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Ausgabe:

1907 Nr. 11

Spalte:

340

Autor/Hrsg.:

Schulze, Alfred

Titel/Untertitel:

Das Gelübde in der neueren theologischen Ethik 1907

Rezensent:

Niebergall, Friedrich

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339

Theologifche Literaturzeitung 1907 Nr. II.

340

dargeftellt, was ihm fein fcharfer Blick für fein eigenes
Leben und das Anderer gezeigt hat. Fünf Hemmungen
des perfönlichen Lebens befpricht er: die Trauer — fie hat
keinen Lebenswert, mag fie auch der eigenen Schuld
und den liebften Verftorbenen gelten, denn fie drückt in
das paffivifche Dafein herab, befonders in der F"orm des
Totenkultus, über den M. fehr harte, aber durchaus
richtige Worte fagt; die Furcht — diefe Unruhe vor
drohendem Übel lähmt die Kraft perfönlicher Reaktion
und durchfetzt alles mit Lüge; die Sorge — diefes
Grübeln über das, was man nicht in der Hand hat, macht
fahrig und unwahr, fie ift die Nervofität des perfönlichen
Lebens; die Unficherheit — diefer Mangel an Vollmacht
des geifligen Lebens ift ein Beweis, daß etwas
faul im Leben ift, und bringt in unwürdige Abhängigkeit
hinein; der Zweifel — wohltätig als Sprengftoff für er-
itarrte Erkenntnis, zerftört er als Mode und Manier die
Grundlagen des eigenen Lebens fowie den Verkehr mit
dem Nächften und Gott.

Diefer ganz vorzüglichen Diagnofe ift dann jedesmal
die Therapie angehängt: fie befteht in der Zuwendung
zu Jefus. Er verkündigt nicht nur, fondern er erweckt
auch die Freude als das Lebenselement der Seele, er
macht von allen Verhältniffen unabhängig, die einen
fürchten machen laffen, indem er aus allen Gefchicken
Lebenswerte herausholen hilft, er befreit von dem Kleinglauben
, indem er fein großes Zentralintereffe in die Seele
einführt. Ferner gilt es, die Urfachen der Unficherheit i
und des Zweifels wegzufchaffen, indem man zur Wahrheit
des Lebens und zur Unmittelbarkeit des Empfindens
zurückkehrt, die einen jeden die Wirklichkeit erleben
laffen. —

Man fieht aus diefer Inhaltsangabe, wie reiche Verwendung
der Theologe im Amt von diefer Schrift machen
kann. Abgefehen davon, daß fie den ganzen Joh. Müller
in der glücklichen Verbindung von großen religiöfen Gedanken
mit feelifchem Kleinleben zeigt, fo kann er unmittelbar
durch die dargebotenen Gedanken felbft und
mittelbar durch die Erweckung von Verftändnis und In-
tereffe für die Fragen des inneren Lebens die Amtsführung
nach jeder Seite hin bereichern helfen. So geht es in
den Menfchen zu, denen wir zu predigen und feelforger-
lich zu dienen haben. Darauf muß man fein Wort in
beiden Fällen einftellen, ftatt auf ein dogmatifch kon-
ftruiertes Phantom loszugehen. Beidemal gilt es nicht
Worte zu machen, fondern wirklich zu helfen. Wer fo
predigt, bekommt fofort den Kontakt mit feinen Zuhörern,
denn an folchen Dingen leiden fie alle. Wenn es darauf
ankommt, die Befchaffenheit des Objektes überhaupt und
zumal feine unter der Oberfläche verborgenen Tiefen für
die Praxis und Theorie der Predigt und Seelforge mehr
heranzuziehen als es die übliche Gottes-Wort-Predigt tut,
dann wollen wir M. für diefe Blicke und Wege in das
Innere der wirklichen Menfchen, wie fie uns aufzufuchen
pflegen und ficher nötig haben, herzlich dankbar fein.

Heidelberg. Niebergall.

Kattenbulch, Geh. Kirchenrat Prof. D. Ferd., Das tittliche
Recht des Krieges. Gießen, A. Töpelmann 1906. (43 S.)
8» M. —60

Seinen in der Chriftlichen Welt (1906 Nr. 22—24)
abgedruckten Vortrag hat K. nun einem weiteren Kreife
zugänglich gemacht. Das kann man nur dankbar begrüßen
. Denn er vertritt in ihm einen klaren und be-
ftimmten Standpunkt, der ein Weiterarbeiten an diefem
fchweren und umfaffenden Problem möglich macht. Indem
er ausgeht von der Schrift eines Dr. Wetzel, der
der Militärbehörde feine Weigerung ausgefprochen hatte,
fleh als Soldat ausbilden zu laffen, ftellt K. gleich die
Frage nach dem Recht eines gerechten Krieges, der
nur als letztes Mittel zu verteidigen fei, lehnt Hegels
Anficht von der begrifflichen Notwendigkeit des Krieges

