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Ausgabe:

1907 Nr. 6

Spalte:

183-184

Autor/Hrsg.:

Mayer, Emil Walter

Titel/Untertitel:

Das psychologische Wesen der Religion und die Religionen 1907

Rezensent:

Ritschl, Otto

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Seite 1

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Theologifche Literaturzeitung 1907 Nr. 6.

184

Durch die Zerftörung des Kirchenftaates, führt der [ lerifch. Nimmt fie auch den ganzen Menfchen in An-

Verfaffer aus, ift die erfte falfche Ambition Roms, das
königliche Papfttum verfchwunden, nachdem es über ein
Jahrtaufend der Welt und dem Papfttum felbft viel Unheil
gebracht hatte. Nun ftehe zu hoffen, daß das
zwanzigfte Jahrhundert auch dem politifchen Papfttum
oder der zweiten falfchen Ambition Roms, im Namen
der Religion fich in das politifche Leben der Völker
und Staaten einzumifchen, ein ebenfolches Ende bereiten
werde. Gefchehe dies, dann ftehe möglicherweife dem
religiöfen Papfttum, d. h. der Leitung und Beratung der
Völker auf dem Gebiet des Glaubens, der religiöfen
Moral und der chriftlichen Liebeswerke noch eine große,

fpruch, fo ift das Charakteriftifche und Fundamentale
in ihr doch eine beftimmte Gemüts- und Willensverfaffung.
Als folche lehrt der Verf. ,ein Gefühl der Zuverficht, des
größeren oder geringeren Vertrauens gegenüber der über
dem menfchlichen Leben waltenden Macht oder Ordnung'
kennen. Unter diefer Vorausfetzung erfcheint auch das
menfchliche Leben nicht als etwas zufälliges, fondern ,in
der Weltordnung als Zweck gewolltes, etwas objektiv
gewolltes, alfo etwas objektiv wertvolles und Seinfollen-
des', und die Sittlichkeit, die ftets mit der Religion eng
verknüpft ift, als ein heiliges Sollen. Andererfeits ordnet
der Verf. in einfacher, aber, wie mir fcheint, fehr tref-

fegensreiche Zukunft bevor. Aber freilich müffe das 1 fender Weife die einzelnen Religionen je nach der Inten-
Papfttum zuerft eine gründliche Mauferung durchmachen fität des in ihnen erreichten Vertrauens in die Stufen
und diefe müßte nach der Anficht des gelehrten Verfaffers j der ritualiftifchen, moraliftifchen und der univerfaliftifchen

in nichts geringerem beftehen, als ,daß der Papft feine
unbegrenzte religiöfe Autorität niederlege und fie mit
den Bifchöfen und Konzilien teile; daß er den Katholizismus
vieler äußerlicher unfrommer Gebräuche entReligion
. Diefe ift das Chriftentum als die Religion der
Sündenvergebung, die jedem Menfchen, auch den Sündern
und den Bedrückten, den Zugang zu Gott erfchließt.
Andererfeits löft fie auch neue ftarke fittliche Impulfe

kleide, welche dem Evangelium Chrifti widerftreben; daß t aus, indem fich die Sittlichkeit nun nicht mehr nur als
er wiederum ein geiftlicher Vater der Gläubigen werde, Bedingung für den Empfang göttlicher Gaben, fondern
nicht dem Namen nach, fondern mit der Tat. indem er | als .höchftes menfchliches Lebensgut' und ,Krönung und

den unzähligen, kirchlichen und politifchen Anfprüchen
des Mittelalters den Abfchied gäbe' (p. 107). Ob es je
dazu komme, fei allerdings äußerft zweifelhaft und da-

Vollendung des gottgewollten menfchlichen Lebens' dar-
ftellt. ,Man handelt nicht mehr fittlich, um zu leben;
man lebt, um fittlich zu handeln'. Bedenken habe ich,

rum könnte es fich wohl ereignen, daß das politifche j abgefehen von Einzelheiten, wie der Würdigung des

Papfttum zum Unheil des religiöfen noch länger beftünde i Schleiermacherfchen unbedingten Abhängigkeitsgefühls,

und fie fchließlich beide am Überdruß der Völker mit- nur foweit, als ich die Frage nach dem Wefen der Re-

einander zugrunde gehen würden; aber auch hierin könne ligion nicht fchlechthin als das ,Problem der Religions-

man fich täufchen ufw. pfychologie' bezeichnet wiffen möchte. Denn die Pfycho-

Das Buch enthält zahlreiche, markante und interef- logie als Wiffenfchaft hat es nur mit der formalen Seite

fante Einzelurteile, die den gründlichen Kenner der Ge- des menfchlichen, alfo auch des religiöfen Lebens zu

fchichte bezeugen, auch folche, die zu fcharfem Wider- tun, und nicht auch feine konkreten Inhalte und deren

fpruch reizen. Aber der Wert des Buches liegt nicht in Wertcharakter zu beftimmen. Zieht man auch diefe in

diefen einzelnen Urteilen, fondern trotz aller Verwahrungen die Betrachtung hinein, fo bleibt man m. E. doch beffer

(z. B. p. 77) des Verfaffers in der Prognofe der Zukunft, bei dem allgemeineren Ausdruck Religionsphilofophie.

Und da zeigt es fich meines Erachtens fehr deutlich, 1 ßonn Q R i t fc 1 1

daß ein Hiftoriker ein fchlechter Prophet ift. Denn da j _[_ ' _'__

er mit allen Möglichkeiten der Gefchichte rechnen muß, Koch, Prof. Dr. Anton, Lehrbuch der Moraltheologie

find feine Mutmaßungen von fo vielen Wenn und Aber ; Freiburg {. B., Herder 1905. (XIV, 654 S) gr 8«

umgeben, daß man fich häufig an eine Witterungspro- m ; b

gnofe erinnert fühlt, aus der man alles und nichts heraus-
lefen kann. Und das Vertrauen zu feinen Schlüffen wird

M. 10.50; geb. M. 12
Diefe katholifche Moraltheologie ift eine in ihrer

nicht vermehrt, wenn er in dem einzigen Falle, den wir Art hervorragend tüchtige Leiftung. Ich wüßte,
kontrollieren können, betreffs der Annahme des fran- j wenigftens aus den letzten Jahrzehnten, keine proteftan-
zöfifchen Kultusgefetzes durch Pius X (p. 70) fo ziemlich 1 tifche theologifche Ethik zu nennen, die ihr an gelehrter
das Gegenteil von dem gemutmaßt hat, was feither ge- I Stoffbeherrfchung und forgfältiger Durchführung im
fchehen ift.

Bremgarten. Alb. Bruckner.

einzelnen gleichzuftellen wäre. Allerdings hat das feine
guten Gründe. Im Katholizismus hat nicht nur die
Dogmatik, fondern auch die Moraltheologie ihre feit
Jahrhunderten wirkfame fefte Tradition, die jeder neue
Mayer, Prof. D. Dr. E. W., Das pfycholog.fche Wefen der JEthiker vorausfetzen, und unter deren unvermeidlichem
Religion und die Religionen. Rede zur Feier des Ge- Einfluß er arbeiten muß. Das aber erleichtert ihm auch

burtstages Sr. Majeftät des Kaifers am 27. Januar 1906
in der Aula der Kaifer- Wilhelms-Univerfität Straßburg
gehalten. Straßburg i. E., J. H. E. Heitz 1906. (27 S.)
gr. 8° M. 1 —

In der vorliegenden feinfinnigen und anfprechenden

feine Arbeit in allen ihren Teilen. Andererfeits bietet
fleh ihm fo zur Entwicklung eigner Ideen nur wenig
Gelegenheit und Antrieb. In der proteftantifchen Ethik
dagegen haben die Methoden und die leitenden Gefichts-
punkte recht häufig gewechfelt. Nur gewiffe Grundauf-
faffungen und Grundfätze flehen von Anfang an feft.

P"eflrede lenkt der Verf. die Aufmerkfamkeit feiner Hörer In welcher Gefamtprojektion fie jedoch begründet und
auf das neuerdings neben hiflorifchen Problemen auch durchgeführt werden, das fleht mehr oder weniger im
noch immer behandelte Problem der Religionspfychologie, Belieben des einzelnen Moraltheologen. So hat der
d. h. auf die Fragen nach den menfchlichen Bedürfniffen, ! bedeutendfte theologifche Ethiker des 19. Jahrhunderts,
die durch die Religion überhaupt befriedigt fein wollen, j Richard Rothe, charakteriflifcher Weife fein gefamtes
und nach dem charakteriflifchen Verhalten der menfeh- j theologifches Syflem in der Form einer Ethik vorgetragen,
liehen Seele in aller und jeder Religion. Als durch die 1 Diefe ließ ihm eben die Freiheit, deren er dazu bedurfte,
moderne Religionswiffenfchaft definitiv abgelehnt fcheidet und die er fich im Zufammenhange einer Dogmatik wegen
er zunächft die Theorien aus, wonach die Religion, wie j deren herkömmlicher Gebundenheit an kirchliche Lehrwenn
fie der Philofophie gleichartig wäre, Welterklärung I traditionen und -fatzungen nicht in gleichem Umfange er-
oder gar Metaphyfik fürs Volk, und daß fie eine Dou- I möglicht fah. Ebenfo aber ift auch fonft die proteftan-
blette der Kunft fei. Vielmehr ift fie nicht bloß zeitlich, j tifche Ethik nicht nur in ihrer Darftellungsform, fondern
fondern auch logifch vorwiffenfehaftlich und vorkünft- | auch in ihrer Stoffwahl von jeher weit freier' gewefen,