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Ausgabe:

1906 Nr. 24

Spalte:

662-663

Autor/Hrsg.:

König, Erich

Titel/Untertitel:

Kardinal Giordano Orsini († 1438). Ein Lebensbild aus der Zeit der großen Konzilien und des Humanismus 1906

Rezensent:

Beß, Bernhard

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Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. 24.

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die Flucht nach Perpignan im Sommer 1408 mitgemacht.
Geftorben ift er, wie E. wahrfcheinlich macht, erft 1440.
Das Thema feiner Chronik ift die Gefchichte Benedicts
von feiner Erhebung zum Papfte (1394), bis nach feinem
Tode, zur Übertragung der Leiche nach dem Heimatsorte
Illueca. Nur feiten mifcht er Notizen über fernerliegende
Dinge ein, wie die Abfetzung Wenzels, die
Schlacht bei Nikopolis, den Sturz Richards II. u. ä. Abgefaßt
ift das Werk, wie E. nachweift, früheftens 1424;
die fpäteren Jahre müffen nachträglich hinzugefügt fein.
Aber es beruht, wie der erfte Blick zeigt, auf fehr genauen
Tagebüchern. Der Chronift ift nicht überall gleich
gut unterrichtet, aber er bemüht fich um feinen Stoff, er
forfcht und fammelt. Ohne Konkurrenz ift feine Schilderung
der Vorgänge am Hofe, befonders während der
Belagerung. Diefer Abfchnitt, obwohl fehr unter lokalem
Gefichtswinkel verfaßt, ift in mehr als einer Hinficht
reichhaltig, ja in feiner Art einzig. Was über den höfi-
fchen Gefichtskreis des Kurialen hinausreicht, ift fehr
ungleich gehalten. Auch hier begegnet eine Fülle eigentümlicher
, bisweilen pikanter Nachrichten, wie z. B. über
die Verfchwörung der Römer 1377 zur Ermordung Gregors
XI und Erhebung eines Gegenpapftes (S. 3), über
die Erfolge Peters von Luna bei den Engländern 1393/94
(S. 7), über die geheime Vorgefchichte der Verheiratung
Richards II mit Ifabella von Frankreich (S. 17), über die
heimlichen Beziehungen römifcher Herren zum Gegen-
papfte (S. 21, 23) u. dgl. m. Auch die Nachrichten über
die kecke Intrigue, durch die die Franzofen im Juni 1408
den Abbruch der Unionsverhandlungen in Livorno herbeizuführen
verftanden, find gewiß wertvoll. Aber den
eigentlichen Zufammenhang der Dinge, der Benedikt
zur Flucht nach Spanien nötigte, hat der Chronift nicht
begriffen, da er von dem erneuten Abfall Frankreichs
(18. Mai 1408) kein Wort zu melden weiß. Alfo ein
Gefamtbild der Begebenheiten dürfen wir von ihm nicht
erwarten; dazu reicht fein Blick nicht aus. Unfchätzbar
find dafür gelegentliche Bemerkungen wie die über den
Vater des Planes der substractio obedientiae (S. 42), und
über die Art, wie fchheßlich diefe Maßregel zuftande
kam (S. 34). Die Rolle des Kardinals La Grange im
J. 1378 erfährt S. 133 eine neue Beleuchtung; man darf
diefen Mann jetzt wohl ziemlich ficher als den Urheber
des Großen Schismas anfehen. Und fo noch eine Menge j
anderes. An der bona fides des Chroniflen ift nicht zu
zweifeln. Als Schriftfteller ungefchickt bis zur Unver-
ftändlichkeit, ziemlich befchränkt und fehr abergläubifch,
macht er durchweg den Eindruck vollfter Aufrichtigkeit.
Wo man ihn kontrollieren kann, erweifen feine Nachrichten
fich als einwandfrei. Dennoch ift er von Unbefangenheit
foweit wie möglich entfernt. Er ift leiden- ,
fchaftlicher Parteimann, von der Gerechtigkeit, ja Heiligkeit
feines Herrn tief durchdrungen, von bitterem Haß gegen
deffen Feinde erfüllt, und fleht in Ereigniffen wie der
Eroberung der Normandie durch die Engländer und
dem Parifer Blutbade von 1418 die göttliche Strafe für
den Hochmut, mit dem Frankreich und befonders die
Parifer Univerfität fich an Benedikt verfündigt haben.
Ein gefunder Franzofenhaß durchzieht überhaupt das
ganze Werk. Die moderne Gefchichtsfchreibung wird fich
diefes Motiv gewiß nicht anzueignen brauchen, aber die
Bekanntmachung einer fo genauen und fo gut unterrichteten
Darftellung der Begebenheiten von der päpftlichen
Seite ift ein doppeltes Verdienft gegenüber der unverdienten
Alleinherrfchaft, die die Überlieferung der Gegenpartei
feit Jahrhunderten ausgeübt hat. Bis auf diefen
Tag bin ich faft der einzige gewefen, der es verfucht hat,
fich dem Banne diefer durch und durch tendenziöfen,
ja erlogenen franzöfifchen Überlieferung zu entziehen.
Ehrle verheißt uns in einem zweiten Bande eine wirkliche
Gefchichte Benedikts XIII. Die Tatfache, daß er nicht
für nötig befunden hat, meine Arbeit überhaupt irgendwo
zu erwähnen (auch da nicht, wo er einen von mir, wie

ich glaube, gründlich widerlegten Irrtum Valois' wiederholt
), macht mich in der Hoffnung nicht irre, daß feine
Darfteilung, gerade gegenüber den neueften franzöfifchen
Arbeiten, insbefondere gegenüber dem fich immer mehr
als einfeitig und parteiifch erweifenden Werke Valois'
die Tatfachen endlich im richtigen Lichte zeigen werde.

Die Herftellung des Textes der Chronik hat durch
Schrift (Autograph mit fehr individueller, fehlerhafter
Orthographie) und Sprache befondere Schwierigkeiten
gemacht. Ich kann auch nicht finden, daß fie durchweg
gelungen ift, in der Chronik fowohl wie in den Akten-
ftücken hat man öfters Anlaß, zu ftutzen, auch abgefehen
von einer ungewöhnlichen Menge Hörender Druckfehler.
E. treibt die Achtung vor dem Autographen entfehieden
zu weit, wenn er 'Capacold, ftatt''Capacold (für Cabaffole),
Calva ftatt'Calvd (für Salva), 'Lancalad ftatt'Lancalau
(für Lanceslaus, Ladislaus) druckt (S. 141. 145. 158. 2CO).
Statt'Balniam S. 1 (für Beaume) ift doch wohl 'Balmam'
zu lefen.^ S. 103, 25 gibt 'errandd keinen Sinn; es muß
erigendd ^ emendiert oder gelefen werden. 146, 12 ift
celebrabittftatt 'celebravit' gefordert, 146, 20 'ad' ftatt W,
257. 9- 13 Sin ftatt 'Si non, bezw. 'Si u[nusT, was beides
keinen Sinn gibt. 362, 7 muß es 'multnm ftatt 'multd
heißen, 411, 15 ift zwifchen 'michi' und 'testificor ein
['qui'} unentbehrlich. Die Interpunktion 3715, 471« und
4216 zerftört den Sinn, S. 3429 erwartet man ftatt W
quam vielmehr nunquatn, S. 2427 für 'reverendd', dem
Range des Mannes entfprechend, ' reverendissimo'. Unmöglich
ift S. 36, 1 die Emendation ' Vi[turic]ensis' (d. h.
Bourges) ftatt des handfehriftlichen ' Viensis . Es ift aus-
gefchloffen, daß ein Kardinalbifchof im J. 1398 nach dem
Bifchoffitze genannt wird, den er vor 13 Jahren, und vor
feiner Erhebung zum Kardinal aufgegeben hat (überdies
könnte er dann nicht 'episcopus' genannt werden, da
Bourges Erzbistum ift). Der Zufammenhang der Aufzählung
(cardinales episcopi, dann presbiteri, endlich dia-
coni) nötigt zu der Annahme, daß mit dem 'Viensis ein
Kardinalbifchoflitz gemeint fei. Dies kann nur"Sabinensis'
fein, und in der Tat, Chanac war damals Bifchof der
Sabina (f. Ughelli-Coleti I, 177; danach wäre Eubel,
Hierarchia I, 37 zu berichtigen). S. 15910 hätte die'
Angabe des Datums 'Prima januarii, wenn nicht im
Texte, fo doch in der Note berichtigt werden müffen;
es wird Vicesima prima gemeint fein. S. 14337: das Datum
der restitutio obedientiae ift nicht der 26., fondern der
28. Mai 1403. S. 164 Anm. 3: die Abtei bei Padua heißt
nicht Pretalia fondern Praglia. S. 109 Ann. 3 lies Sonnas
ftatt Sofias. Die S. 217 abgedruckte Cedula aus den Verhandlungen
von 1395 wäre gewiß fehr intereffant durch
das Geftändnis der Kardinäle, fie hätten Benedikt nur
gewählt, damit er abdanke. Aber welche Bürgfchaft für
ihre Echtheit liegt vor? Sie dürfte doch nur eine in der
Umgebung Benedikts gemachte Aufzeichnung darfteilen
Nicht zutreffend ift die Bemerkung S. XXVII, daß "der
Eifer Frankreichs für das phantaftifche Unternehmen [den
Plan Benedikts im J. 1405/6, mit Hilfe Siziliens und Anjous
Rom zu überrumpeln] fchnell nachließ'. Alpartils Darfteilung
beweift vielmehr, daß diefer Plan nie von Frankreich
gebilligt worden war, und daß feine Ausführung
eben an dem Widerltande Frankreichs fcheiterte.

Gießen. Hai ler.

König, Dr. Erich, Kardinal Giordano OrNni (f 1438). Ein
Lebensbild aus der Zeit der großen Konzilien und
des Humanismus. (Studien und Darftellungen aus
dem Gebiete der Gefchichte. Herausgegeben von
Prof. Dr. Hermann Grauert. V. Band, 1. Heft.) Freiburg
i. B. 1906, Herder (XII, 123 S.) gr. 8° M. 3—

Nur von fehr wenigen Perfonen aus der Zeit des
Schisma und der Reformkonzilien ift es möglich, ein
Lebensbild zu entwerfen. Mögen auch ihre Namen