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Ausgabe:

1906 Nr. 25

Spalte:

689-691

Autor/Hrsg.:

Clemen, Carl

Titel/Untertitel:

Predigt und biblischer Text. Eine Untersuchung zur Homiletik 1906

Rezensent:

Achelis, Ernst Christian

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Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. 25.

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Produkt einfacherer Faktoren verwandeln können, das
die wunderbare Eigenfchaft hat, fich ohne Hinzutritt von
irgend etwas Neuem doch den Schein einer neuen, das
bloße Produkt überfchießenden, qualitativen Einheit zu
geben, fo halte ich dagegen die Erwartung für begründet
, daß Wundts Völkerpfychologie die Religion als eine
geiflige Schöpfung auffaffen wird, in der eine wirklich
neue, felbftändige Qualität aus dem menfchlichen Gemüt
heraustritt.

Leipzig. K. Thieme.

Clernen, Prof. Lic. Dr. Carl, Predigt und biblischer Text.

Eine Unterfuchung zur Homiletik. Gießen, A. Töpel-
mann 1906. (IV, 88 S.) gr. 8° M. 2 —

,Die nachgehende Abhandlung behandelt Fragen,
die in diefer Weife einmal aufgeworfen und beantwortet
werden mußten. Es geht nicht an, immer nur der Gewohnheit
zu folgen', heißt es im Vorwort. Das Ergebnis
der Unterfuchung, das als das notwendige Ergebnis
der bisherigen Entwicklung zu erweifen fei, laffe
fich in die drei Sätze zufammenfaffen: 1) ein biblifcher
Text ift für die Predigt nicht unbedingt nötig, aber in
den meiften Fällen möglich und empfehlenswert; 2) er
muß dann wirklich der Predigt zugrunde gelegt werden;
3) es find nur folche Texte zu wählen, bei denen das
angeht. Überrafchend neu ift dies Ergebnis allerdings
nicht; vor 350 Jahren hat Andreas Hyperius ähnlich
fich ausgefprochen, und die neuere Homiletik kommt fo
ziemlich einftimmig auf dasfelbe hinaus, natürlich unter
Modifikationen. Das Neue wird alfo wohl in der Begründung
liegen, die ,in diefer Weife' noch nicht, jedenfalls
nicht mit fo weitfchichtiger Belefenheit, vorgenommen
ift.

Die Einleitung' (S. I —12) foll, fo viel ich fehe,
die Stellung der Predigt im evangelifchen Kultus rechtfertigen
. Es wird freilich noch über manches andre ge-
fprochen, über den fog. Kanzelgruß, über das Schlußvotum
Phil. 47, das ,faft immer nurfo hergefchnurrt' werde,
über das freie Gebet nach der Textverlefung oder nach
der Einleitung u. dergl. m., wodurch die Aufmerkfamkeit
von der Hauptfache abgelenkt wird. Welches ift nun die
Stellung der Predigt? ,Sie läßt fich innerhalb des Kultus
nach wie vor ertragen' (S. 11); doch wenn fie der Aus- I
druck des gegenwärtigen Glaubens fei — ift fie denn
fonft Ausdruck des vergangenen oder des zukünftigen
Glaubens? —, fo bedürfe der Kultus der Predigt. Das
liegt nun fehr weit ab von dem Fundamentalfatz evange-
lifcher Homiletik, daß die Predigt das Zentrum des Gottes-
dienftes ift. Der Fehler wird wohl in der Definition des
evangelifchen Gottesdienftes und fpeziell der Predigt
liegen. Ift der Kultus ,die gemeinfame Darfteilung des
religiöfen Bewufttfeins zum Zweck der Belebung' (S. 8)
■— ftatt: ,die Darftellung des gemeinfamen religiöfen Be-
wußtfeins' etc. —, fo geht er im Gefange des Kirchenliedes
auf, und für die Predigt bleibt in der Tat kein
Raum. Der Verfaffer hätte doch recht daran getan, fich
nicht an den mißverftandenen Buchftaben Schleiermachers
zu binden, vielmehr auf die Weiterbildung der epochemachenden
, wenn auch einfeitigen Auffaffung des großen
Theologen Rückficht zu nehmen.

