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Ausgabe:

1906 Nr. 6

Spalte:

166-167

Autor/Hrsg.:

Godet, F.

Titel/Untertitel:

Commentaire sur l‘Évangile de Saint Jean. 4ième édition, revue par l’auteur. Tome III 1906

Rezensent:

Holtzmann, Heinrich Julius

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Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. 6.

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mus, bei den Apokalyptikern und im Effenismus gegeben
hat (S. 170 f.). Die Quelle der minäifchen Lehre ift ,die
durch griechifche Schulweisheit angeregte kosmogc-
nifche und theofophifche Geheimlehre' (S. 179). Sie find
alfo Gnoftiker. Doch bezeichnet es der Verf. als ein Miß-
verftändnis feiner früheren Äußerungen, wenn man ihm
die Meinung zugefchoben hat, daß alle Minäer unter-
fchiedslos jüdifch-antinomiftifche Häretiker gewefen feien.
Es hat vielmehr verfchiedene Spielarten desMinäertums ge- j
geben (S. 179). Sehr ausführlich wendet fich der Verf.
auch diesmal wieder (aus Anlaß des Buches von Herford,
Christianity in Talmud and Midrash, 1903) gegen die
Identifizierung von Minim und Judenchriften (S. 196—234).
So gewiß er hier in der Negation recht hat, fo fragwürdig
find feine pofitiven Ausführungen über die
Minim.

Der Hauptfehler in der ganzen Konftruktion des
Verf.s ift zweifellos der, daß er den Einfluß des Griechentums
auf die Entwickelung des paläftinenfifchen Judentums
überfchätzt. Unfer Referat hat gezeigt, daß er geradezu
überall, wo freiere Anfchauungen fleh regen, diefe
auf griechifche Einflüffe zurückführt, teils direkt teils
indirekt durch Vermittelung der Diafpora. Selbft in einer
Geftalt wie Johannes dem Täufer waltet ,Diafporageift'
d. h. helleniftifcher Einfluß (S. 99). Nun ift es gewiß
richtig, daß auch das paläftinenfifche Judentum trotz der
makkabäifchen Bewegung nicht unberührt geblieben ift
von griechifchen Einwirkungen. In einiger Stärke laffen
fleh diefelben aber nur bei den Effenern konftatieren und
allenfalls in einzelnen Theologumenis der gelehrten
Haggadiften. Dagegen das, was dem Verf. die Hauptfache
ift, die freiere religiöfe Strömung überhaupt, welche
auf das Innerliche geht und über die gefetzlichen und
nationalen Schranken hinausftrebt, fle ift flcherlich nicht
aus dem Hellenismus, fondern aus dem Prophetismus
abzuleiten. Sie ift letzterem inhaltlich viel
näher verwandt, und es liegt aus äußerlichen Gründen
viel näher, fie von diefem abzuleiten. Der Verfaffer verweilt
auch felblt im Vorwort mehrmals darauf, daß der
Hellenismus an den Prophetismus und die Weisheitslehre
angeknüpt habe. In der Einzelausführung fcheint er aber
diefe Mächte faft vergehen zu haben. Liegt denn der
Umweg über den Hellenismus näher, als die direkte Ableitung
aus dem Prophetismus der Väter? Selbft den
eifrigften Pflegern der Gefetzeslehre ift diefes Erbgut doch
nicht ganz abhanden gekommen.

Im zweiten Hauptteil behandelt Fr. das hellenifti-
fche Judentum (S. 235—375) Unter diefe Rubrik fällt
aber nicht nur 1. der jüdifche Hellenismus (S. 235—264),
2. die Therapeuten, die der Verf. für hiftorifch und
vorphilonifch hält (S. 265—288) und 3. die Sibyllinen
(S. 289—314), fondern auch 4. Jefus (S. 315—341) und
5. Paulus (S. 342—375). Bei letzterem kann man fich
diefe Einreihung ja gefallen laffen; wenn aber auch Jefus
in das Licht des Hellenismus geftellt wird, fo zeigt fich
hier am ftärkften die Einfeitigkeit der ganzen Betrachtung,
die alles Gute aus dem Hellenismus ableitet. Diefe Einfeitigkeit
überrafcht um fo mehr, als über die Perfon Jefu
und über die Eigenart feines Selbftbewußtfeins manches
Schöne und Treffende gefagt wird. Fr. fpricht von Jefus
als dem Meffias, der auftrat, als ,alles für fein Erlölungswerk
forgfältig vorbereitet war' (S. 315). Er fchildert
ihn zwar als gefetzestreu, aber als gefetzestreu in der
Weife der nichtpharifäifchen Frommen, die nicht an den
Buchftaben, fondern an den Geift des Gefetzes fich hielten
(S. 318). Ja Jefus ,bleibt nicht bei Mofes und den Alten
flehen fondern geht über fie hinaus, im Geifte einer
neuen Zeit, deren Sitten bereits durch Philofophie geläutert
find, fo daß feine Ethik eine höhere, ja die
Vollendung der mofaifchen ift' (S. 3l8)- So ift er
tatfächlich doch gefetzesfrei (S. 321). Im Kampfe mit
den Pharifäem ift Jefus ,fich auch über feine eigene
Perfon immer klarer geworden. Wollte er im erften

