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Ausgabe:

1906 Nr. 26

Spalte:

714-716

Autor/Hrsg.:

Niebergall, Friedrich

Titel/Untertitel:

Wie predigen wir dem modernen Menschen? 2. Teil: Eine Untersuchung über den Weg zum Willen. 1. u. 2. Aufl 1906

Rezensent:

Bassermann, Heinrich

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Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. 26.

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gegengefetztes Vorurteil erwecken. Möge der Inhalt des
Bandes felbft von feinem Wert oder Unwert zeugen.

Den Ausgangspunkt bildet die Behauptung, daß die
fittlichen Begriffe und Urteile ftets auf Gefühle zurückgehen
. Und zwar handelt es fich um folche der Ent-
rüftung oder Mißbilligung einerfeits, der Zuftimmung
oder Billigung anderfeits. Diefe Gefühle gehören der
Gattung der .retributiven' Gefühle an, die gleichfalls in
mehr feindlich geartete, wie Zorn und Rachbegier, und
mehr freundlich geartete, wie Dankbarkeit, zerfallen. Auch
die mit Vergebung verbundene Mißbilligung ift nur ein
verfeinertes retributives Gefühl.

Welches find nun aber die fpezififchen Merkmale
der fittlichen Gefühle? Wodurch unterfcheiden fie fich
von der Gattung, in die fie eingeordnet find? Wodurch
von den retributiven Gefühlen im allgemeinen? Dadurch,
daß fie unintereffiert und unparteiifch find und einen ge-
wiffen Zug der Allgemeingültigkeit (flavour of generality)
an fich haben. Und wie find fie entftanden? Während die
nichtfittlichen retributiven Gefühle fich ihrer Nützlichkeit
wegen einfach aus dem Gefetz der natürlichen Zuchtwahl
begreifen laffen, erklärt fich die jeweilige Umgeflaltung
derfelben zu fittlichen Gefühlen daraus, daß altruiftifche
Triebe und das Bewußtfein der Zufammengehörigkeit und
Solidarität mit in Wirkfamkeit traten. Eben infolge deffen
nahmen an und für fich egoiftifche retributive Gefühle
den Charakter von unintereffierten, unparteiifchen, allgemein
geteilten retributiven Gefühlen an.

Nachdem Verf. fo Rechenfchaft abgelegt hat über
Wefen und Urfprung der moralifchen Gefühle, faßt er
die Begriffe fchärfer ins Auge, die in den ethifchen Urteilen
als Prädikate erfcheinen, und fucht an einzelnen
Beifpielen wie bös, fchlecht, unrecht, recht, gut, pflichtmäßig
, überpflichtmäßig, zu zeigen, daß ihnen wirklich
ftets Gefühle der Entrüflung oder Mißbilligung und der
Zuftimmung oder Billigung zugrunde liegen. Mit andern
Worten, er fucht einen induktiven Beweis zu führen
für die Thefe, von der er ausgegangen war.

Nunmehr wendet er fich einer neuen Aufgabe zu: es
follen die Subjekte innerhalb der ethifchen Urteile be-
fprochen werden; das heißt, es foll feftgeftellt werden,
was eigentlich genau als bös oder gut, als recht oder
unrecht in diefen gewertet wird. Dabei follen als Hauptquellen
die Sitten und Gefetze benutzt werden, ein Verfahren
, deffen Berechtigung in ausführlicher Argumentation
verteidigt wird.

Als allgemeinftes Refultat der Unterfuchung ergibt
fich, daß überall, und zwar um fo beftimmter, je weiter
die Entwicklung fortgefchritten ift, nicht der äußere Erfolg
der Handlung, fondern der fich darin verwirklichende
Wille als Gegenftand der fittlichen Beurteilung auftritt. 1
Das fchließt nicht aus, daß die geiftige Gefundheit des Men-
fchen, die Motive, die augenblickliche Gemütsverfaffung,
die begleitenden Umftände bei der Fällung der Urteile mit
berückfichtigt werden. Das fchließt ferner nicht aus,
fondern geradezu ein, daß je fpäter je mehr nicht nur
Handlungen, fondern auch Unterlaffungen mit in Betracht
gezogen werden. Das gewonnene Ergebnis beftätigt zugleich
in eigentümlicher Weife die Lehre, daß die ethifchen
Urteile ftets auf eine Abart der retributiven Gefühle
zurückgehen; denn folche find im Grunde nur einem
Willen gegenüber möglich.

Weiter ins Detail gehend, richtet Verf. feine Auf-
merkfamkeit auf die einzelnen Willensäußerungen, und
zwar zunächft auf diejenigen, die fich ,auf die Intereffen
anderer Menfchen, auf deren Leben oder leibliche Un-
verfehrtheit, Freiheit, Ehre, Eigentum ufw.' beziehen.