Der 1. Teil (S. 13—38) fucht die Frage zu beantworten
: ,Bedarf die Predigt eines biblifchen Textes?'
Unbedingt nötig ift der Text gewiß nicht' (S. 27). Ganz
einverftanden; aber weshalb nicht unbedingt nötig? So
viel ich fehe, hebt der Verf. zwei Gründe hervor:
1) weil wie meiftens zugeftanden wird, die Kafualrede
einen Text nicht nötig habe, 2) weil die Bibel nicht an fich
die höchfte Autorität fei, fondern nur fofern fie mit
unferer Erfahrung übereinftimme; das führe aber nicht
auf einen biblifchen Text. Gewiß nicht; aber daß mit
diefen Gründen weder für noch gegen die Notwendigkeit
des Textgebrauchs in der Predigt etwas gefagt fei, fcheint |

mir auch einzuleuchten. Der durchfchlagende Grund
würde aus dem Wefen der Predigt und aus der Tatfache
zu entnehmen fein, daß der Gebrauch des Textes
weder die Chriillichkeit, noch die Wahrheit — der Verfaffer
unterfcheidet beides — der Verkündigung garantiert
; aber das Wefen der Predigt wird nicht in Betracht
gezogen. ,Warum follen wir nach einem Text fuchen?',
fragt der Verfaffer, um den üblichen Textgebrauch zu rechtfertigen
. Die Antwort lautet: Man wird feiner Predigt
einen Text geben, 1) wenn man im Texte den Grundgedanken
möglichft eindringlich zufammengefaßt findet.
Das braucht allerdings kein biblifcher Text zu fein;
aber 2) in der Bibel finden fich prägnante Worte be-
fonders unnachahmlich (Worte Jefu und des Paulus werden
angeführt); 3) Bedeutungsvoller als einzelne Worte find die
ganzen Perfönlichkeiten, auch aus der Kirchengefchichte,
aber befonders biblifche Perfönlichkeiten, vor allem Jefus.
Aber führt das denn auf den Einzeltext? Nach einer
Digreffion über die Frage, ob denn ein Text für jeden
Gegenftand der Verkündigung da fei, die, fo viel ich
fehe, der Verfaffer bejaht, werden noch zwei Gründe für den
Textgebrauch angeführt: 1) in der Schrift fei die grund-
legendeOffenbarungGottes bezeugt, 2) dieGemeinde werde
durch den Textgebrauch in die hl. Schrift eingeführt. — Nur
praktifche Gründe fprechen für den Textgebrauch, Gründe,
die fich aus der Rückficht auf die Gemeinde, auf die
Begrenzung der Predigt, auf die intellektuelle und die
religiös-fittliche Zucht des Predigers ergeben. Daß die
heil. Schrift — felbftverftändlich mit Auswahl — ihre
Herrlichkeit gerade durch den richtigen Textgebrauch dem
Prediger und der Gemeinde offenbaren kann, und daß
fie in einzigartiger Weife geeignet ift, in dem Einzelnen
des Textes das Ganze zu vergegenwärtigen, würde den
Gebrauch des biblifchen Textes als allein berechtigt
erweifen.

In dem zweiten Teile (S. 39—60), der die Frage
beantworten foll: ,Wie ift der Text zu benutzen?', tritt
der Verf. dafür ein, daß der Text nicht Motto, fondern
Grundlage der Predigt fein muffe und einer Auslegung
bedürfe; nicht ein einzelner Zug fei zu behandeln, und
ein Umdeuten nicht geftattet. Auch über allegorifche
Auslegung — alle Gleichniffe Jefu hätten die Evangeliften
als Allegorien angefehen (S. 50)?! — und Behandlung
der Wundererzähiungen werden einige, jedoch unzureichende
Bemerkungen vorgebracht, während auf Kardinalfragen
, wie der Prediger fich zu den Schriftbeweifen der
Apoftel, befonders des Paulus, und zu der Theologie
der Apoftel zu verhalten habe, d. h. ob oder inwieweit
fie für ihn und für den Glauben der Chriften überhaupt
maßgebend find, mit keinem Worte Rückficht genommen
wird.

Der dritte Teil (S. 60—88) endlich erörtert die
Frage, nach welchen Grundfätzen der Text auszuwählen
fei. Aus der im allgemeinen richtigen Regel, der Text
müffe die Gedanken, die man ausfprechen will, wirklich
enthalten — fie können auch Folgerungen aus dem Texte
fein —, wird die Unbrauchbarkeit des Alten Teftaments
mit Ausnahme von geblatteten oder gar gebotenen Um-
biegungen des urfprünglichen Sinnes hergeleitet, werden
alle poetifchen Stücke der Bibel — ausdrücklich werden
die Pfalmen 46 und 90, Rom. 8, 1 Kor. 13 und die
Gleichniffe Jefu (!) genannt — als Predigttexte verworfen.
Für Feffpredigten aller Art will der Verf. faft ausfchließ-
lich epiftolifche Texte zulaffen; felbft für die Paffionszeit
werden nur fchüchterne Konzeffionen zugunften evange-
lifcher Texte gemacht. Die Verkennung des unvergleichlichen
religiöfen Wertes der Perfon Jefu und der
in ihm vollendeten Offenbarung Gottes macht fich auch
der Paffion des Herrn gegenüber geltend.

Zum Schluß noch eine Bemerkung. Der Grundfatz,
daß das maßgebende Prinzip für die Wahl des Themas
und Textes die Rückficht auf die Bedürfniffe der Gemeinde
fei (S. 81), ift gewiß nicht zu verwerfen; mit ihm