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Ausgabe:

1906

Spalte:

619-620

Autor/Hrsg.:

Büchler, Adolf

Titel/Untertitel:

Der galiläische ‘Am-ha’Ares des zweiten Jahrhunderts. Beiträge zur inneren Geschichte des palästinischen Judentums in den ersten zwei Jahrhunderten 1906

Rezensent:

Schürer, Emil

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6ig

Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. 23.

620

Büchler, Dr. A., Der galiläifche 'Am-ha'Ares des zweiten Jahrhunderts
. Beiträge zur inneren Gefchichte des palä-
ftinifchen Judentums in den erften zwei Jahrhunderten.
Wien, A. Holder 1906. (338 S.) gr. 8° M. 6 —

Wer Büchlers frühere Arbeiten kennt, weiß, was er
hier zu erwarten hat. Umfaffendfte Gelehrfamkeit, er-
fchöpfende und forgfältige Mitteilung des Materiales auch
in weit abliegenden Nebendingen, dabei auch ein gewiffer
formaler Scharffinn — alles aber im Dienfte abfonder-
licher Hypothefen. Gefteigert ift diesmal die anmaßende
und geringfchätzige Behandlung chriftlicher Gelehrter,
welche die Gefchichte fo darftellen, wie fie aus den
Quellen fich ergibt.

Das Refultat feiner Bemühungen faßt B. S. 3 folgendermaßen
zufammen:

,Die allgemeine, durch nichts begründete Annahme
der proteftantifchen Forfcher, daß das Leben der gefetzes-
treuen Juden auf Schritt und Tritt vom Reinheitsgefetze
behaftet war, und diefes ihm jeden Umgang mit dem
Volke unmöglich gemacht hat, erweift fich als völlig
haltlos. Nur die Priefter hatten es zu beobachten und
für die Priefterhebe allein war die Unzahl der Vorfchriften
gefchaffen. Einzelheiten des Reinheitsgefetzes, wie das
Händewafchen zum Effen, werden klarer und die Quelle
fo vieler Mißverftändniffe und fo fchiefer Urteile über
das Leben der Juden ,unter dem Gefetze' wird aufgedeckt
und verfchüttet. Gleichzeitig erfährt man tatfächliche
Untugenden des galiläifchen Volkes, das leichtfertige
Geloben und Schwören, die etwas lockeren Sitten im
Verkehre der Gefchlechter und das Wuchern der Wohlhabenden
gegenüber dem Armen mit Geld und Lebensmitteln
. DieTe Einzelzüge aus dem Charakter und dem
inneren Leben der galiläifchen Juden, bei deren Unter-
fuchung auch noch andere fich feftftellen laffen, find erft
nach dem Jahre 136 zu beobachten. Ob fie auch fchon
ein Jahrhundert vorher fo fcharf ausgeprägt, ob fie überhaupt
vorhanden waren und zur Schilderung der Zeit
Jefu herangezogen werden dürfen, wird an den wenigen
Sätzen der galiläifchen Lehrer des I.Jahrhunderts geprüft'.

Die Quinteffenz ift alfo: die fubtilen Reinheitsgefetze
(wie fie z. B. in meiner Gefchichte des jüdifchen
Volkes 3. Aufl. II, 478—483 durch Mitteilung einiger
Proben charakterifiert find) galten nicht für die Laien,
fondern nur für die Priefter, und find auch nicht
fchon zur Zeit Jefu in Judäa, fondern erft im zweiten
Jahrhundert n. Chr. in Galiläa aus befondern hiftorifchen
Anläffen, mit Rückficht auf den dortigen Am-haarez, fo
ftreng ausgebildet worden.

Aus der über 300 Seiten umfaffenden Beweisführung
des Verf. können hier nur die Hauptpunkte herausgehoben
werden. Der Am-haarez (nämlich der galiläifche
Am-haarez des 2. Jahrh.) ftand nicht nur in dem Verdachte
mangelhaften Verzehntens (S. 5—41), fondern galt
auch als unrein, fo daß z. B. feine Anwefenheit in einem
Zimmer unter gewiffen Vorausfetzungen das Zimmer
unrein macht (S. 41—64). Die nach manchen Stellen
fehr weitgehende, auch auf Speifen und Geräte fich er-
ftreckende verunreinigende Wirkung hat fchon ein fran-
zöfifcher Gelehrter des Mittelalters, R. Simfon aus Sens
um 1200 n. Chr., daraus erklärt, daß es fich bei den betreffenden
Speifen um Priefterhebe handle (Büchler S. 48).
Liefen Gefichtspunkt verallgemeinert nun Büchler und
führt, zuerft mit einiger Zurückhaltung (z. B. S. 61: ,es
dürfte fich hier . . um Priefterhebe handeln', S. 64: ,mit
hoher Wahrfcheinlichkeit'), im weiteren Verlauf immer
zuverfichtlicher alle ftrengeren Vorfchriften über rein und
unrein darauf zurück, daß es fich um die Rein-Erhaltung
der Priefterhebe handle. Schon S. 85 kann Büchler
fagen: ,es hat fich aus diefer Unterfuchung mit ziemlich
großer Sicherheit ergeben, daß alle Teile des levi-
tifchen Reinheitsgefetzes, die in der Halacha fo ausführlich
behandelt werden, ausfchließlich wegen des

Heiligtums und feiner Opfer und wegen der Ahroniden
und ihrer Priefterhebe, nach der Zerftörung des Heiligtums
aber nur wegen der letzteren erörtert und bis
ins kleinfte ausgebaut wurden'. Bei der Hauptmaffe der
Stellen, an welchen in der rabbinifchen Literatur die
fubtilen Reinheitsgefetze erörtert werden, ift jedoch von
der Priefterhebe fchlechterdings nicht die Rede und nicht
der geringfte Anlaß vorhanden, an fie zu denken. Sehr
bezeichnend ift, wie B. S. 91 Anm. fich über den Traktat
Kelim und deffen endlofe Erörterungen über die Reinheit
und Unreinheit der Geräte und Gefäße ausfpricht.
Er meint, es handle fich hierbei ,in erfter Reihe um die
Gefäße und Geräte der Ahroniden'. Die Formel ,in erfter
Reihe' ift eine Auskunft der Verlegenheit. B. müßte
fagen .ausfchließlich', was er doch nicht wagt. Mit denjenigen
Stellen, welche direkt feiner Anficht entgegen-
ftehen, vermag B. nur fehr künftlich fich abzufinden. Cha-
giga II, 5 heißt es: ,Zum Genuffe von profaner Speife
(Chullin), Zehnt und Hebe muß man die Hände wafchen;
um Heiliges zu effen, fie erft untertauchen'. Es ift alfo
ganz allgemein gefagt, daß jedermann vor dem Genuß
gewöhnlicher Speife die Hände wafchen müffe, und wir
wiffen aus den Evangelien, daß dies auch fchon im Zeit-
I alter Jefu Chrifti eine gefetzliche Forderung der Pharifäer
war (Mt. 152. Mc. 73). Auch Berachoth VIII, 2—4 ift
vorausgefetzt, . daß das Händewafchen vor dem Effen
feftftehende Übung war. Büchler itellt dies alles in Abrede
. Chagiga II, 5 follen nur die Priefter Subjekt fein
(weil nämlich das im Folgenden erwähnte Effen von
Hebe, allerdings nur von ihnen gilt) S. 116 Anm.; und
in Berachoth VIII, 2—4 foll es fich nicht um eine reli-
giöfe Sitte, fondern nur um ein von der Gefellfchaftsfitte
gebotenes Händewafchen handeln (S. 134). — In einer
Barajtha (b. Berachoth 47b, tos. Aboda sara III, 10) lefen
wir: ,Wer ift ein Am-haarez? R. Meir fagt: Wer feine
profane Speife nicht in Reinheit ißt; die Gelehrten fagen:
Wer nicht verzehntet'. Da das Verzehnten eine allgemeine
gefetzliche Forderung ift, fo ift es klar, daß hier
auch das Effen der profanen Speife ,in Reinheit' von
allen gefordert wird, die nicht als Am-haarez, fondern
als gefetzestreu gelten wollen. Büchler hat denn auch
neun Seiten nötig, um über diefe fatale Inftanz hinwegzukommen
(S. 157—166). Er möchte gerne den erften
Satz dahin verliehen, daß der Am-haarez nur ein unge-
fetzlich lebender Ahronide ift. Da dies aber bei dem
zweiten Satz doch nicht recht geht, fo hilft fich B. wieder
mit der Formel ,in erfter Reihe' (S. 165: es ift fehr
wahrfcheinlich, daß die Forderung des R. Meir . . in
erfter Reihe an die Ahroniden und die Lehrer und möglicherweife
an die wohlhabenden Grundbefitzer fich gewendet
hat'). — