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Ausgabe:

1906 Nr. 4

Spalte:

102-106

Autor/Hrsg.:

Müller, Adolf

Titel/Untertitel:

Geschichtskerne in den Evangelien nach modernen Forschungen. Marcus und Matthäus 1906

Rezensent:

Hoffmann, Richard Adolf

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IOI

Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. 4.

102

Es ift aber eine Tatfache, daß jene Kunft auch nachher
noch von manchen fehr korrekten Rabbinen gepflegt
wurde. Die Werke Bachers (Die Aggada der Tannaiten,
und: Die Aggada der paläftinenfifchen Amoräer) enthalten
dafür reichliche Belege. Es ift eben eine Fiktion,
daß gefetzliche Richtung und Apokalyptik Gegenfätze
feien. Daß fie das nicht find, erkennt Hölfcher felbft an,
indem er ihr Zufammenfein für reichlich zwei Jahrhunderte
(Makkabäerzeit bis zur Zerftörung des Tempels)
zugibt. Wie kann alfo aus der gefetzlichen Richtung
die Ablehnung der Apokalyptik und aus diefer wieder die
Kanonsbildung erwachfen fein? — Sehr fchwach ift in
der ganzen Konftruktion auch die für fie fundamentale
Vorausfctzung, daß man, um die apokalyptifche Literatur
zu treffen, alles Vormofaifche abgelehnt habe. War
denn Vater Abraham eine geringere Autorität und weniger
.Prophet' als Mofes?

Möchte es dem Verf. doch gefallen, feine Kräfte der
Löfung befriedigenderer Aufgaben zu widmen!

Göttingen. E. Schürer.

Die Septuaginta-Papyri und andere altchriftliche Texte der
Heidelberger Papyrus-Sammlung. Herausgegeben mit
Unterftützung des großherzoglich badifchen Mini-
fteriums der Jufliz, des Kultus und Unterrichts von
Prof. D. Adolf Deißmann. Mit 60 Tafeln in Lichtdruck
. (Veröffentlichungen aus der Heidelberger
Papyrus-Sammlung I.) Heidelberg, C. Winter, Verlag
1905. (IX, 107 S.) 40 Kart. M. 26 —

Befchäftigung mit fremden Papyruspublikationen
hatte dem Herausgeber und durch ihn unferer Wiffen-
fchaft bereits reiche Früchte getragen. Mit welcher Genugtuung
mag er jetzt an die Aufgabe gegangen fein,
feinerfeits die altchriftlichen Stücke der 1897 begründeten
Heidelberger Papyrusfammlung erftmalig herauszugeben!
Man fpürt es der Veröffentlichung noch an, die fleh
mit ihrer liebevollen und erfchöpfenden Behandlung der
Texte wie mit ihren vortrefflich gelungenen Tafeln den
beften an die Seite Hellt.

Das erfte und Hauptftück bilden 27 mehr oder
weniger gut erhaltene Blätter eines Septuagintakodex
aus dem 7. Jahrhundert (fo auch nach Blaß), reichend
von Zacharia c. 4 bis Maleachi c. 4. Auf diefe Blätter
entfallen bei Deißmann 75 Seiten Text und 56 Tafeln.
Die, wie es fcheint, aus dem Faijüm flammende Hand-
fchrift ift 1889 von dem bekannten Wiener Th. Graf in
Kairo erworben und durch den Kaplan der britifchen
Botfchaft in Wien W. H. Hechler 1892 auf dem neunten
Orientaliflenkongreß in London der Welt fignalifiert
worden. In den folgenden Jahren wurde fie ,verfchie-
denen Bibliotheken zur Erwerbung' angeboten — auch
ich habe 1892 mit Hechler und 1896 mit Th. Grafs Bruder
über fie Briefe gewechfelD, und in Berlin hatte wohl um
diefelbe Zeit, wenn ich mich eines Gefpräches richtig
entfinne, Dillmann ihren Wert außer Verhältnis zu der
geforderten Summe gefunden. 1900 ift fie dann endlich,
offenbar für einen wefentlich geringeren Preis, in den
Belitz der Heidelberger Univerfitätsbibliothek gelangt.
Die Bedeutung der Handfchrift befteht nach den eingehenden
Unterfuchungen des Herausgebers nicht etwa
in einem hervorragend alten oder fingulären Texte. Aber
daß die Refte diefer .ägyptifchen Dorfbibel' eine fehr
ftarke Verwandtfchaft mit der befonders feit Ceriani als
hefychianifch betrachteten Gruppe von Textzeugen aufweilen
, ift geeignet, diefe Hefychiushypothefe noch weiter
zu ftützen.

Es folgen: ein griechifch-koptifches Pergamentblatt
mit Exod. 15 und I. Sam. 2(?); ein Pergamentblatt mit

1) Sie ift auch in meinen Analtcta S. 5 kurz erwähnt.

