe
, fondern ein wertvoller Beitrag zur Gefchichte des
wiffenfchaftlichen und kirchlichen Lebens, den wir der
Verfafferin danken. Sie kennzeichnet das Werk treffend:
,So wenig darin von großen wiffenfchaftlichen Taten
und Erfolgen die Rede ift, ebenfowenig handelt es fich
um bewegte äußere Erlebniffe, die den Lefer in Spannung
zu fetzen vermöchten. Aber es fpiegelt fich darin wieder
das innerliche Leben eines deutfchen Gelehrten und
Univerfitätslehrers, das von innigfter Frömmigkeit, Vaterlandsliebe
und Poefie durchleuchtet ein wahrhaft glückliches
gewefen ift'. Ja, die Kunft, glücklich zu fein in
treuer Arbeit, jede Arbeit, ja jeden Eindruck zu einem
bereichernden Erlebnis ausreifen zu laffen, das Üble
durch Gutes zu überwinden — wie fie Ernft Ranke fich
angeeignet und ausgeübt hat, davon gibt diefes Buch
ein erfrifchendes Zeugnis. Wie weit entfernt ift diefer
Gelehrte von der Unruhe des modernen, nur zu oft auch
fenfationellen und impreffioniftifchen Genoffenfchafts-
und Großbetriebes in der Wiffenfchaft, der zu ftiller, liebe-