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Ausgabe:

1906

Spalte:

641-647

Autor/Hrsg.:

Hinneberg, Paul (Hrsg.)

Titel/Untertitel:

Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele. Teil I, Abt. IV: Die christliche Religion mit Einschluß der israelitisch-jüdischen Religion 1906

Rezensent:

Schuster, Hermann

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Theologische Literaturzeitung.

Herausgegeben von D. Ad. Harnack, Prof. in Berlin, und D. E. Schürer, Prof. in Göttingen.

Jährlich 26 Nrn. Verlag: J. C. HinrichsTche Buchhandlung, Leipzig. Jährlich 18 Mark.

Nr. 24. 24. November 1906. 31. Jahrgang.

Die Kultur der Gegenwart, herausg. von Hinne-
berg. I, 4: Die chriftliche Religion (Schüller).

Troeltfch, Die Bedeutung des Protcllantismus
für die Entflehung der modernen Welt (Derf.).

Dibelius, Die Lade Jahves (Volz).

Gelb haus, Propheten und Pfalmiften (Volz).

P a t ri c k, James the Lord's brother(H.Holtzmann).

Völter, Der erde Petrusbrief (H. Holtzmann).

Ropes, The apostolic age in the light of modern
criticism (Knopf).

Burger, Minucius Felix und Seneca (Knopf).

Loefchcke, Das Syntagma des Gelafius Cy-
zicenus (Jülicher).

Künftle, Antipriscilliana (Jülicher).

Rudorff, Zur Erklärung des Wormfer Konkordats
(Wenninghof!").

Martin de Alpartils Chronica actitatorum tempori-
busDominiBenedictiXIII, herausg. vonEhrle,
I. Bd. (Haller).

König, E., Kardinal Giordano Orfini (Beß).

Kisky, Die Domkapitel der geiftlichen Kur-
fürften in ihrer perfönlichen Zufammenfetzung
im 14. u. 15. Jahrh. (Wermiughoff).

Beat i s, Die Reife des Kardinals Luigi d'Aragona
durch Deutfchland, die Niederlande, Frankreich
und Oberitalien 1517—1518, herausg. von
Paftor (Virck).

Forrest, The Authority of Christ (Lobstein).

Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre
Ziele. Herausgegeben von Paul Hin neb erg. Teil I.
Abteilung IV. Die chriftliche Religion mit Ein-
fchluß der israelitifch-jüdifchen Religion. Von J. Wellhaufen
. A. Jülicher. A. Harnack. N. Bonwetfch.
K. Müller. F. X. Funk. E. Troeltfch. J. Pohle.
J. Mausbach. C. Krieg. W. Herrmann. R. Seeberg.
W. Faber. H. J. Holtzmann. Leipzig, B. G. Teubner
1906. (X, 752 S.) gr. Lex. 8° Geb. M. 18 —

Troeltfch, Prof. Ernft, Die Bedeutung des Proteftantismus
für die Entftehung der modernen Welt. Vortrag, gehalten
auf der IX. Verfammlung deutfcher Hiftoriker
zu Stuttgart am 21. April 1906. Sonderabdruck aus
der Hiftorifchen Zeitfchrift. München, R. Olden-
bours 1906. (66 S.) gr. 8° M. 1.20

Der Beitrag von Troeltfch über proteftantifches
Chriftentum in der Kirche der Neuzeit ftellt nicht nur
den umfangreichften (206 S.), fondern auch den bedeu-
tungsvollften Teil des Sammelwerkes dar. Die wefent-
lichften Ergebniffe diefer Unterfuchungen hat T. felbft
in feinem auf dem letzten deutfchen Hiftorikertag gehaltenen
Vortrag klar und knapp zufammengefaßt. Mein
Referat folgt zunächft dem Gedankengang des Vortrags.

Die Aufgabe lautet: Die Bedeutung des Proteftantismus
fUr die moderne Welt. I. .Hierüber herrfchen in
der Wiffenfchaft und noch mehr in der populären Literatur
fehr bunte und fehr ungenaue Vorftellungen. Die
katholifche Literatur pflegt in ihm die Wurzel des revolutionären
Gciftes der modernen Welt zu fehen, und
v. Treitfchkes berühmte Lutherrede von 1883 fleht in
ihm geradezu den Grund alles Großen und Edlen in der
modernen Welt. In der Hegelfchen Schule pflegt er als
Ethik und Religion der Immanenz gefeiert zu werden,
und in der Schule Ritfchls erfcheint er als Schöpfer von
Familie, Staat, Gefellfchaft und Berufsarbeit im modernen
Sinne. So einfach liegen aber die Dinge durchaus
nicht!'