Marc. 630-42; ein Pergamentblatt mit Act. 2830. 31 Jak. 1 u.
Dazu Tafeln 57»b 58ab 59ab.

Von größerem Intereffe ift dann wieder ein Papyrusblatt
des 3. Jahrhunderts (Tafel 57c). Es fleht aus wie
eine kleine Auswahl aus einem chriftlichen etymologifchen
Lexikon hebräifcher Worte (bef. Eigennamen). Nach
welchem Gefichtspunkte die Wahl getroffen ift, läßt fich
freilich kaum beftimmen. Wenn auch die Mehrzahl theo-
phore Eigennamen find, fo doch nicht alle; und follte
eine Summe folcher Namen wie

ICDNA0AN ein Amulett ergeben? Man könnte doch
eben fo gut vermuten, daß wir hier den Reft eines
Lexidions zu einem ganz beftimmten Stück altchriftlicher
Literatur vor uns haben. Übrigens find noch nicht alle
Zeilen ficher wieder hergeftellt.

Das fechfte und letzte Stück bildet ein intereffanter
altchriftlicher Originalbrief aus dem 4. Jahrhundert
(Tafel 60). Ein gewiffer Juftinus fucht fich durch ihn,
unter gleichzeitiger Überfendung von etwas Öl, das für-
fprechende Gebet eines hochverehrten heiligen Mannes,
Paphnutius, zu verfchaffen. Das nähere mag man bei
Deißmann felbft nachlefen.

Kiel. Erich Kloftermann.

Müller, D. Adolf, Gelchichtskerne in den Evangelien nach
modernenForfchungen. Marcus undMatthäus. Giefzen,
A. Töpelmann 1905. (XI, 144 S.) gr. 8° M. 3 —

Wendling, Dr. Emil, Ur-Marcus. Verfuch einer Wieder-
herftellung der älteften Mitteilungen über das Leben
Jefu. Tübingen, J. C. B. Mohr 1905. (III, 75 S.) gr. 8°

M. 1.50

Die modernen Forfchungen, mit Rückficht auf welche
A. Müller die Gefchichtskerne in den beiden erften
Evangelien herausftellen will, find vor allem gewiffe Ab-
fchnitte in Wernles Schrift über die fynoptifche
Frage, Wredes ,Meffiasgeheimnis in den Evangelien
' und ,Das ältefte Evangelium' von Joh. Weiß.
Aus diefen Büchern gibt er zum Teil recht ausführliche
Exzerpte (S. 6—61, 67—78), die manchem Lefer, dem
jene Schriften nicht zur Hand find, zur Orientierung
willkommen fein werden. Freilich geht es dabei, wie es
bei Inhaltsangaben fo zu gefchehen pflegt, nicht ohne
Unklarheiten und Flüchtigkeiten ab. So entfpricht es
z. B. S. 47 wohl der Anfchauung von J. Weiß, wenn M.
fchreibt: Die Stoffe der Erzählungen des Marc, flammen
zum größten Teile aus guter Überlieferung, aber keineswegs
, wenn er fortfährt: und werden von ihm umgedichtet
. Auch die weiteren Exzerpte befagen das nicht,
welche M. felbft aus J. Weiß gibt. Die Wiedergabe der
Zitate nach Kapitel- und Verszahl ift nicht immer
korrekt. So fehlt z. B. verfchiedentlich das in den Vorlagen
richtig angegebene ff., durch welches die betr.
Zitate erft ihren Sinn bekommen (Marc. 12,34 auf S. 44;
4, 14 S. 47; Matth. 17, 11 S. 71; 19, Ii S. 72).

Es ift nach M. nicht angängig, alles Tatfächliche,
was uns bei Matth, und Marc, aus dem Leben Jefu berichtet
wird, ins mythifch-allegorifche aufzulöfen. Vor
allem in den Worten Jefu, die uns zum Teil noch mit
Angabe der konkreten Situationen, in denen fie ge-
fprochen wurden, erhalten find, liegen unzerftörbare und
religiös ungemein wertvolle Gefchichtskerne vor. Aus
ihnen geht hervor, daß Jefus fich als Meffias, als den
kommenden Weltrichter gefühlt habe. Nicht ausge-
fchloffen ift, daß er auch den Terminus Menfchen-
fohn in meffianifchen Sinne auf fich angewandt hat.
Eine gefchichtlich begründete Reihenfolge der Ereigniffe
des Lebens Jefu liegt aber in keinem der Evangelien
mehr vor, auch nicht in Marc, wie M. gegen Wernle
betont. Auch im einzelnen ift manches, was uns an
Machterweifungen Jefu bei feinen Heilungen, konkreten
Vorausfagungen feines Schickfals u. a. berichtet wird,