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Ausgabe: | 1907 |
Spalte: | 214-215 |
Autor/Hrsg.: | Christ, Paul |
Titel/Untertitel: | Grundriß der Ethik 1907 |
Rezensent: | Ritschl, Otto |
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Theologifcbe Literaturzeitung 1907 Nr. 7.
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macher in feinem Für und Wider läßt den Stoff fchließ-
lich problematifch, während Strauß die erfte radikalMe
BeMreitung durchführt. Verneinend verhalten fich Biedermann
, Schenkel, bejahend Hafe, mit Limitation
Rothe. Die konfeflionellen Lutheraner fchwanken: re-
ferviert Franck, Philippi, W. Schmidt, zuMimmend
Alle KonMruktionsverfuche in diefem Punkt haben fich
in der Kontinuität der klaffifch chriftlichen Grundgedanken
zu halten. Sie werden unter diefem Regulativ freilich
ftets von dem jeweiligen religiös-fittlichen Ideal aus
entworfen. Und wenn der Unterfchied zwifchen den
unferm Erkennen wirklich erreichbaren und den auf
Luthardt, weit ausmalend Rinck, fchroff zurückftellend i feiner Grenze liegenden Gedanken gewiffenhaft feftge
Vilmar; Lipfius, Ritfehl und die Seinen bejahen mit
Referve. Im anfangs zurückhaltenden Kirchengefang
und der religiöfen Dichtung erftarkt der Gedanke feit
der Romantik.
Hinfichtlich des Objekts treten hervor entweder die
vollendeten großen Geifter und Seligen (die antiken und
m. a. HumaniMen und ein Teil der ans NT. anfchließen-
den) oder die Angehörigen (bef. Rationalismus und
Romantik). Hinfichtlich des Subjekts wechfelt die
Hoffnung auf unbefchränkt geiftig-leibliches Erkennen
(K.-Väter, M.-A., kath. Kirche) mit der Piervorhebung des
geiftigen Charakters des Wiederfehens (Auguftin u. a.). —
Die Kritik prüft die logifche, phyfiologifche, pfycholo-
... . .. - ' .. . , 1 • ... . _ 1__1__:r_l__1/1K~1:..L1...:».
halten wird, wird die pia opinio hier toleranter zugelaffen
werden müffen, als der Verf. es erlauben möchte.
2. Ganz anderer Art iff die Schrift des Pfarrers
Lemme. Ich würde diefem gemütvollen und feinfinnigen
Geilt unrecht tun, wenn ich feine liebevoll entworfenen,
kühnen Konftruktionen hier zerpflücken wollte. L. giebt
im 1. Teil eine Gefchichte der Vorltellungen von der
unfichtbaren Welt, wobei er namentlich das Verhältnis
der beiden Welten in den einzelnen Religionen — mit
oft recht anfechtbarem Ergebnis — herauszuftellen fucht
— auf Grund von Wurms Rel.-Gefch. Zumal der Ab-
fchnitt über A. und NT. fordert eine Fülle von Fragezeichen
. Der 2. Teil: Wefen und Wirken der unficht-
gifche, die fittliche und religiös-teleologifche Möglichkeit, (baren Welt foll nun. eine neue Löfung des Problems
namentlich der Hoffnung auf Rückerinnerung als wich- geben, wie fich die Überweltlichkeit und Innerweltlich-
tiglter Vorausfetzung eines Wiederfehens. Die künftige keit Gottes und der unfichtbaren Welt mit einander verVergeltung
, die Vollkommenheit der Seligkeit, die göttliche einigen laffen. Da wird zunächft über Raum und Zeit
zweckfetzende Weisheit und Liebe, unfere Natur und unfere ejne fehr gewagte Begriffsmythologie geboten. Raum
Beftimmung zur Perfönlichkeit, auch der foziale Charakter j uncj Zeit find dem Verf. phyfifche und metaphyfifche
des Ziels mache fie notwendig. Andrerfeits unterliegt j Begriffe. Gott und die unfichtbare Welt find im Raum
die Wiederfehenshoffnung dem Verdacht einer Verir- und jn der Zeit, aber vor allen Einzelräumen und Ein-
difchung des Ziels, des Eudämonismus, des bloßen Po
ftulates und der Schädigung der irdifchen Sittlichkeit;
fie fei weder der theoretifchen noch der praktifchen
Vernunft erreichbar. Vielfach wird die Möglichkeit zu-
zelzeiträumen. Dann foll Raum und Zeit nicht wirklich
, aber logifch Gott vorausgehen. Auf diefe Prä-
miffen wird nun ein phantafiereiches Gemälde von dem
ganzen Wefen und Wirken der unfichtbaren Welt mit
gegeben, die Vorffellbarkeit abgelehnt. — Schleier- j Gott, Engeln, Abgefchiedenen ufw. unter häufiger Zu
machers Kritik argumentiert vom fittlichen Begriff des ; hilfenahme aftronomifcher und geologifcher Aufffellungen
künftigen Lebens aus gegen die Vorftellung eines plötz
lieh eintretenden und gleichbleibenden und von dem der
vollkommenen Seligkeit aus gegen den eines allmählich
eintretenden und fich ffeigernden Befitzes des Höchften,
fchließlich die ewige Verdammnis ablehnend, während
Strauß auf die die Seligkeit unmöglich machenden
Konfequenzen aus Luc. 1734 und auf den Widerfpruch
hinweift, der zwifchen dem Wunfeh des Zufammenbleibens
mit den Lieben und der Beftimmung zu immer höherer,
individuell verfchiedener Vervollkommnung befteht. Die
meiften modernen Befürworter reden von einer fo oder
fo befchränkten Erinnerung und Mellen die Gemeinfchaft
mit Gott, ChriMus und den Seligen als Hauptfache Mark Chrift, Prof. Dr. Paul, Grundriß der Ethik. Berlin, C. A.
in den Vordergrund . Schwetfchke & Sohn 1905. (VIII, 210 S.) gr. 8° M. 5.50
Der Verf. felbM betont die 2 Schwierigkeiten: Iru- s^j v 1 j & .3.3
bung der Seligkeit durch Erinnerung an die Verlorenen Der vorliegende Grundriß einer Kthik iM aus den aka-
und egoiMifche Verunreinigung des Glaubens; er fetzt { demifchen Vorlefungen des Züricher SyMematikers her
entworfen. — Der Verf. Mellt im allgemeinen feine Fragen
gefchmackvoll, fein Denken bemüht fich ernMlich um
die Fülle der Probleme, aber er iM ein naiv dogmatiMifch.es
Gemüt. Und da ich oben der pia opinio das Wort geredet
, möchte ich die freundliche Schrift unbehelligt ihre
Straße ziehen laffen zu gleichgeMimmten, naiv fpekulie-
renden, poetifchen Seelen, die nicht der Verfuchung
erliegen, die lebendigen Blüten ins trockne Herbarium
der Dogmatik einführen zu wollen.
Lobberich. Alfred Zilleffen.
unfern chriMlichen Gedanken über das Wiederfehen die
Mt. 633 Rom. 828. 38 1 Joh. 32 angedeutete Grenze. Er
fpricht fich gelegentlich fcharf gegen das von Rothe fürs
NT. geltend gemachte argumentum e silentio aus (im
Gedanken der Vereinigung der Seligen mit ChriMus und
allen Gläubigen fei der des gegenfeitigen Wiedererkennens
fchon enthalten). Ich kann feine Beurteilung nicht überall
zwingend finden (z. B. zu 1 Cor. 1529). Unbedingt
recht wird er haben darin, daß im NT. und bei den
SchriftMellern, die den letzten Impulfen der NT.lichen
Gedanken am treufien folgen, alles andre zurücktritt
hinter der Vereinigung mit dem xvQioq und — in zweiter
Linie — mit den vollendeten Gerechten. Sehr charak-
teriffifch fcheint mir in diefer Hinficht die mir von Pfr.
Lic. Erbes-CaMellaun freundlichM nachgewiefene Stelle in
der Fassio Perp. et Felic. c. 11: Die Märtyrer kommen
an einen Ort, ubi invenimus Jocundum et Saturninum et
Artaxium . . . et Quin tum, qui et ipse martyr in carcere
exierat; et quaerebamus de Ulis, ubi essent ceteri. Dixe-
runt nobis angeli: venite primum intro et salutate
dominum. — Unfrer theologifchen Gedankenbildung
fehlt die Möglichkeit einer psychologia comprehensorum.
vorgegangen. Der Verf. möchte mit feiner Veröffentlichung
nicht nur feinen Zuhörern, fondern auch ,Studierenden aller
Fakultäten, ja gebildeten Lefern jedes Standes, die ihn
ihrer Beachtung würdigen, etwelche DienMe leiMen'. Ob
dem Buche ein foweit gehendes Intereffe entgegengebracht
werden wird, iM mir indeffen einigermaßen fraglich
. Seiner ganzen Anlage nach iM es Lehrbuch. Und
zu Lehrbüchern pfiegen, wenn diefe nicht durch außergewöhnliche
Vorzüge ausgezeichnet find, doch nur folche
zu greifen, die es — namentlich aus der Rückficht auf
ihre Examina — müffen oder zu müffen glauben. Lehrbuchsmäßig
iM vor allem die Zerfpaltung des Stoffes in
allzu zahlreiche und vielfach recht kleine und unbedeutende
Paragraphen — 244 auf 210 Seiten. Zwar verMeht
es der Verf. fich kurz zu faffen und fo auf knappem
Raum ein reiches Vielerlei zu bieten. Aber der einheitliche
Zufammenhang, der die vielen Einzelheiten unter
einander verbindet, iM nicht in der Durchführung eines
oder einiger großer Grundgedanken gegeben, fondern
der Verf. Mellt eigentlich nur eine Menge von Anflehten
und Urteilen zufammen, die er in der Befchäftigung mit
der Ethik gewonnen und fich gebildet hat, und die zum