II. Welches ift denn eigentlich der in Frage flehende
Begriff des Proteftantismus? Eis ift prinzipiell zu unterscheiden
zwifchen Alt-und Neuproteftantismus. Der
Neupr. (aus dem 18. Jahrhundert heraus entftanden) ift
felbft ejn -j-eii der modernen Kultur; als eine feiner
causae kann nur der Altpr. in Betracht kommen. Diefer
,Altpr. fällt unter den Begriff der ftreng kirchlich fupra-
naturalen Kultur, die auf einer unmittelbaren und ftreng
abgrenzbaren, vom Weltlichen zu unterfcheidenden Autorität
beruht, und fucht geradezu mit feinen Methoden
diefe Tendenz der mittelalterlichen Kultur ftrenger,

innerlicher, perfönlicher durchzufetzen, als dies dem hie-
rarchifchen Inftitut des Mittelalters möglich war. Die
Autorität und Heilskraft der reinen Bibel foll durchfetzen,
was den Bifchöfen und dem Papfte bei der Äußerlichkeit
ihrer Mittel und bei der ftarken Verweltlichung der
Inftitution nicht erreichbar war'. Diefer Altpr. ift
zweitens fcharf zu fcheiden von der humaniftifchen,
hiftorifchen, philologifch-philofophifchen Theologie und
von dem Täufertum und Spiritualismus. Diefer Unter-
fchied ift nicht zufällig und nur ein folcher der Epigonen,
fondern wefentlich und urfprünglich, weil von jenen
beiden Gruppen, ,die Idee der kirchlichen Kultur und die
abfolute Gegebenheit der Offenbarungsgrundlage einer
folchen Kultur trotz aller prinzipiellen Chriftlichkeit geleugnet
wird'. ,Die Objektivität des Kircheninftituts, die
Sicherheit der Bibel und die klare ftaatskirchliche Leitung
der Gefellfchaft oder des einheitlichen corpus
Chris Hanum, das jede Kirche wenigftens auf dem ihr
durch die Landesregierung erreichbaren Gebiete herftellte,
wurde durch jene bedroht'.

III. Diefer in feiner Eigenart abgegrenzte genuine
Proteftantismus fteht in einem fchroffen Gegenfatz zur
modernen Welt: Die religiöfe Idee der Heilsgewißheit,
das Ringen um Gottes Gnade, ftatt des Fragens nach
feinem Dafein; die Idee der Kirche als der fupranatu-
ralen Heilsanftalt rein aus der Bibel konftruiert, die Idee
des einheitlichen corpus Christianum, in dem Staat und
Kirche innig vereint find, der Staat von Gott aus auch
die Kirche regierend, die Kirche aus der infpirierten
Bibel durch die Theologen den Staat dirigierend — ftatt
unferer modernen Trennung von Staat und Kirche und
unferes weltlichen Begriffs von der Kirche; endlich die
Idee der Askefe, d. h. der Befchäftigung mit dem Weltlichen
nicht um weltlicher Werte willen — ihrer Anerkennung
ftand ja der Dualismus der im Proteftantismus
noch gefteigerten Erbfündentheorie entgegen — fondern
nur zum Zwecke der ETömmigkeitsubung, der Befolgung
des göttlichen Willens an diefem gottgefetzten irdifchen
Stoffe, einer Askefe, die im Luthertum frei und innerlich
, aber mehr paffiv und duldend geübt wird, während
fie im Calvinismus aktiver und agreffiver, aber auch
rationaliflert und diszipliniert auftritt. .Unter diefen Um-
ftänden liegt es auf der Hand, daß der Proteftantismus
nicht unmittelbar die Anbahnung der modernen Welt
bedeuten kann. Im Gegenteil er ericheint zunächft als
Erneuerung und Verftärkung des Ideals der kirchlichen
Zwangskultur'; und .feine Wirkungen für die moderne
Welt müffen wir größtenteils in indirekten und in unbewußt
hervorgebrachten Folgen, ja geradezu in zufälligen
Nebenwirkungen oder auch in wider Willen
hervorgebrachten Wirkungen fuchen.'

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