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Ausgabe:

1907 Nr. 12

Spalte:

356-358

Autor/Hrsg.:

Preuß, Hans

Titel/Untertitel:

Die Vorstellungen vom Antichrist im späteren Mittelalter, bei Luther und in der konfessionellen Polemik. Ein Beitrag zur Theologie Luthers und zur Geschichte der christlichen Frömmigkeit 1907

Rezensent:

Köhler, Walther

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Theologifche Literaturzeitung 1907 Nr. 12.

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der Grundgedanke neu, noch die Detailausführung überall
fehr befriedigend ift. Es handelt fich um die Verwertung
von Rom. 1 is—320 für die Erkenntnis der Miffionspredigt
des Paulus in ihrem erflen propädeutifchen Teil. Der
Verfaffer befchränkt fich auf möglichft genaue Ermittlung
des Textzufammenhangs und Bewältigung der gerade
in diefem Abfchnitt fehr zahlreichen exegetifchen Probleme
durch reichliche Heranziehung der Miffionserfah-
rung und des Miffionsmilieus, während er den Anknüpfungen
an die jüdifche Apologetik und die monotheiftifch
geftimmte Popularphilofophie nicht ebenfoviel Intereffe
widmet der Originalität und Überlegenheit des Paulus zuliebe
. Notwendig ift das nicht; die Originalität des
Paulus bleibt zu Recht beftehen, auch wenn er in reichem
Maß apologetifche Begriffe und Gedankenreihen herangezogen
hat, da fein Zentralgedanke, die bloß negative

fpruch mit dem ganzen glücklichen Hauptgedanken
Webers — plötzlich der Chrift fein, der ,in einem Glaubensgericht
das Urteil Gottes über feine Sünde erfährt und
fich als zornverfallener Sünder bekennen muß'. Das
führt dann zu unendlich tieffinnigen, aber textlich rein in
der Luft flehenden Erörterungen über die Tatfache diefes
Glaubensgerichtes, und von da aus wird fogar 2 ig auf
das gegenwärtige (xqivei ftatt xgivel) Glaubensgericht der
Bekehrung bezogen. Der Fehler beruht darauf, daß
fälfchlich in v. 7 ein dem Vorausgehenden gegenüber
neuer Gedanke gefucht wurde, während Paulus doch nur
den genauen Gedankengehalt von v. 5 lebendiger, fchla-
gender, perfönlicher wiederholen wollte, der Einzeljude
{xctycb) wie vorher das Judenvolk (rjucöv), aus demfelben
Streben nach Verdeutlichung fchwerer Gedanken, das
ihn überaus häufig zwei und dreimal einen Gedanken

Zweckleitung diefer Apologetik, auf alle Fälle ihm eigen j formulieren läßt,

ift. So erfährt man bei Weber über die Entftehung der ; Hafel Paul Wer nie.

fo wichtigen theologia naturalis mit ihrer naturhaften und j

moralifchen Wurzel nichts, wenigftens nichts Klärendes, _ _ T. _ „ ■»•„,. .. ■ *• u in ■_

während wir dagegen S. 87 eine Begriffsbeftimmung des Preuß> L,c- Dr- Hans' Die Vorftellungen vom Ant.chr.ft im

vovg zu lefen bekommen: Das ,Bewußtfein, worin man [ fpäteren Mittelalter, bei Luther und in der konfeHionellen

paffend die doppelte Seite des vovg zufammenfaßt, ift 1 Polemik. Ein Beitrag zur Theologie Luthers und

praktifch nur, fofern fein Inhalt irgendwie, direkt oder
indirekt, nicht nur formell, fondern materiell, auf das
Ich, d. i. das einheitliche Subjekt des ganzen zugleich
rezeptiven und fpontanen Geifteslebens bezogen ift, oder

Gefchichte der chriftlichen Frömmigkeit. Mit fünf Tafelbildern
. Leipzig, J. C. Hinrichs'fche Buchhandlung
1906. (X, 295 S.) gr. 8° M. 8—; geb. M. 9 —

fofern es Organ der im Selbftbewußtfein fich erfaffenden j Das vorliegende Buch führt in erwünfchter Weife

Perfönlichkeit, Organ des bewußt-perfönlichen Lebens ift',
eine Erklärung, die nur zeigt, wie weit ab vom hiftorifchen
Denken wir uns hier befinden.

Die Stärke der Schrift liegt auf dem Gebiet der
Exegefe, fpeziell des Textzufammenhangs. Je größer
im allgemeinen gegenwärtig die Neigung ift, geftützt auf

die Arbeiten von Bouffet und Wadftein weiter. Preuß
fucht vom Antichriftbilde des Mittelalters die Anfchauung
Luthers fich abheben zu laffen, um dann die Wirkung
der Reformation auf die Folgezeit bis zur Gegenwart
aufzuzeigen, fodaß alfo ,im örtlichen und geiftigen Mittelpunkte
diefes Antichriftbuches Martin Luther fleht' (f. Vor-

