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Ausgabe:

1907 Nr. 7

Spalte:

198-199

Autor/Hrsg.:

Jülicher, Adolf

Titel/Untertitel:

Neue Linien in der Kritik der evangelischen Überlieferung 1907

Rezensent:

Holtzmann, Heinrich Julius

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Theologifche Literaturzeitung 1907 Nr. 7.

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als Steigerung erfahrt (S. 92. 231), vorwiegend bei Markus
und Lukas nachwirken foll, ift der Verf. in der glucklichen
Lage, fich je nach Ausfall feines hiftorifchen Urteils
trotz feftgehaltener zeitlicher Priorität des Mk. (S. 12)
für Mt. entfcheiden zu können. So hat die Gleichnisrede
Jefu zwar für alle Evangeliften verftockende Abzweckung;
aber nur Mk. und Lk. bringen das zum klaren Ausdruck,
bei Mt. macht fich daneben noch die ältere, natürlichere
Auffüllung bemerkbar (S. I72f.). Wenn Jefus Mk. 6 s 0
Ttxrmv, Mt. 1355 6 tov xexrovog vtoc, heißt, fo hegt im
erfteren Ausdruck nicht etwa noch ein gute Tradition,
fondern eine fprachlich allerdings haltbare Übersetzung
des zweiten vor und macht fich dabei der Einfluß von
U2 gegen U< geltend (S. 239 f.). Das gleiche ift der Fall,
wenn Mk. 13.% über Mt. 2432 hinaus ovöe 0 viog flelefen
wird (S 543) Nach irgend einem nötigenden, allen Zweifel
ausfchließenden Motiv für folche Maßnahmen habe ich
wenigftens vergeblich geflucht, wie auch die Ausdrucksweife
des Verf.s meift eine löbliche Unflcherheit erkennbar
werden läßt. Aber man entgeht eben auf [olchem
Wege am ficherften unliebfamenKonfequenzen derMarkus-
hypothefe. Ganz befonders zweckmäßig erfcheint die
Unterfcheidung in dem berühmten Fall Mk. 10 ik =
Luk. 18 19 contra Mt. 19 17, wo letztere, alfo die dogmatifch
zuläflige, Form für U1 in Anfpruch genommen wird, die
anftöß'Ue Abweifung des Prädikates Gut aber auf ein
der Redaktion in U- zur Laft fallendes Mißverftändnis
zurückgeführt wird (S. 411 f.). Zu einem gleichfalls recht
angenehmen Austrag wird das Problem des Menfchen-
fohnes gebracht, fofern der Ausdruck in U1 wegen Mt. gs
einfach ein Menfchenkind bezeichnet, aber in U2 eine
mefflanifche Umdeutung erfahren hat (S. I04f. I29f. 331).
Wie dies fchon Mk. 210. 28 der Fall war, fo dann erft
recht in der berühmten Stelle Mt. 1613, wo nach U1 die
Frage Jefu gelautet haben foll ,Für was für ein Menfchenkind
halten mich die Menfchen?' Wird hier die ganz
einfache, auf der Hand liegende Tatfache, daß Mt. die
gefchichtliche Darftellung bei Mk. und Lk. in kirchlich-
petrinifcher Tendenz erweitert hat, mit Hilfe einer felbft
wieder erlt künfllich zurechtgemachten Textgeftaltung und
zugunften einer damit in Verbindung gebrachten quellen-
kritifchen Fiktion gänzlich verdunkelt (S. 330f), fo ver-
ftellt und verrenkt fich auch das zwifchen Mt. 1412 und
Mk. 6 89. 3'> beftehende fchriftflellerifche Verhältnis ge-
waltfamfl, indem an die Stelle der nicht minder einfachen
Tatfache, daß Mt. die Johannesjünger am Ende der Ein-
fchaltung Mk. 62:1 und die Jefusjünger im 6so wieder
aufgenommenen Faden der Erzählung zufammenwirft (vgl.
meineSchrift über,das meffianifcheBewußtfeinJefu'S. 56T.),
eine komplizierte Theorie tritt, wornach fich zu einem in
Ui unbeftimmt gelaffenen Prädikat bei Mt. das richtige, in
U2 und Mk. dagegen ein falfches Subjekt eingefunden
haben würde (S. 265 f.). Meinte man bisher mit gutem
Grund, daß es erftmalig vor Cäfarea Philippi zu einer
offenen Ausfprache zwifchen den Jüngern und ihrem Meifter
gekommen fei, fo weiß der Verf. auch hier den diefe
Epoche verwifchenden Matthäusbericht zu rechtfertigen,
indem er bald den Anfpruch auf Meffianismus in Stellen
einträgt, die ihn höchftens ahnen laffen, wie 1223. 161, bald
folche, die ihn ficher vorausfetzen, aber aus der zweiten
Quelle in den gemeinfamen Erzählungsfaden eingereiht
find wie II i-n. 19. 25-27, unbefehen verwertet (S. 33Öf.),
was bei den Widerfprüchen, die das Verhältnis Jefu zu
Volk und Jüngerfchaft dadurch aufweift, zu der fchlech-
terdings unmöglichen Behauptung drängt, man habe ihn
bald für den Meffias, bald nicht mehr dafür, fondern nur
noch für einen großen Propheten gehalten (S. 337, f. dagegen
am a. O. S. 61). Zum Schluffe darf ich auf die
foeben erfchienene Anzeige von der Hand P. Schmiedels
im Literarifchen Zentralblatt S. 154—156 verweifen, mit
der ich ganz übereinftimme.

