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Ausgabe:

1907 Nr. 8

Spalte:

250-251

Autor/Hrsg.:

Köhler, W.

Titel/Untertitel:

Katholizismus und Reformation. Kritisches Referat über die wissenschaftlichen Leistungen der neueren katholischen Theologie auf dem Gebiete der Reformationsgeschichte 1907

Rezensent:

Cohrs, Ferdinand

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249

Theologifche Literaturzeitung 1907 Nr. 8.

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lebendiger Weife über Wallfahrten, weinende Marienbilder,
Seelgeräte, Beichte, Feiertage, Faften, Zehnten, Ablaßbriefe
und Hierarchie gehandelt wird. Manches erinnert
an Eberlin, die Warnung an die Männer wegen Mißbrauchs
der Beichte der Frauen (S. 163) an Kettenbach.
Aber der Verfaffer lebt in einem geiftlichen Gebiet
(S. 163 Z. 16), in einer Weingegend, da die Bauern zum
Wein gehen (S. 161. Z. 6). Die Sprache ift nicht die
Eberlins (vgl. thöretz S. 148 Z. 24. thünen, beyt = warte,
heift = heiß S. 157 Z. 9, 10, 16, Hanen, dicke Milch,
läucken S. 161 Z. II, 21). Der Verfaffer ift wohl ein
Franziskaner, vielleicht aus der Maingegend, etwa dem
Bistum Bamberg (vgl. S. 162 Z. 3 u. 4. v. u.), der fehr
volkstümlich und fententiös zu reden weiß (vgl. S. 160
Z. 2. u. ,fie fuchen Byftum und nicht Chriftum' und die
Schilderung der Mönchspredigten S. 157).

Einen Beweis, ,in welchem Maße' 1524 fchon ,die einft
ans Superftitiöfe grenzende Devotion vor kirchlichen
Zeremonien, Symbolen, Titeln Würden umgefchlagen war
in inbrünftige Verachtung, in graufamen Hohn und Spott',
gibt Giemen im 5. Heft mit der m. E. in Straßburg ent-
ftandenen derben Schrift ,Ein Frag und Antwort von
zwei Brüdern, was für ein feltfams Tier zu Nürnberg
gewefen im Reichstag nächft vergangen, gefchickt von
Rom, zu befchauen das deutfch Land' (1524) und dem
Bericht über die Spottfeier in Buchholz am 14. März 1524
,Von der rechten Erhebung Bennonis ein Sendbrief', der
vielleicht von dem Zwickauer Johann Neumann flammt.

Eine hervorragende intereffante Schrift eines ,reichen
fympathifchen originellen Geiftes', die Alfred Götze mit
trefflichen Erklärungen im 6. Heft gibt, ift ,Ein kurzer
Begriff von Hans Knüchel', welche das Recht der Gemeinden
vertritt, Laienprediger anzuftellen, die nicht
hebräifch und griechifch gelernt zu haben brauchen, um
die durch das Abfenzwefen der Pfarrer und die Verleitung
ihres Amtes durch ftets wechfelnde, oft fehr
zweideutige Mietlinge hervorgerufenen Mißftände zu be-
feitigen. Götze beweift., daß Pamph. Gengenbach nur
der Drucker der Schrift ift, und weiß in fehr anfprechen-
der Weife den aus Neuenburg in Baden flammenden
Barfüßer Dr. Seb. Meyer, Prediger in Bern, Straßburg
und Augsburg, als Verfaffer diefer und anderer Schriften
wahrfcheinlich zu machen. Sehr beachtenswert ift die
Wertfehätzung des kanonifchen Rechtes.

An die Epistolae virorum obsenrorum erinnert die
in köftlichem Mönchslatein und nach der Weife der
Sentenzenvorlefungen gefchriebene, von Hans Zwicker
im 7. Heft herausgegebene Schrift ,Commentum seu lectura
cuiusdam theologorum minimi super unam seraphicatn in-
timationem doctoris Joannis Romani Vuonneck rectoris
Basilcensis, welche Wimpheling unter dem Namen Rym-
pheling gewidmet ift und gegen einen angeblichen
akademifchen Anfchlag des Bafler Mediziners Jon. Windecker
von Windecken (bei Hanau) gerichtet ift. Der
Verfaffer erörtert das pro und contra der neuen Lehren,
z. B. vom Ablaß, vom Bann, und wirbt für die Reformation
unter der Maske eines Altgläubigen, wobei er
fich ftarke Invektiven gegen den Papft (verus imperator
Teutonicus, der Käifer nur fein Vogt) und die Prielter
geftattet. Hinter dem Pfeudonym Bernhard Wartenbuch
(Wart den Bauch) von Greifswald fleckt m. E. Hermann
Bufch (S. 262), der viel gewanderte Humanift, der ebenfo
mit Greifswald, Pafewalk, Stralfund (S. 300) wie mit Bafel
und Erfurt bekannt war.

Das ,Gefprächbüchlein von einem Bauern, Belial,
Erasmo Rotterodam und Doktor Johann Fabri' (1524),
das Clemen im 8. Heft bietet, ift ein Ausdruck der
fchmerzlichen Enttäufchung über die von der Reformation
abgewandte Haltung des Erasmus und den Gefinnungs-
wechfel des Konftanzer Generalvikars, die aus unreinen
Motiven, Ehrfucht, Geldfucht, Eiferfucht und Leidensfcheu
abgeleitet werden. Fabn erfcheint als galanter Aben- |

teurer im Nonnenklofter zu Konflanz. Der Verfaffer ift
vielleicht in Konflanz zu fuchen.

In den Anmerkungen ift eine Fülle wertvoller Erläuterungen
aus zum Teil entlegenen Wiffensgebieten
geboten. Zu wünfehen wäre, daß bei Worterklärungen,
die dringend nötig find, nicht einfach auf Schade oder
Grimm verwiefen wird, wie z. B. S. 324 Z. 3 meerwunder
, S. 177 Z. 8 kurißer, fondern der Wortfinn angegeben
wird. Da und dort wäre noch Erklärung er-
wünfeht, z. B. S. 66 Z. 26 fchellig, S. 85 Z. 21 figuriert
bey der Archen, S. 300 Z. 28 renes purgando, S. 303
Z. 3 astragaltzontes, S. 329 Z, 31 was zeiheft du dich
felbft? S. 9 Z. 18 ift keine Textverderbnis, wie Cl.
annimmt. Der Sinn ift: die Eltern vermeinten, noch nach
der alten Lehre, deren Refrain war: gib her (vgl. Prov.
3015) d. h. der geldgierigen' Kirche zu reiten, d. h. zu
wandeln. S. 33, Z. 4 in Schüffeikörben, in denen man fonft
Schüffein von der Küche zum Speifefaal, aber auch Verwundete
in das Krankenhaus trägt. S. 33, 28 gelidert,
am Gefäß mit Leder befetzt, alfo = gewaffhet. S. 42 Z. 7
verfagt = verfchwäzt, denunziert. Dann wird der Teufel
Abt, d. h. die Ungerechtigkeit gewinnt die Oberhand, wie
durch Judas Verrat. S. 72 Z. 4 1. antreffen. S. 115 Z. 24
vgl. Prov. 2621: ein zorniger Menfch hat Zorn, um Aufruhr
anzurichten, keine Barmherzigkeit und quillt immer
aus [lat. Partizipialkonftruktion] Grimm und Ungeftüm.
S. 117 Z. 28 vgl. 2 Cor. 1 s; daß wir am Leben verzagten,
urfprünglich erwegten. S. 121 Z. 15 Eph. 43, S. 123 Z. 30.
1 Cor. 1433 S. 125 Z. 22 vgl. 2 Reg. 717,20. S. 126 Z. 15
Pf. 1830. Z. 16 Pf. 273 S. 178 Z. 17 wüft = wuft, Menge,
S. 248 Anm. 23 1. Pf. 9412. S. 275, Z. 5 S. 308 Anm. 1.
missi?m Sendbrief. S. 275 Z. 16piere wohl das franzöfifche
pere. S. 290 Z. 14. S. 310 A. 65 bufones Buben in ob-
fcönem Sinn, vgl. stuffa = Stube. S. 293, Z. 5 S. 328 Z. 11
,bauern übel ergeen . . . fpiel . . zurichten' weift auf den
Beginn der Bauernunruhen in Vorderöfterreich als Zeit
der Abfaffung der Flugfchrift. S. 328 Z. 23: ,wendet ich
ihm für mancherlei' ift das Moment der Unwahrheit
nicht zu überfehen, entfprechend unferem vorfchwindeln,
nicht bloß einwenden. S. 329 Z. 28 1. biß. S. 330 Z. 20
gnadjunkeren. Henifch erklärt Gnadfrau S. 336 A. 20
domina gratiosa. S. 331 Z. 14 wohl einen Knoten an
einem Strick, um damit derb zu fchlagen, oder einen
Zauberknoten. Schade, daß die Zeilenzählung, die in 2,
3, 6 fich findet, nicht durchgeführt ift. Dem Unternehmen,
das uns den Herzfchlag der öffentlichen Meinung in
Deutfchland 1522—25 deutlich vernehmen läßt, ift unge-
ftörter Fortgang und weite Verbreitung der Schriften zu
wünfehen.

Nabern. G. Boffert.

Köhler, Prof. Lic. Dr. W., Katholizismus und Reformation.

KritifchesReferat über die wiffenfehaftlichen Leiftungen
der neueren katholifchen Theologie auf dem Gebiete
der Reformationsgefchichte. (Vorträge der theologi-
fchen Konferenz zu Gießen 23. Folge.) Gießen, A.
Töpelmann 1905. (88 S.) 8° M. 1.88

Wechfel des Wohnorts und der beruflichen Stellung
haben mich die Anzeige diefer vortrefflichen Überficht
über Gebühr verzögern laffen, und ich bitte deshalb den
Herrn Verfaffer und namentlich diejenigen Intereffenten,
die etwa durch meine Schuld jetzt erft von vorliegender
Schrift hören, um Nachficht. Indeffen ift es, etwas Gutes
kennen zu lernen, fchließlich noch immer früh genug;
und Gutes wird hier geboten. Möchte Köhlers Vortrag
dazu beitragen, £ß die katholifchen Arbeiten auf dem
Gebiet der Reformationsgefchichte beffer gewürdiot und
mehr ftudiert werden. Der Gewinn kann nicht ausbleiben;
nicht nur in dem höchften Sinne, daß es uns vielfach
leichter werden wird, unferen katholifchen Brüdern gegenüber
die rechte Herzensflellung zu gewinnen, auch fürs