religionsgefchichtliche Zufarnmenhänge alles Mögliche 1 wort). — In der Antichriftologie des Mittelalters unter-
und Unmögliche, nur nicht das Nächftliegende, aus ein- fcheidet Pr. die kirchlich-volkstümliche Anfchauung und
zelnen herausgegriffenen Briefftellen herauszulefen, defto | oppofitionelle Richtungen. Jene wird an der Scholaftik,
dankbarer find folche kleinen exakten Detailunterfuchungen 1 der Erbauungsliteratur und Kunft klar gemacht. Es er-
zu begrüßen, die fich lediglich darum bemühen, jeden j gibt fich eine phantaftifche Antichriftbiographie, hie und
Gedanken im Zufammenhang des Vorausgehenden und 1 da wird dem Antichrift ein ihn warnender Schutzengel
Folgenden zu verftehn. Befonders Webers Ausführungen j beigegeben, ein einfach menfchgewordener Teufel ift er
zu dem fcheinbar abrupten Übergang von Rom. I 32 zu 21 1 nicht, vielmehr ein Hurenkind, bei deffen Empfängnis
und der Frage nach dem angeredeten Subjekt: Jude j der Teufel beteiligt ift, aus dem Stamme Dan. Durch
oder Heide? find auf alle Falle beachtenswert. Der I zahllofe Mittel verführt er die Welt, durch Betrug wie
Verfaffer will von dem Auftreten eines neuen Subjekts, I Gewalt, ein glühender Ofen begleitet ihn, 1 */2 Jahre lang

des Juden, in 21 nichts wiffen, wie in der Tat nicht das
Leifefte davon angedeutet ift. Er betont nachdrücklich,
daß der auffallende Widerfpruch des övvevöoxelv 1 32 und

dauert fein Regiment. Als Vorläufer gehen ihm die
figurae antichristi (Antiochus, Herodes, Pilatus u. a.) vorauf
. In der Kunft hat fich in den Antichriftfpielen der

xglvsiv 21, der die Annahme eines folchen Wechfels der Volksglaube niedergefchlagen, dann in bildlichen Dar-

Perfonen veranlaßt hat, in Wahrheit fich innerhalb des Heilungen. (Zu vergleichen ift hier jetzt das etwa gleich-

Verfes 132 felbft vorfinde, nämlich zwifchen dem sstt- zeitig mit dem Pr.fchen Buche erfchienene Werk von K.

yvovrsq, on 01 xa roiavza jrnctöOovzsg a§ioi davarov etöiv Reiiche: Die deutfchen Weltgerichtsfpiele des Mittel-

und jenem Ovvevöoxovoiv, und daß eben diefer Wider- j alters und der Reformationszeit.) Die oppofitionellen

fpruch von Paulus hervorgehoben werden foll. Man Richtungen präzifieren in Weiterführung der figurae anti-

kann diefes entfcheidende Argument verftärken durch j christi den Äntichriften auf eine beftimmte Perfon. Die

den Hinweis auf 2 3, das den Wortlaut des Widerfpruchs kaiferliche und päpftliche Partei feit den Tagen Fried-

innerhalb 1 32 einfach wiederholt und bloß lutLyvbvxtq richs II beehren fich gegenfeitig mit dem Prädikate Anti-

durch xq'ivcov umfetzt, und ferner durch die Erinnerung, | chrift, die Spiritualen des Minoritenordens, die Joachimiten,

daß das fpezififch jüdifche Richten den vofioq zur Vor- ' Huffiten (ftark den unfittlichen Charakter der Päpfte

ausfetzung hat, von dem abfichtlich weder 132 noch 2 iff. j als Kennzeichen des Antichriftentums betonend) u. a.

die Rede ift. Letztlich hat überhaupt nur unfere Kapitel- | gehören hierher. Auch hier fehlt der Niederfchlag in der

abteilung die Hypothefe des Juden' möglich gemacht, ( bildenden Kunft nicht: die Paffionale z. B. bezeugen ihn.

welche ohne diefelbe fchwerlich folchen Beifalls fich er- ; (In einem ,Zufatze' [S. 71 ff.] lehnt Pr. — mit Recht — die

freute.

Mit diefen m. E. vorzüglichen Ausführungen Webers
kontraftiert dagegen die z. T. ganz ungeheuerliche Exegefe
des allerdings als dornig bekannten Paffus 3 1-8. Die
xtvtq v. 3 follen ganz Israel fein, da der Blick Gottes
bei feinen Heilsabfichten über alle menfchlichen Unter-
fchiede erhaben ift, und darum fich die ungetreuen Offen-
barungsträger eben nur als xiveq darftellen; vgl. dagegen
die fchöne Erklärung diefes xivlq bei Jülicher (Schriften
des N. T.'s). Der xctycb v. 7 foll — im Grund im WiderAbhängigkeit
des bekannten Cranachfchen Paffionais von
dem unter dem Titel Zrcadlo gehenden Bilderbuche ab.)
Hie und da wird auch Muhammed als der Antichrift bezeichnet
.

Bei Luther, deffen Antichriftvorftellungen Pr. gene-
tifch (S. 91 ff.) entwickelt, ift das Entfcheidende ein Dreifaches
: I. er ift nicht eine individuelle Perfon, fondern
die ,letzte große unüberbietbare Steigerung des chriftus-
feindlichen Zuftandes der Kirche', 2. und zwar (feit + 1519)
die durch die ganze Gefchichte fich fortpflanzende In-