Baden. H. Holtzmann.

Jülicher, Prof. D. Adolf, Neue Linien in der Kritik der
evangelilchen Überlieferung. (Vorträge des Heffifchen
und Naffauifchen theologifchen Ferienkurfes. Heft 3.)
Gießen, A. Töpelmann 1906. (76 S.) 8" M. 1.60

Die ,Vorträge des Heffifchen und Naffauifchen theologifchen
Ferienkurfes' bringen im 3. Heft 5 im Oktober
gehaltene Mitteilungen zur Orientierung über die gegen-

i wärtige Sachlage der Evangelienfrage und Leben-Jefu-
Forfchung, die man faft allerfeits willkommen heißen,
hoffentlich auch recht zu Herzen nehmen und ausgiebig
verwerten wird. Der erfte Vortrag gilt der ,Epoche 19/01'.
Damals erfchien Albert Schweitzers ,Meffianitäts- und
Leidensgeheimnis', in deffen zeitlichem Zufammentreffen
mit Wredes ,Meffiasgeheimnis' der Flfäffer Theolog in
feinem letzten Werk ,Von Reimarus zu Wrede' 1906 ein
Zeichen der Zeit erblickte, andeutend, daß der bisherigen
Theologie, wie fie fich vornehmlich auf dem namhaft
gemachten Gebiete bewegte, ein Ende mit Schrecken
nahe. Bei aller Bewunderung für die Kunft, mit der
hier aus den dünnften Fäden alter Überlieferung ein
feltfames Gefpinft hergeftellt wird, bleibt es freilich
zuletzt bei dem Urteil: ,Die Vergewaltigung von Gefetz
und Regel gefchichtlichen Unterfuchens kann kaum ärger
getrieben werden' (S. 5). ,Seine überhitzte Phantafie zeichnet
die Karikatur einer pangermanifch geflammten, von

S ihren eigenen Schlagworten beraufchten Theologie, die

I von ihrem angemaßten Thron geflürzt werden müffe, wo

j ich nur fuchende, über die Unflcherheit und Dürftigkeit
ihres Befitzes bekümmerte Menfchen an der Arbeit
fehe: nun, diefe werden das nicht eben prunkvolle und
noch weniger mit Behagen durch den Fleiß von fechs
Generationen aufgeführte Haus darum nicht verlaffen, weil
Schweitzer den Möbeln drin keinen Gefchmack abgewinnt'
(S. 4). Wirklich neue Einfichten find uns feit jener
Epoche dagegen zugeführt oder wenigftens ftarke, in diefer

I Richtung gehende Anregungen gegeben worden durch
Schweitzers angeblichen Kampfgenoffen Wrede, dem der
zweite Vortrag gilt, meiner Meinung nach das gerechtefte
Urteil, das über des tapferen Mannes, der uns zu früh

j entriffen wurde, tiefeingreifende Arbeit gefällt worden
ift und gefällt werden kann: verftändnisvoll für feinen
unbeftechlichen Wahrhaftigkeitstrieb, feinen unerbittlichen
Gehorfam gegen die großen Grundfätze der hiftorifchen

[ Kritik, aber doch nicht blind gegenüber fo vielen fchwachen
Punkten der Beweisführung (S. 23 f., wozu beifpielsweife
S. 28f. die Ausfchaltung des Petrusbekenntnifles als eines
entfeheidenden Moments im Leben Jefu gehört) und
fchließlich ,das Übergewicht des Logikers über den
Exegeten' konftatierend (S. 33). Nicht minder empfänglich
für die Belehrungen eines tapferen Radikalismus
zeigt fleh der Verf. im dritten Vortrag gegenüber den
Evangelienkommentaren Wellhaufens, deren verwundbar-
fter Punkt jedoch in der Entwertung der zweiten Quelle
neben Markus und in dem damit zufammenhängenden
gefteigerten Mißtrauen gegen den Redeftoff der Überlieferung
gefunden wird (S. 48f.). Schade, daß der Verf.,
wo er im vierten Stück Harnacks erften Beitrag zur
Einleitung in das Neue Teftament (vgl. hierüber Jahrgang
1906 diefer Zeitfchrift Sp. 404f.) teils zuftimmend, teils
widerfprechend behandelt, nicht auch fchon den zweiten
zur Hand hatte, der jene zweite Quelle mit einer bisher
unerreichten Genauigkeit Unterpacht und dabei Refultate
zutage gefördert hat, welche wenigftens nach dem Urteil
des Unterzeichneten abfchließende Bedeutung bean-
fpruchen dürfen. Ich bedaure, nicht in der Lage ge-
wefen zu fein, das fch on in meiner Abhandlung über
,die Markuskontroverfe in ihrer heutigen Geftalt' (Archiv
für Religionswiffenfchaft 1907, vgl. S. 30) ausfprechen zu
können. Teilweife anders flehe ich zu Harnacks Urteil
über den Stand jener Frage, wie es unfer Verf. mitteilt
und billigt (S. 61; ähnliches gilt bezüglich einfehlägiger
Bemerkungen S. 17. 34). Um fo freudiger nehme ich