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Ausgabe:

1906 Nr. 6

Spalte:

171-172

Autor/Hrsg.:

Lucius, Ernst

Titel/Untertitel:

Die Anfänge des Heiligenkults in der christlichen Kirche, hrsg. v. Gustav Anrich 1906

Rezensent:

Klostermann, Erich

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Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. 6.

172

Lucius, Prof. Ernft, f, Die Anfänge des Heiligenkults in der
chriitlichen Kirche, herausgegeben von Prof. Guftav
Anrieh. Tübingen, J. C. B. Mohr 1904. (XI, 526 S.)
Lex. 8° M. 12 —

Von der bislang noch ausgehenden Gefchichte der
Heiligenverehrung ift das wichtigfte Stück in dem um-
faffenden Werke geliefert, dem Lucius ,die Jahre feiner
betten Kraft gewidmet hat, ohne daß es ihm vergönnt
gewefen wäre, feine Vollendung zu erleben' (S.III). Von
der Reichhaltigkeit des Buches mag die folgende Inhaltsangabe
zeugen. Der einleitende Teil (S. 1—48) behandelt
die Vorausfetzungen des Heiligenkults in zwei
Kapiteln: 1) das antike und das chriftliche Weltbild,
2) der antike und der chriftliche Toten- und Heroenkult
. Im zweiten Teil (S. 49 — 336) ift ein erfter
kürzerer Abfchnitt den Märtyrern im Zeitalter der
Verfolgung gewidmet. Der zweite Abfchnitt verbreitet
fich in acht Kapiteln über den Märtyrer im
Zeitalter des Friedens: 1) die allgemeinen Grundlagen
des Märtyrerkults im Zeitalter des Friedens, 2) die Vor-
ltellungen über Wefen und Wirkfamkeit des verklärten
Märtyrers, 3) der einheimifche Märtyrer, 4) der fremde
Märtyrer, 5) die großen Wundertäter; die kriegerifchen
Märtyrer, 6) die großen Krankenheiler, 7) die kultiiche
Verehrung der Märtyrer, 8) Gegner und Gönner des
Märtyrerkults. Das dritte Buch (S. 337—419) hat zum
Gegenflande die Asketen und die bifchöfliehen Heiligen:
1) die Entnehungsgefchichte der Mönchslegende, 2) das
Idealbild des Asketen in der Mönchslegende, 3) die Verehrung
der Asketen, 4) die bifchöf liehen Heiligen. Das
vierte (S. 420—504) behandelt Maria: 1) Maria die jungfräuliche
Asketin, 2) Maria die Gottesgebärerin und ihre
Stellung in der fieilsgefchichte, 3) die Verehrung Marias,
4) die Marienfefte, 5) die Marienhymnen.

Nur einen Abfchnitt aus dem Buch über die Asketen
hat Lucius felbft noch 1902 in den H. J. Holtzmann
gewidmeten theologifchen Abhandlungen erfcheinen laffen.
Der nunmehrige Herausgeber Anrieh fand allerdings in
Lucius' Nachlaß das Buch der Hauptmaffe nach in nahezu
druckreifem Zuftande vor, und nur für den kleineren
Teil fällt ihm das Verdienft zu, den unfertigen Text her-
geftellt, die Anmerkungen gefchaffen zu haben (S. IV).
Aber überall hat er doch nicht ergänzen mögen. So
find von den großen Märtyrern nur die kriegerifchen
und die Heilmärtyrer in Einzelgeftalten behandelt, wo
Lucius noch weitere, z. B. den heiligen Nikolaus zur Dar-
ftellung bringen wollte. Vor allem aber hatte Lucius
zur Einleitung fich mit den bisherigen Bearbeitungen des
Problems zu befaffen und zum Schluß die religionswiffen-
fchaftliche Bedeutung des gewonnenen Bildes zu beleuchten
gedacht (S. III). In diefem Schluß hätten wir dann
vielleicht auch eine Erörterung der etwaigen Beziehungen
erhalten, die fich zwifchen der Geflalt Jefu und der der
Heiligen finden laffen. Wenn auch nicht in dem Sinne
Möhlers: ,follen wir Chriftum anbeten, fo find wir genötigt
, Heilige zu verehren'. Durch die Einleitung würde
dem Lefer die Schätzung der befonderen Leiflung des
Verfaffers erleichtert worden fein. Deren Wert befteht
nicht in der Entwicklung einer völlig neuen Gefamt-
anfehauung — man vergleiche nur aus der letzten
Literatur Bonwetfchs Artikel ,Heilige und Heiligenverehrung
' RE3 1899 und Möller- v. Schuberts Lehrbuch
der Kirchengefchichte I, 32 1902 S. 786ff.: ,der niedere
Kultus'. Sondern in der Durchdringung des kaum über-
fehbaren Stoffes mit den Ideen der modernen Wiffen-
fchaft, in der umfaffenden Gelehrfamkeit, mit der die
Quellen ausgefchöpft und auch die Ergebniffe der bisherigen
Forfchung gebucht find.

