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Ausgabe: | 1906 Nr. 4 |
Spalte: | 119-122 |
Autor/Hrsg.: | Unger, Rudolf |
Titel/Untertitel: | Hamanns Sprachtheorie im Zusammenhange seines Denkens 1906 |
Rezensent: | Zillessen, Alfred |
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Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. 4.
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tiker' charakterifiert wird. Ein Verzeichnis der überhaupt
gegen das Konzil von Trient gerichteten Schriften ift
als Anhang beigegeben. Die Hauptfache, nämlich den
Inhalt der Polemik des Braunfchweiger Theologen gegen
das Tridentinum hat der Verfaffer zunächft zurückbehalten
; in feinem Vorworte ftellt er uns in Ausficht,
diefen Teil,zu einer Theologie des Chemnitz auszugeftalten'.
Zur Zeit fehle aber dazu als Vorausfetzung eine befriedigende
Darftellung der Theologie Melanchthons. Darnach
werden wir alfo auf die Fortfetzung der Arbeit
Mumms noch recht lange warten müffen, und dem Rezen-
fenten erwächft daraus die Unannehmlichkeit, daß man
über fein einleitendes Schriftchen kein ficheres Urteil
fällen kann, da man nicht zu erkennen vermag, ob es
auf die Hauptfache, die man erwarten müßte, richtig hinleitet
.
Das Büchlein zeugt von einer intenfiven Befchäfti-
gung mit Chemnitz; aber unfere Kenntnis des gehaltvollen
Braunfchweiger Polemikers ift fachlich dadurch
nicht erheblich bereichert worden. Wertvoll dagegen
für die Gefchichte der Theologie ift das im Anhange
hinzugefügte Verzeichnis der gegen das Konzil gerichteten
Schriften.
Sehr auffallend finde ich, daß der Verfaffer den ge-
fchichtlichen Plintergrund, auf dem fich Chemnitz'Lebensarbeit
aufbaut, gar nicht gezeichnet hat. Chemnitz ift
nur verftändlich auf dem Grunde der Reformationsge-
fchichte Oftpreußens (1548—1553) und Niederfachfens
(1554—1586); ignoriert man beides, fo fleht jede Arbeit
über diefen Mann in der Luft. Das ift der Hauptfehler
der vorliegenden Schrift. Wenn der Verfaffer die Re-
formationspefchichte von Braunfchweig-Wolfenbüttel
kennte (vgl. Joh. Befte, Gefch. der Braunfchw. Landeskirche
, Wolfb. 1889), fo würde er auch Chemnitz nicht
zu einer in erfter Linie kirchenregimentlichen Perfönlich-
keit machen. Chemnitz war in feiner einzigartigen Stellung
in Braunfchweig an erfter Stelle führenderTheologe,
ein gemäßigter Lutheraner, aber noch erfüllt von der
taufrifchen Glaubenslehre des Reformationszeitalters, und
gerade diefer Charakter macht feine Hauptfchrift ,Examen
Concilii Tridentini' noch heute lefenswert; aber auch
feine Glaubens- und Sittenlehre, die er als ,Bericht von
etlichen Artikeln der Lehre' in Herzog Julius' Kirchenordnung
1569 gefchrieben, und die durch das Corpus
doctrinae Julium 1576 fymbolifches Anfehen in Braunfchweig
und von 1584—1900 auch in Kalenberg (Hannover
) gehabt hat, ift inhaltlich durchaus nicht veraltet.
(Diefe Schrift hat M. überhaupt nicht erwähnt.) Ich
fchätze alfo Chemnitz erheblich höher ein, als Mumm
hier getan hat.
Göttingen. Paul Tfchackert.
Unger, Priv.-Doz. Dr. phil. Rudolf, Hamanns Sprachtheorie
im Zusammenhange feines Denkens. Grundlegung zu
einer Würdigung der geiftesgefchichlichen Stellung des
Magus in Norden. München, C. H. Beckfche Verlagsbuchhandlung
1905. (VIII, 272 S.) gr. 8° M. 6.50
Nicht einen Beitrag zur allgemeinen Sprachwiffen-
fchaft will das vorliegende Buch liefern, fondern ,eine
unbefangenere und gerechtere Würdigung Hamanns und
feiner geiftesgefchichtlichen Stellung anbahnen'. Dazu
bildet die Unterfuchung feiner Sprachtheorie nur einen
befonders gefchickt gewählten Ausgangspunkt, wenn auch
diefes Problem, wie fich aus dem Buch felbft ergibt, nicht
fo im Mittelpunkt der Gedanken H.s geftanden hat, wie die
Einleitung will. So gehört der I.T.(Grundlagen) durchaus
zur Sache mit feinen außerordentlich anfprechenden,
von wohlberechtigter perfönlicher Anteilnahme an diefer
eigenartigen Perfönlichkeit begleiteten Ausführungen über
Art und Richtung des Denkens H.s. feine religiöfen
und philofophifchen Grundüberzeugungen. Mit verftänd-
nisvoller Objektivität wird H.s Denken charakterifiert:
feine Formlofigkeit, feine mangelnde Gedankenzucht,
die fich nicht bloß aus Erziehung und Gewohnheit,
fondern aus urfprünglicher Anlage erklärt, aus der übermächtigen
Einwirkung des Willens-, Gefühls- und Phan-
tafielebens auf den Intellekt. So ift für H. die Intenfität
der Empfindung Kriterium der Wahrheit. Er nähert fich
dem geifligen Typus des KünfUers, ohne doch Maß,
Harmonie, Beherrfchung und Geftaltungskraft genug zu
befitzen. Eine eigentümliche Vorliebe für Widerfprüche
und Mißverftändniffe läßt geradezu auf eine gewiffe
Mifologie fchließen. Seit feinem entfcheidenden Londoner
Erlebnis befchäftigen ihn eigentlich nur einige wenige große
Probleme, es gibt von da an keine Entwicklung mehr
bei ihm, und wie er kein Zu-Ende-Denken der Probleme
kennt, bleibt fein ganzes geiftiges Lebenswerk ein großartiger
Torfo.