fowie die Meinung von der unbedingten Verwerflichkeit
körperlicher Befchädigung ab. Dann erweitert er fein
Problem zur Frage nach dem Recht der Nation überhaupt
, befpricht das Gebot der Nächften- und der Feindesliebe
, um den Krieg als eine Form fittlicher Feindesliebe
zu begreifen, die den fittlich gefährdeten Feind zur
Befinnung zu rufen habe. — Mir will diefe Auskunft nicht
natürlich und ungezwungen genug erfcheinen; fruchtbarer
und wirklichkeitsgemäßer wäre es wohl gewefen, wenn
K. noch mehr dem Problem nachgegangen wäre, das in
der Frage nach dem Recht der natürlichen Lebensordnungen
überhaupt und dem der Nation im befonderen
liegt. Das Gebot der chriftlichen Nächftenliebe und das
Recht der lex naturae auf Selbfterhaltung mit einander
auszugleichen — das ift die Aufgabe, auf die K.s Schrift
hinweift. Einige Bemerkungen dazu hat er in dem wertvollen
Anhang gegeben, der eine Überficht über alte
und neue Literatur zu der Frage enthält.

Heidelberg. Niebergall.

Schulze, Palt. Lic. Alfred, Das Gelübde in der neueren
theologifchen Ethik. Gütersloh, C. Bertelsmann 1906.
(71 S.) gr. 8° M. —80

Das ift eine in methodifcher Hinficht mufterhafte
Unterfuchung einer praktifchen Frage aus der Ethik.
Zuerft hört Sch. alle Ethiker von Schleiermacher bis
Kirn über diefen Punkt ab und bezeichnet (S. 40) als
Ergebnis, daß fie alle mit einander, mit Ausnahme von
Daab (Die Zuläffigkeit der Gelübde ufw.) ohne den
Verfuch einer grundfätzlichen Löfung und in rtarker Abhängigkeit
unter einander und von der Tradition, die
ganze Frage behandelt haben. Dann werden die Anflehten
der aufgeführten Ethiker noch einmal fachlich nach ihrer
Auffaffung vom Wefen und der Zuläffigkeit des Gelübdes
zufammengeftellt: Bejahung, Ablehnung, bedingte
Zulaffung. Endlich giebt S. zum Schluß wertvolle Richtlinien
für die weitere wiffenfehaftliche Unterfuchung des
Problems; darin fordert er zunächft eine religionsgefchicht-
liche Begriffsbeftimmung, unterfcheidet dann das Gelübde
von ähnlichen Dingen, Vorfatz, Verfprechen, Eid ufw.,
und behandelt zuletzt die Frage nach feiner Zuläffigkeit
ftreng deduktiv aus dem Lebensgrundfatz der Reformation
heraus. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, daß die
Eigenart des Evangeliums das Gelübde als eine nomifti-
fche Einrichtung unbedingt ausfchließt. Auch als Tugendmittel
wird es verworfen, denn der Gelobende macht
diefelbe Inftanz zur Garantie feiner Handlungen, deren
Ohnmacht er doch gerade mit dem Gelübde zum Ausdruck
bringt, nämlich fleh felbft mit feiner Endlichkeit
und Unzuverläffigkeit. Mit drei Anforderungen an die
zukünftige Behandlung der Aufgabe fchließt die rtraff
gehaltene und klar gefchriebene Abhandlung: Feftftellung
des Wefens der Gelübde durch die vergleichende Re-
ligionswiffenfchaft, Abgrenzung gegen verwandte Begriffe
und Begründung der für die Entfcheidung der Frage
wichtigen Grundfätze.

Heidelberg. Niebergall.
Der willenfchaftliche Nachlaß 0. von Gebhardts.

In O. von Gebhardts Nachlaß fand fich eine Reihe höchft wertvoller
Vorarbeiten, u. a. zu einer Ausgabe des Arethas, der Martyrien des
Pionius und der edeffenifchen Märtyrer Gurias, Samonas und Abi-
bos. Es dürfte manche Lefer intereffieren zu erfahren, daß diefe fich
jetzt in der kgl. Bibliothek zu Berlin befinden. Seinen Bericht darüber
im Centralblatt für Bibliothekswefen XXIV, I fchließt Dr. Emil Jacobs:
,Es ift zu wünfehen, daß fich Gelehrte finden, die diefe von v. Gebhardt
unvollendet zurückgelaffenen Arbeiten zu einem guten Ende bringen. Den
Nachlaß hat die Generalverwaltung der königlichen Bibliothek eben deshalb
erworben, damit der Schatz, den der Verdorbene zutage gefördert,
an ficherer und doch leicht zugänglicher Stelle bewahrt der Arbeiter
harren könne, die ihn zu gemünztem Gemeingut der Wiffenfchaft zu machen
berufen find. Mögen fie bald an ihn herantreten'.

v. Dobfchütz.