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Ausgabe:

1907 Nr. 10

Spalte:

316-317

Autor/Hrsg.:

Milasch, Nikodemus

Titel/Untertitel:

Das Kirchenrecht der morgenländischen Kirche 1907

Rezensent:

Meyer, Philipp

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Theologifche Literaturzeitung 1907 Nr. 10.

316

felbdändiger Effay oder lieber je ein ganzes Buch werden,
fo unendlich id ja der Stoff, der fich für jedes diefer
drei Unterthemata findet. Doch das foll nur eine Nebenbemerkung
fein, die ich aber vorausfchicken durfte, weil
doch eben der Titel auch dem Ganzen voranffeht und
als Orientierungstafel für das zu erwartende Gedankenmaterial
dient.

Gehen wir jetzt auf den Inhalt der vorliegenden
Arbeit ein, fo hat der Verfaffer zu dem Thema Kirche
und Staat ein Füllhorn von Kenntniffen und geiftvollen
Betrachtungen ausgefchüttet, daß es eine Freude ift, diefe
Rede zu lefen. Und überall begnügt er fich nicht bloß
mit theoretifchen Betrachtungen, fondern legt den Finger
auf die praktifchen Konfequenzen, die auf Grund der
neueren Verfchiebung des Verhältniffes von Staat und
Kirche alle ernften Geider befchäftigen müffen. Dabei
hat der Verfaffer hier, wo man doch fo leicht in die
Verfuchung kommt, ,über die Schnur zu hauen', durchgängig
eine weife Mäßigung an den Tag gelegt, die fehr
wohl tut. Bei der Fülle des komprimierten Gedankenreichtums
diefer Feftrede ift es eigentlich nicht recht
möglich, eine zutreffende Inhaltsangabe zu liefern. Ich
begnüge mich daher nur mit Andeutungen. Der Verfaffer
unterfcheidet drei Phafen der Entwicklung des Kirchen-
tums. 1) Die Einheitskirche, die mit dem Staatsleben
innerlichft und untrennbar verbunden ift; er befaßt darunter
die katholifche Kirche, die den Staat geradezu
fich eingliedert, aber auch die altproteftantifche Orthodoxie,
die er mit dem Katholizismus auf diefelbe Stufe ftellt;
2) das paritätifch-landeskirchliche Syftem, nach welchem
gewiffe Kirchenkörper vom Staate befonders privilegifiert
und gefchützt werden; 3) das Syftem der Freikirchen,
die vom Staate nach dem allgemeinen Vereinsrechte behandelt
werden. Von allen drei Erfcheinungen werden
die charakteriftifchen Merkmale vorgeführt und ihr Verhältnis
zu den Unterrichtsfragen, von den niederen
Schulen bis zur Hochfchule, mit großer Sachkenntnis
dargelegt. Zum Schluß verbreitet fich der Verfaffer über
das Zukunftsbild, daß Kirche und Staat fich bei uns
trennen und was dann werden foll. Ich meine, daß diefer
ganze Paffus getroft der Zukunft überlaffen bleiben kann.
Ehe es in Deutichland zur Trennung von Staat und
Kirche kommen wird, mag noch viel Waffer den Rhein
hinunter laufen; wir haben eben in Deutfchland, wie
Troeltfch felbft fehr treffend bemerkt, weder amerika-
nifche noch franzöfifche Verhältniffe. Aber mit Freude
wird man Troeltfch zuftimmen, wenn er ausführt, daß
felbft nach vollzogener Trennung vom Staate die theolo-
gifchen Fakultäten doch bleiben werden, was fie find; er
fpricht fich entfchieden gegen ihre Umwandlung in reli-
gionsgefchichtliche Fakultäten aus, deren Arbeit der
inneren Einheit entbehren und in taftende Ungewißheit
fich verlaufen müßte. Wie hat fich doch erfreulicherweife
die Stimmung in liberalen Kreifen geändert! In
den fiebziger Jahren, zur Zeit des Kulturkampfes, trieben
die Kulturkämpfer förmlich Sport, um die theologifchen
Fakultäten aufheben zu laffen, und Lagarde fekundierte
in feiner vielgenannten Abhandlung über dasfelbe Thema
kräftigft. Aber auch maßvollere Theologen haben damals
es als möglich hingeftellt, daß die theologifchen
Fakultäten aufgehoben würden: die Exegefe würde dann
von der Philologie übernommen, der Kirchenhiftoriker
zieht in die philofophifche Fakultät, der Dogmatiker
wird Religionsphilofoph und findet ebendafelbft Unterkommen
. Die Praktiker aber gehen an kirchliche Seminare
. Zum Glück hat niemand an den ausfchlaggebenden
Stellen an die Auflöfung des tradierten Verhältniffes der
Fakultäten gedacht. Und fo wird es wohl auf abfehbare
Zeiten bei uns bleiben.

Göttingen. P. Tfchackert.

Milalch, Bifchof Dr. Nikodemus, Das Kirchenrecht der
morgenländirchen Kirche. Nach den allgemeinen Kirchenrechtsquellen
und nach den in den autokephalen Kirchen
geltenden Spezial-Gefetzen. Überfetzt von Dr.
Alex. R. von Peffic. 2., verbefferte und vermehrte
Auflage. Moftar, Pacher & Kific 1905. (XVI, 742 S.)
Lex.-8° Kr. 16—; geb. Kr. 20 —

Die erfte Auflage diefes monumentalen Werkes er-
fchien in der Urfprache (ferbifch) im Jahre 1890, nach
7 Jahren wurde es ins Ruffifche und Deutfche überfetzt,
1904 ins Bulgarifche. Eine zweite Ausgabe konnte 1902
folgen. Von diefer ift das vorliegende Buch die Über-
fetzung. Sie iftmehrals IOO Seiten ftärker als die von 1897.
Das hat feinen Grund nicht nur in den Nachträgen und
Hinzufügung des Regifters. Sondern vor allem find die
inzwifchen erfolgten rechtlichen Neubildungen zur Dar-
j Heilung gebracht, wie z. B. die neue (feit 1903) Verfaffung
von Montenegro. Aber auch die Beurteilung ift teilweife
eine andere geworden. Wir erfahren aus der Einleitung,
daß die kanonifche Lehre der morgenländifchen Kirche
über einzelne Materien in der erden Auflage nicht ganz
genau zum Ausdruck gelangt war. Im erden Teile führt
der Verfaffer namentlich die Quellen und die Literatur
des Kirchenrechts vor (S. 1—204). Der zweite handelt
von der Verfaffung der Kirche und id in 3 Abfchnitte
geteilt: Über die allgemeinen Grundzüge der kirchlichen
Verfaffung, die Hierarchie und über die Organe der Kirchengewalt
(—435). Der folgende Hauptteil fpricht in
drei Kapiteln von der Verwaltung der Kirche. Diefe
Verwaltung bezieht fich auf die Lehre, die heiligen Handlungen
und das Recht (—560). Das gottesdiendliche
Leben, dabei das Eherecht und das genoffenfehaftliche
Leben in der Kirche wird im vierten Teile dargelegt
(— 688). Der fünfte und letzte große Abfchnitt führt in
das Verhältnis der Kirche zum Staat und zu Andersgläubigen
ein. Man fieht fchon aus diefer kurzen Inhaltsangabe
, daß wir es mit einem umfaffenden Werke zu tun
haben. Ein fehr großer Vorteil id es, daß der Verfaffer
die abendländifche Literatur und die dort übliche Frage-
dellung kennt; fo gewinnen feine Dardellungen Beziehung
auf die abendländifchen Theorien und find viel leichter
verdändlich. Man wird auch angenehm berührt durch das
Maßvolle in den Aufdellungen, mir id an keiner Stelle
jene grobePolemik aufgefallen, durch die manche Orthodoxe
uns noch immer imponieren zu können meinen. Der Ge-
famteindruck des ganzen Werkes aber id doch der, daß
die orthodoxe Kirche vielleicht ein fchwerfälliger aber
keineswegs etwa ein erdarrter Organismus id. Überall
fieht man die Verfuche, fich der Forderung der Zeiten
anzupaffen. Dadurch aber id die Entwicklung gewährleidet
. Auf die Einzelheiten weitläufiger einzugehen, verbietet
fich.von felbd. Auf einiges möchte ich aber doch
hinweifen. Der erde Teil id nicht nur darum wertvoll,
weil er eine außerordentlich reichhaltige Literatur bietet,
fondern auch, weil das Urteil des Verfaffers den Wert
der Schriften vielfach hervorhebt und dadurch uns wieder
die Wertfehätzung der Quellen ermöglicht, ohne deren
Kenntnis keine gefchichtliche Erfcheinung gewürdigt werden
kann. Die Wertfehätzung wechfelt aber in den Zeitaltern
. Soides auffallend, daß der Verfaffer die Confessio
orthodoxa des Mogilas und die Befchlüffe des Jerufalemer
Konzils hinfichtlich ihrer Glaubensdarlegungen für unbedingt
bindend hält (S. 79. 442). Es id das eine Änderung
in der Beurteilung, die etwa aus dem letzten Drittel des
19. Jahrhunderts dämmt. Wahrfcheinlich liegt ruffifcher
Einfluß vor. Intereffant id es auch, daß das Pidalion des
Nikodimos Hagiorites als die offizielle Kanonen-Sammlung
der hellenifchen Kirche bezeichnet wird (S. 190). Für
alle orthodoxen Kirchen genießt das große Syntagma, das
Rhallis und Potlis 1852—1859 in Athen herausgegeben
haben, bedingungslofe Autorität (S. 200). Aus dem reichen