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Ausgabe:

1906 Nr. 2

Spalte:

45-50

Autor/Hrsg.:

Kreyenbühl, Johannes

Titel/Untertitel:

Das Evangelium der Wahrheit. Neue Lösung der Johanneischen Frage. Zweiter Band 1906

Rezensent:

Holtzmann, Heinrich Julius

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Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. 2.

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für ihn ift die Zeit der Rettung und hiftorifchen Gerechtigkeit
gekommen' (S. 157 f), fo fchwer er es auch durch
,Geheimnistuerei' und zuweilen recht gefchmacklofe und
paradoxe Allegorien (S. 346. 540) uns Heutigen gemacht
hat, den Dingen auf den Grund zu fehen (S. 103), ,und fo
mangelhaft wir abgefehen von den Stellen 2, 20. 5, g.
8, 57. 9, 21 über feine Lebensverhältniffe unterrichtet
find (S. 114). Um fo ficherer fehen wir ihm durch die
johanneifchen Chriftusreden ins Herz; denn er redet .unter
der Maske Jefu' (S. 229): er fteckt hinter dem johanneifchen
eyco slfu. Durchweg erfcheint diefer Jefus = Menan-
dros' (beide Perfonen gehen auch in der Gefchichtserzäh-
lung S. 191 f. ganzlich ineinander über) als Vertreter einer
rein geiftigen Religion, die nur als perfonlicher Lebenswert
erfahren werden kann, als ein idealiftifcher Theologe, der
,im Namen des myftifch-ethifchen und perfönlichen
Chriftentums das großkirchliche, finnlich-fleifchliche,
hierarchifch geleitete, abergläubigen Riten huldigende,
Chriftus vergötzende, die fleifchliche Auferftehung erwartende
, fanatifch verfolgungsfüchtige Chriftentum verwirft'
(S. 82); ein Chriftenium, das mit der fleifchlich gefaßten
Auferftehung nur ein neues Grab für Chrifius gegraben
(S. 649) und mit dem Abendmahl, diefer Grundinftitu-
tion der Großkirche, die Religion gründlich verdorben
und materialifiert hat (S. 13 f.). Diefes vor allem tronifiert
Menander in der Rede vom Genießen des Fleifches und
Blutes (S. 61 f. 65) als ßQcööiq cljtoXXviievrj (S. 64. 72); ihm
fetzt er als Zentrum feiner Religion das ,ewige Leben',
die höchfte Idee des vierten Evangeliums, entgegen (S. 76).
Aus einer von Haus aus jüdifchen Familie Galiläas hervorgegangen
(S. 3 f. 301. 598) und von femitifchem Mutterwitz
nicht verlaffen (S. 156. 378). hat er, als Kranker von
Bethesda. 38 jähre in der Großkirche zu Antiochia zugebracht
(S. 9), aber, endlich fehend geworden (Kap 9), von
der Schwäche des kirchlichen Parufie- und Auferftehungs-
glaubens geheilt (Kap. 11), als gnoftifcher Reformer und
Heidenfreund eine Spaltung erregt (S. 12. 43), in deren
Folge er fchließlich exkommuniziert (9, 22. 34) und zur Bildung
einer eigenen Genol'fenfchaft (Bafilides, Satornilos,
Kerdon) genötigt worden ift (S. 50 f. 213). Daher die ,ganz
persönliche Polemik' (S. 204), die er befonders 10, 1—13,
aber auch durch das ganze Evangelium hin dem Manne
widmet, der über ihn und feine Anhänger das Anathema
gefprochen hat, dem antiochenifchen Bifchof Ignatius,
der unterem Verfaffer zufolge hier auftritt als Mietling,
als ungetreuer Hirt, der fein Amt erfchlictun und eigennützig
zur Ausbeutung der Gemeinde mißbraucht hat.
Derfelbe Ignatius erfcheint weiterhin 5, 43. 6,64.70.71. 8, n
Kreyenbühl, Dr. Johannes, Das Evangelium der Wahrheit. 13,7. 18,40. 20, 15 als Verräter und Dieb (Judas), als Teufel
Neue Löfung der Johanneifchen Frage. Zweiter Band. und Lügner, als Räuber und Mörder (Barabbas), beiläufig
auch als Gärtner. Schließlich ftellt ihn das auf