Auf Einzelheiten einzugehen würde fich nur für den
fchicken, der das Ganze durchgearbeitet hat. Nur etwas
Äußerliches möchte ich nicht unerwähnt laffen, daß
nämlich der Text fich nicht durchweg angenehm lieft.

Eine Satzfolge wie S. 96f.: ,Die Elemente vertagen den

Henkern den Dienft. Vor allen andern das Feuer.....

Wie das Feuer verfchont auch das Waffer die Märtyrer
..... Ebenfo wenig können die anderen Elemente
dem Märtyrer etwas anhaben.....Noch

weniger begründen die wilden Tiere eine Gefahr für

den Märtyrer..... Keinen befferen Erfolg erzielen

die Gifte' ufw. läßt das Gerippe der Dispofition reichlich
ftark hervortreten. Und ein Bild wie S. 14: ,Wie der
antike, fo hat aber auch der chriftliche Tempel eine
Türe, durch welche Menfchen in ihn eindringen und die
Stelle göttlicher Wefen in ihm einnehmen konnten. Diefe
Türe ift der Totenkultus' kann kaum als Mutter von An-
fchaulichkeit gelten. Die Regifter würde man zur leichteren
Auffindung des Details ausführlicher wünfehen.

Kiel. Erich Kloftermann.

Sternfeld, Richard, Der Kardinal Johann Gaetan Orfini (Papft
Nikolaus III.) 1244—1277. Ein Beitrag 'zur Gefchichte
der Römifchen Kurie im 13. Jahrhundert. (Hiftorifche
Studien. Veröffentlicht von E. Ebering LH.) Berlin,
E. Ebering, G. m. b. H., 1905. (XXIII, 376 S. m. 1
Stammtafel) gr. 8° M. 10 —

Als mir diefes Buch angekündigt wurde, fragte ich
mich: welche glückliche Fügung hat wohl dem Verfaffer
foviel bisher unbenutztes, vielleicht ungedrucktes Material
in die Hand gefpielt, daß er im Stande ift, allein über
die Kardinalszeit des Mannes, der als Nikolaus III. während
kurzer drei Jahre die Welt verblüffen follte, ein Buch
von 376 Seiten zu fchreiben? Denn daß dies nach den
bisher bekannten Quellen nicht möglich fei, fchien mir
feftzuftehen. Ich hatte mich geirrt. Unbekanntes Material
hat der Verf. nicht benutzt. Die Aktenftücke, die er im
Anhang abdruckt, und, wie man leider fagen muß, unerlaubt
fchlecht abdruckt, haben mit feinem Thema keinen
Zufammenhang. Er fchöpft ausfchlirßlich aus gedruckten
Quellen, auch die noch nicht veröffentlichten Teile der
päpftlichen Regifter hat er fo wenig benutzt, wie die
fogenannten Formelfammlungen. Er hat aus diefem
auch fo fchon fehr reichen Material eine Monographie
hergeftellt, die, wie man es bei ihm gewohnt ift, an Gelehrfamkeit
und Fleiß nichts zu wünfehen übrig läßt.
Hier und da find freilich Spuren der Flüchtigkeit bei
der letzten Ausarbeitung nicht zu verkennen. So z. B.
die Stilblüte S. 124 (Karl fchürte das Eifen), die Fehler
und Widerfprüche in Bezug auf die Dauer des Konklaves
von 1276 (S. 254: ,fo begann denn am 23. Juli 1276 das
bewegte Conclave, aus dem nach kaum drei Wochen
Ottobonus als Papft hervorging'; dagegen S. 256: ,wenn
am 23. Juni, am Tage nach dem Tod Innocenz' V., die
zehntägige Wartezeit begann, trat am 3. Juli das Conclave
zufammen; am II. Juli . . . wurde fchon der neue Papft
gewählt'). So auch die gelegentlichen Widerfprüche
zwifchen Text und Anmerkungen. S. 2 heißt es, die Mutter
Giangaetanos1 habe dem Gefchlechte der Herzöge von
Gaeta angehört; die zugehörige Note 5 entzieht diefer
Meinung den Boden, und mit Recht. S. 197 wird es für
möglich erklärt, daß Orfini in Rom geblieben fei, als
Gregor X. im Sommer 1272 nach Orvieto überfiedelte;
während Anm. 24 drei urkundliche Zeugniffe bringt, die
den Kardinal vom 31. Auguft 1272 bis 13. Januar 1273
als in Orvieto anwefend nachweifen. Auch die Schlußbetrachtungen
hätten bei forgfältigerem Reifenlaffen wohl
eine weniger zerfließende r orm erhalten, als wir fie jetzt
S. 304f. lefen. Aber folche nebenfächliche Mängel werden
mehr als aufgewogen durch anderes. Den Wechfelfällen,
Wendungen und Windungen der päpftlichen Politik feit
der Mitte des 13. Jahrhunderts bis zum Regierungsan-

i) Die Behandlung des Namens durch St. kann man nicht billigen.
Er nennt feinen Helden abwechfelnd Johann und Gaetan. Das ift an fich
ftörend, es ift aber auch unrichtig, denn beide Namen bilden ein Ganzes.