An der Hand eines umfaffenden anthropologifchen
und gefchichtlichen Materials tut er dar, daß allerorten
die Vernichtung menfchlichen Lebens grundfätzlich verurteilt
wird. Nur ift der Kreis derjenigen, deren Tötung
gemißbilligt wird, anfangs ein enger, um allmählich ein
immer weiterer zu werden. Wie die fittlichen Urteile

überhaupt, fo erklärt fich auch das Verbot des Tötens aus
den angegebenen retributiven Gefühlen, feine progreffive
Ausdehnung aber aus dem Umftand, daß die altruiftifchen
Triebe mit der Zivilifation wachfen, und die Gemein-
fchaften, die durch die Befeitigung eines ihrer Glieder
gefchädigt werden, mit der Zeit an Umfang zunehmen.
Freilich fpielt auch oft die Furcht vor dem Geift des
Erfchlagenen eine Rolle. Im Anfchluß an diefe Ausführungen
werden dann noch einzelne Verfchärfungen
oder Einfchränkungen erörtert, die das Verbot des Tötens
unter dem Einfluß befonderer Umftände erfährt: fo kommt
Verf. fpeziell auf Eltern- und Kindesmord, auf Weiber-
und Sklavenmord, auf Menfchenopfer, die Blutrache,
das Duell, die Todesftrafe zu fprectien.

In den folgenden letzten Kapiteln geht er endlich
auf die fittlichen Urteile ein, die es mit Körperverletzungen,
Mildtätigkeit und Wohltätigkeit, Gaftfreundfchaft, Unterordnung
der Kinder unter die Gewalt der Eltern und
der Weiber unter die Gewalt der Männer, fowie mit der
Sklaverei zu tun haben. Immer wieder werden diefelben
in letzter Inftanz aus retributiven Gefühlen abgeleitet.
Nur in dem Abfchnitt, der von der Unterordnung der
Weiber handelt, fcheint das nicht recht gelingen zu wollen
. Der religiöfe Faktor fpielt eine durchaus fekundäre
Nebenrolle, oder aber er wird nur infofern in Rechnung
gezogen, als von Menfchen gefprochene Fluch- und
Segensformeln ihrerfeits geeignet find, retributive und
verwandte Gefühle auszulöfen.

Soweit der Inhalt des vorläufig allein vorliegenden
erflen Bandes. Eine definitive Beurteilung wird man
billigerweife auffchieben müffen, bis das Werk abge-
fchloffen ift. Darüber aber darf jetzt fchon geklagt werden
, daß der formale Charakter der ethifchen Normen,
ihr Anfpruch auf unbedingte Gültigkeit nicht gebührend
berückfichtigt worden ift: hier rächt fich die Vernach-
läffigung von Vorarbeiten, deren fich die deutfche Philo-
fophie um fo eifriger befliffen hat. Mit diefer Ignorierung
einer wichtigen Eigentümlichkeit fleht in Zufammenhang,
daß die vorgetragene Lehre über die Entftehung des
Sittlichen fchwerlich eine befriedigende genannt werden
kann: wie viel tiefer erfcheinen da doch immerhin
Theorien wie die von Münfterberg oder Wundt! Und
auch das wird Refer. ausfprechen dürfen, ohne fich eines
leichtfertigen und unter allen Umfländen zu vermeidenden
Dilettantismus fchuldig zu machen, daß die Erklärung
der nichtfittlichen Gefühle aus dem bloßen Gefetz der
natürlichen Zuchtwahl als folchem dem gegenwärtigen
Stand der naturwiffenfchaftlichen Forfchung nicht ent-
fpricht: fo hoch wird das Selektionsprinzip heute nicht,
mehr eingefchätzt, daß es für alles allein aufzukommen
vermöchte. Auf der andern Seite darf gleichfalls jetzt
fchon gefagt werden, daß das Buch, wenn es in der Deutung
des Materials nicht genügt, in der Sammlung desfelben
Grandiofes geleiftet hat. Die Belefenheit des Verf. auf den
verfchiedenften Gebieten, das theologifche nicht ausge-
fchloffen, ift erftaunlich. Welche Bewandtnis es auch
immer mit feiner Anfchauung über den Urfprung der
Moral haben möge, unter allen Umftänden wird fein
Werk eine höchft beachtenswerte Zufammenftellung von
Daten und Paradigmen aus der Sittengefchichte und
einen wertvollen Beitrag zu diefer bedeuten.

Straßburg, i. E. E. W. Mayer.

Niebergall, Priv.-Doz. Lic. F., Wie predigen wir dem
modernen Menfchen? Zweiter Teil. Eine Unterfuchung
über den Weg zum Willen. Erlte und zweite Auflage
. Tübingen, J. C. B. Mohr 1906. (VIII, 202 S.) gr.8°

M. 3-

Diefer 2. Teil des Niebergallfchen Werkes fchließt
fich genau an den 1. an. Hatte der Verf. dort ausgeführt,
daß es die Aufgabe des Predigers fei, ,Motive und