Stadium feiner Lehrtätigkeit nichts anderes als ein Nach-
treter der Propheten, ein anderer Täufer fein, fo fühlte
er fich bald über diefelben hinausgewachfen und wurde
fich allmählich feiner höheren Million und der ihm innewohnenden
, jene feiner Vorgänger weit überragenden
Gotteskraft bewußt' (S. 322). ,Keiner war in feiner Liebe
dem Höchften fo nahe wie Jefus' (S. 334). ,Für ihn war
Gott nicht bloß eine Realität in Begriffen, fondern es
liegt eine fo unvergleichliche Fülle von Anfchaulichkeit
in feinem Verhältnis zum Herrn, wie fie bisher unerreicht
war' (S. 335). Neben aller gefchichtlichen Bedingtheit
betont daher Fr. doch auch zugleich die Originalität
Jefu. ,Die Zeit war reif für den Meffias, das heißt
nicht, daß fie den Meffias felber und feine Ideen zur
Reife brachte, fondern es wohnte in ihr bloß die
Empfänglichkeit für ihn, die Möglichkeit, ihm Verftändnis
und Glauben entgegenzubringen. Es herrfcht aber ein
diametraler Gegenfatz zwifchen dem, der fchafft, und
dem, der die Schöpfung in fich aufnimmt. Es liegt vielmehr
in dem Hinweis darauf, daß die Zeit dem Er-
fcheinen des Meffias entgegenfah und mit allen Organen
des Glaubens ihn umklammerte, der Hinweis darauf, daß
diefer Erfcheinung ein unendlicher Eigenwert innewohnte'

(S. 340).

Das find Zeugniffe, die ungleich mehr hiftorifches
Verftändnis verraten als faft alles, was wir fonft von jüdi-
fcher Seite über die Perfon Jefu zu hören bekommen
haben.

Göttingen. E. Schür er.

Godet, Prof. D. F., Commentaire sur llvangile de Saint
Jean. 4ifeme edition, revue par l'auteur. Tome III:
Explication des chapitres VIII—XXI. Neuchätel, Attinger
freres (1905). (557 p.) gr. 8°

Über vorliegenden Schlußband ift nicht viel anderes
zu fagen, als was fchon über die vorangehenden in diefen
Blättern (Jahrg. 1904, Sp. 433 f.) berichtet war. Die auch
hier auf dem Titel fehlende Jahreszahl wird oben richtig
ergänzt worden fein. Konzeflionen an die Kritik werden
fo gründlich vermieden, daß fogar der Name Jefus Chriftus
17, 3 direkt aus Jefu Mund flammen muß. Die Ausfage
14, 28, daß der Vater größer ift als der Sohn, wird ganz
im Stil der patriftifchen Exegefe als ein mit der Zweinaturenlehre
zu vereinbarendes Problem behandelt. Ebenfo
wird 17, 19 äyta^siv mit Calvin auf die fich opfernde
inenfehliche Natur bezogen, und wenigftens in der Nähe
eines folchen Dogmatismus halten fich auch die nur
allzu fcharffinnigen pfychologifchen Erwägungen zu 11,33.
Einwürfe, die gegen die früheren Auflagen erfolgten, find
feiten berückfichtigt. Beifpielsweife foll 14,3 immernoch
ausfchließlich vom Kommen im Geift handeln, obwohl
fchon E. v. Schrenck (Die johanneifche Anfchauung vom
,Leben', 1898, S. 157) bemerkt hatte, daß dem das als
direkte Folge des Kommens gedachte Jiagak^utpouai
entgegenfteht. Die Art von Apologetik, in deren Dienft
hier die Exegefe tritt, erhellt aus der Zurechtlegung des
Gebetes 11,41. 42, wodurch Gott vor die Wahl geftellt
worden fei, entweder als Garant der Miffion Jefu oder
als Mitfchuldiger an feinem Betrug zu gelten; ebenfo der
falfche Biblizismus, der hier herrfcht, aus dem Verfuch,
den Kommentar zu der fchwierigen Stelle 16,8—11 in
den Petrusreden Act. 2, 22—24. 27- 36. 37 zu finden.
Andererfeits wird die Beziehung der (Joga 17, 22 auf die
göttliche Liebesgemeinfchaft dem biblifchen Realismus
nicht gerecht. Da der Verf. nicht begreifen oder zugeben
kann, daß der johann. Chriftus einen der Ab-
faffungszeit des Evangeliums entfprechenden Standpunkt
einnimmt und von diefem aus redet, muß 17,18 die Sendung
der Jünger in die Welt aus einer ,sphere superieure a
la vie du monde' erfolgt fein. Dagegen wird das Präfens
I £703 10, 16 der Verfuchung zu ähnlichen Wagniffen nicht ge-