Grundfehler ift, daß er nur mit einem Fuß im hiftorifchen
Lager fleht. Unbewußt wird er beherrfcht von kirchlichen
Vorurteilen, die er aus einer früheren Periode behalten
hat. Diefe verraten ftch fchon in der Animofität,
mit der er uns in § 1—3 in F. Chr. Baur einen modernen
Marcion erkennen lehrt — ,dort wie hier die tiefften Er-
fchütterungen aller chriftlichen Fundamente'! — und nur
auf die Mängel in der Konftruktion jenes genialen Hifto-
rikers die Aufmerkfamkeit lenkt. Sie verraten fich auch
am Schluß S. 635 in der Freude, mit der er den Prote-
ftantismus zu diefem neueften Refultat der mühfeligen
Evangelienforfchung beglückwünfeht — als ob dem in
Wahrheit mit einer fo problematifchen fchriftlichen
Apoftelautorität, wie es Refchs Logia find, geholfen wäre.
Aber vor allem in den Einzelunterfuchungen zeigt fich,
daß die Kritik Refchs nicht bis zu den Sachen durchgreift
, daß er alle wefentlichen Differenzen nicht fehen
will: in feinen dogmatifchen wie ethifchen Eigentümlichkeiten
ift ihm Paulus immer felbftverftändhch ,der getreue
Exeget der eigentlichen Lehrreden Jefu', und das
heißt im Grunde der Vertreter von Refchs eigener Welt-
anfehauung. Mit Entrüftung weift er S. 615 die Annahme
einer Geringfehätzung des weiblichen Gefchlechts
bei Paulus ab: ,So atmet der Paulinismus (!) nicht die
brütend heiße Luft orientahfeher Askefe und orienta-
lifcher Frauenverachtung, fondern die reine Atmofphäre
chriftlichen Geiftes, der nach Jefu Vorbild auf die Verklärung
der Weiblichkeit hinzielt' (S. 616). So unglücklich
wie diefe Alternative formuliert ift, fo fchattenhaft
bleibt der ,Paulinismus', der von Refch auf 600 Seiten
mit einem Logia-Schattenbuch verglichen wird. Zahllofe
Fetzen von Paulusworten werden in die Rechnung eingeführt
, der Mann, in dem diefe Stücke eine Art von
erhabenem Ganzen geworden, bleibt hinter der Szene:
oder follte es der echte Paulus fein, der uns hier als
durch dreijähriges exegetifches Studijm in der apofto-
lifchen Urfchrift zum Heidenapoftel qualifiziert vorgcftellt
wird? Ich ziehe es vor, das Rätfei jener 3 Jahre in Arabien
ungelöft zu laffen, und finde in Refchs Buch trotz befter
Abficht faft eine Verfündigung an dem Genius des Paulus
und nicht minder an dem Geifte Jefu, der, wie mir
fcheint, nicht in diefer kleinlichen Art durch Vorfagen-
laffen von Worten, fondern durch den Eindruck feines
Werks als eines Ganzen den ehemaligen Gegner zu feinem
getreueften Jünger umgewandelt hat.

Marburg. Ad. Jülicher.

Berlin, C. A. Schwetfchke & Sohn 1905. (III, 842 S.
gr. 8°. M. 23—; vollftändig M. 43 —

Zufammen mit dem vor 5 Jahren erfchienenen erften
Bande umfaßt das Werk jetzt gerade 1600 Seiten. Unterzeichneter
darf fich zwar rühmen, fich durchgearbeitet
zu haben, kann aber an diefem Orte nur eine gedrängte,
den früheren Bericht (Jahrg. 1902, Sp. 6—11) ergänzende
Überficht über den Inhalt geben.

Nach wie vor handelt es fich um ,die Lehre vom
ewigen Leben, diefe lebendige Fortbildung des lebendigen
Geiftes Jefu und des Paulus in der Perfönlichkeit
des Menandros von Antiochia' (S. 231), der in feinem
.Evangelium der Wahrheit' der .Großkirche', innerhalb
welcher Jefus nur als jüdifches Fleifch {xctxd octQxa) vorhanden
ift' (S. 645), den Fehdehandfchuh hinwirft. Nachdem
Juftin, der diefen Vorkämpfer des chriftlichen Idealismus
noch als Verfaffer des vierten Evangeliums erkannt
hat, eine Fratzengeftalt aus ihm gemacht und die
Kirche fein Evangelium interpoliert, verfälfeht und dem
Apoftel Johannes untergefchoben hatte, Iriftete er nebft
feinem Vorgänger Simon von Gitta in der chriftlichen
Literatur ein obfkures Dafein als Ketzer. .Aber auch

feine Rechnung gefetzte Wort 11,50 als einziges Opfer der
135 (hiavrbq Exelvoq II, 61) über die antiochenifche Gemeinde
ergangenen Verfolgung (S. 446 f.), die Perikope
von der Ehebrecherin als bösartigen Feind der römi-
fchen Staatsmacht (S. 168), die Stelle von der einen Herde
10, i6 indirekt als kirchlichen Einheitsfanatiker (S. 225),
das Kennzeichen 10, 12 {XscoqeI xov Xvxov EQxöfievov xcu
cuptrjoiv xa MQoßaxa xal rpevyei als den lieblolen Fanatiker
dar, dtr mit feiner mutwillig provozierten Todesfahrt
nach Rom feine Gemeinde im Stiche ließ und fich
auch fo wieder der Pflicht einer liebevollen Pflege der-
felben entzog (S. 218 f.). ,Der Verfaffer uberfieht offenbar
abfichtlich, daß nicht eigentlich von einer Flucht
des Hirten die Rede fein kann, da ja Ignatius felbft vom
Verfolger ergriffen worden ift und lieh mithin durch die
Flucht nicht gerettet hat, noch hat retten wollen' (S. 219).
Bei diefem , erfaffer' denkt Kr. an Menandros, der Lefer
eher an Kr. felbft, welcher zum guten Schluß nun auch das
ovöt)c IjQtv avxijv an h/iov 10,18 zum Schaden des Märtyrers
deutet, der ,fich in die Lage begeben hat, fein Leben
gewaltfam durch einen Dritten zu verlieren'. Jetzt erft
ift ,die gefamte Situation von 10, 1—is zur vollendeten