Eine fehr eingehende Unterfuchung ift den mate-
rialen Grundlagen des H.fchen Denkens gewidmet.
Im beherrfchenden Mittelpunkt fteht die Religion. Von
Haufe aus durch den Pietismus mit Einfchluß der Aufklärungsgedanken
beeinflußt, bleibt H. feit feiner entfcheidenden
Londoner Bibellektüre in feiner ganzen
Auffaffung der Bibel wie feiner exegetifchen Praxis von
der pietiftifchen Theologie abhängig bis auf den Fort-
fchritt von der Typologie zur Allegorefe im großen.
Den myftifch-allegorifchen Schriftfinn hypoftafiert er dann
tatfächlich in faft alexandrinifcher Weife zur Logosidee.
Die Bibel ift ihm Grundlage und Werkzeug der fich in
jedem Gläubigen vollziehenden Fleifchwerdung des göttlichen
Geiftes, und er geht weiter zum Gedanken einer
fymbolifierenden Offenbarung Gottes in allem kreatür-
lichen Sein. — H.s Erkenntnistheorie, foweit fie
durchfichtig ift, ift trichotomifch (Sinne, Verftand — Vernunft
, Glaube). Er verwertet hier Gedanken des eng-
lifchen Senfualismus und Skeptizismus (Hume). Seiner
ingrimmigen Abneigung gegen den Rationalismus der
Aufklärung empfahl fich Humes Leugnung des Vermögens
der Vernunft, Überfinnliches zu erkennen. Heftig
bekämpft er das Abftrahieren und Syftematifieren der
Wolfffchen Begriffsfcholaftik. Mit feiner durchaus intuitiven
Geiftesart und feinem Eintreten für den berechtigten
Einfluß von Wille und Gefühl auf die Erkenntnis
wird er zum Anbahner in der voluntariftifchen Pfycho-
logie. Die Vernunft ift ihm nur ein ,Orbil zum Glauben',
eine Theorie, die er der Myftik entnimmt, mit der er
auch die Unfähigkeit teilt, vom Glauben als einer höheren
Erkenntnisart deutliche Rechenfchaft zu geben. Das
fpezififche formale Prinzip für die höhere Erkenntnis ift
das ihm von Nie. Cufanus durch G. Bruno zugekommene
prineipium coincidentiae oppositorum, das fein Lieblings-
fatz wurde, charakteriftifcher Weife, ohne daß er feinen
Sinn näher kannte. Er faßt darin feinen Widerfpruch
gegen die ihm verhaßten Diftinktionen der rationalifti-
fchen Philofophie und den unklaren Einheitsdrang feiner
Geiftesart zufammen. — Sein gefchichtsphilofophi-
fches Denken läßt das allmähliche Aufkeimen des ge-
fchichtlichen Entwicklungsgedankens beobachten. Doch
handelt es fich bei ihm nur um eine von übernatürlichen
Mächten zum religiöfen Endziel geleitete und vom
Gläubigen mehr geahnte als erkannte Entwicklung. Wie
er in Israels Gefchichte einen fymbolifchen Abriß der
Weltgefchichte findet, fo ift feine ganze Gefchichtsauf-
faffung fymbolifch. Zum Verftändnis der G. bedarf es
der vis divinandi des Dichters, und das einzig Intereffante
an allem Gefchichtlichen bleibt ihm der Charakter der
G. als Gottesoffenbarung.
Der 2. Teil, über die Sprachtheorie, bedeutet
nunmehr eigentlich nur eine Veranfchaulichung der ge-
fchilderten Geiftesrichtung H.s in ihrer Anwendung auf
ein fpezielles Problem. All feine Kritik und Polemik
gilt hier nicht eigentlich diefer oder jener falfchen Sprachtheorie
, fondern dem feiner religiös-fymbolilchen An-