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Ausgabe:

1906 Nr. 5

Spalte:

152-153

Autor/Hrsg.:

Petersen, Julius

Titel/Untertitel:

Willensfreiheit, Moral und Strafrecht 1906

Rezensent:

Ritschl, Otto

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151 Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. 5. 152

Befinnung über gegenwärtiges und vergangenes Leben wenn fie fich felbft und ihre Aufgabe nicht verlieren foll.
die einzelnen Elemente gegen einander abzuwägen, das Bisher hat die Wiffenfchaft weder mit Naturphilofophien
Syftem der Strebungen und Zwecke auf einen einheit- i noch mit Gefchichtsphilofophien günftige Erfahrungen
liehen und — wo es angeht — intellektuellen Ausdruck j gemacht. Dies follten die philofophifchen Methodologen

zu bringen, der natürlich über Zeit und Perfon nicht erhaben
ift . . . . So tritt denn, was wir aus der Gefchichte
lernen, durch die unbewußt teleologifche Konflitution
unferer Natur, in unmittelbare Verbindung mit den
Zwecken und Zielen unferes Lebens' (S. 140 f.). Und in
dem ,Schluß' des Buches beantwortet der Verf. die im
Beginn geftellte Frage: ,Worin befteht der Erkenntniswert
der Gefchichte', indem er eine pfychologifche und
eine genetifche Belehrung durch die Gefchichte und
deren Betrachtung unter dem Gefichtswinkel einer ,aus-
gefprochenen oder unausgefprochenen Gefchichtsphilo-
fophie' hervorhebt (S. 145). Und in einer Anmerkung
dazu heißt es endlich: ,Die Gleichfetzung von Gefchichte
und bloßer Kaufalerkenntnis, wie Fichte will, die fcharfe
Scheidung Windelbands zwifchen Normen und Natur-
gefetzen wird alfo durch eine teleologifche Pfychologie
aufgehoben'.

Nach den Erfahrungen, die man mit den berühmten
Hegelfchen und den lonftigen fpekulativen vermitt-
lungsphilofophifchen und vermittlungstheologifchen Aufhebungen
gemacht hat, wird man fich wohl für berechtigt
halten dürfen, auch gegen die neuen Aufhebungen, die
durch jene teleologifche Pfychologie geleiftet werden follen,
mißtrauifch zu fein. Mag auch der Verf. von der Meta-
phyfik nichts wiffen und fie durch Pfychologie erfetzt
fehen wollen, jeder vviffenfehaftliche und auch der hi-
ftorifche Betrieb können eine auf fubjektive und gegen-

doch nicht immer wieder vergeffen. Vestigia terrent.
Bonn. O. Ritfchl.

Peterfen, Reichsgerichtsrat a. D. Dr. Julius, Willensfreiheit,
Moral und Strafrecht. München, J. F. Lehmanns Verlag
1905. (VIII, 235 S.) gr. 8» M. 5 —

Der Verf. ,möchte eine möglichfl erfchöpfende Darfteilung
der für und wider den Determinismus fprechenden
Gründe geben und weitere Kreife zur Überzeugung von
deffen Richtigkeit bekehren'. Demgemäß fleht er es
auf eine gemeinverftändliche Darftellung ab, und ich
habe den Eindruck, daß ihm eine folche, foweit es der
Gegenftand überhaupt zuläßt, auch wohl gelungen ift.
Klar und faßlich wird gleich fchon in der Einleitung das
Problem der Willensfreiheit nach feinen verfchiedenen
Seiten hin fixiert, und mit ficherer Logik werden die
mancherlei falfchen Frageftellungen abgewiefen, die feiner
richtigen Löfung im Wege flehen. Wie fchon Schopenhauer
in feiner grundlegenden Arbeit, fo warnt auch der
Verf. vor einer Verwechfelung zwifchen der Freiheit des
Wollens und einer folchen des Handelns, bei der eben
das, was man will, bereits feftfteht. Ferner erkennt er
die pfychologifche oder praktifche, d. h. die durch
Übung in der Selbftbeherrfchung erworbene Freiheit des
Wollens als mehr oder weniger wirklich vorhanden
durchaus an. Diefe aber fchließt fich mit dem Determi-
wärtige Zwecke und Werte fich ftützende Teleologie i nismus keineswegs aus, fondern fetzt ihn, richtig ver-

nicht ertragen, ohne in ihrer eigentümlichen Art und ftanden, einfach voraus. Denn der Determinismus, fo wie
Leiftungsfähigkeit aufs fchwerfte beeinträchtigt zu werden, j er von feinen gegenwärtigen Anhängern vertreten wird,
Diefe unvermeidliche Konfequenz hat der Verf. nicht be- i ift weder Fatalismus noch Prädeftinatianismus. Er ift
achtet und erörtert. Um fo notwendiger ift es, fie hier j nur die Forderung, daß das Gefetz von dem zureichen-
nachdrücklich hervorzuheben. Wie zwifchen Naturwiffen- den Grunde auch für das gefamte Willensleben des
fchaft und Naturphilofophie, fo gilt es auch zwifchen Ge- 1 Menfchen giltig ift. So ift das Wollen abhängig von
fehichtswiffenfehaftundGefchichtsphilofophieaufsftrengfte dem Gefüge der Motive im Verhältnis zu dem durch
zu unterfcheiden. Von diefer kann die hiftorifche For- Gewohnheit und andere Einflüffe entwickelten Charakter
fchung gelegentlich wohl fruchtbare Anregungen erhalten, des Ich oder der Perfönlichkeit. Unter die Motive aber
Niemals aber darf fie fich gefchichtsphilofophifchen Di- j rechnet der Verf. befonders auch die Ideen. Unter diefen
rektiven zu unterwerfen bereit fein. Denn nur eben die Umftänden fleht es nun auch für die determiniftifche Anobjektive
Wahrheit ermitteln zu wollen, eine Aufgabe, 1 fchauung durchaus nicht von vornherein feft, wie eine
die längft fchon vor der Kantfchen Erkenntniskritik er- ! beftimmte Willenshandlung fchließlich ausfallen wird,
kannt und fo oder fo von nicht wenigen erftrebt worden ; Vielmehr können im letzten Augenblick Umftände der
war, ift etwas ganz anderes, als die wirklich oder auch nur verfchiedenften Art das Stärkeverhältnis zwifchen den
vermeintlich erkannte Wahrheit nachher auch im Lichte i Motiven und dem Charakter des Handelnden noch
der eignen Zwecke und Werte zu betrachten und für j ändern.

diefe praktifch nutzbar zu machen. Im Bereiche der In keinem Falle alfo ift das Wollen urfachlos. Diefe
praktifchen Intereffen des menfehlichen Lebens ift auch j Auffaffung ift recht eigentlich charakteriftifch für den
diefe Leiftung berechtigt und notwendig, und in diefem '• Determinismus. Dagegen behauptet der Indeterminismus
Zufammenhange mag, wer fich dazu berufen fühlt, auch ; eine folche Urfachlofigkeit des Wollens, mindeftens im
Gefchichtsphilofophie treiben. Nur foll man die eigent- ! Falle der Wahl zwifchen mehreren möglichen Handlungen,
lieh wiffenfehaftliche Aufgabe der hiftorifchen Forfchung ! Der Verf. aber weift die Vorfpiegelung eines Auchanders-
mit gefchichtsphilofophifchen Teleologien und Konftruk- | könnens lediglich als Selbfttäufchung nach. Indem er
tionen unverworren halten, wenn man überhaupt Gewicht für den Determinismus gerade auch im Gegenfatz zu
darauf legt, daß die Wiffenfchaft in der Verfolgung ihres ( dem gemäßigten Indeterminismus eintritt, erörtert er die
eigentlichenund einzigen Zweckes,der Wahrheitserkenntnis, ; Streitfrage unter den verfchiedenen Gefichtspunkten, die
möglichfl rein und leiftungsfähig bleibe. Infofern aber hat ! die einfehlägigen Wiffenfchaften, Pfychologie, Pfychiatrie,
fie in letzter Inftanz immer nur ätiologifch zu verfahren, i Moral und Jurisprudenz, zu ihrer Beurteilung hergeben,
und, foweit fie im einzelnen nicht umhin kann, auch die Zwifchendurch widerlegt er die Freiheitstheorien von
Hilfsmittel einer teleologifchen Betrachtung anzuwenden, Kant, Sendling, Schopenhauer und der neueren Inde-
haben diefe doch lediglich hypothetifchen und mittelbaren terminiften. In den pfychologifchen Ausführungen fchließt
Wert. Der Verf. aber konftruiert das Verhältnis beider j er fich eng an Wundt an. Befonders klar und treffend
in umgekehrter Richtung. So wird er zwar eine Welt- ! find dann feine Darlegungen über Freiheitsgefühl, Frei-
anfehauung in Beziehung auf die Gefchichte konftruieren i heitsbewußtfein und innere Wahrnehmung. ,Das Bewußtkönnen
, die äfthetifch oder auch praktifch betrachtet ihren | fein ift......weder eine befondere Erkenntnisquelle

Wert haben mag. Aber die gefchichtswiffenfchaftliche (insbefondere keine untrügliche); noch find die inneren
Forfchung, diefe eigentliche Subftanz der hiftorifchen Er- j feelifchen Vorgänge einer unmittelbaren Wahrnehmung
kenntnis, muß fich, wie von anderen fubjektiven Ein- j zugänglich. Man kann deshalb höchftens fagen, daß wir
Hüffen, fo auch von dem einer folchen Gefchichtsphilo- [ uns keiner Vorgänge (unmittelbar) bewußt find, aus denen
fophie grundfätzlich und gefhffentlich freizuhalten fuchen, ; fich eine Determinierung des Wollens ergibt. Dann würde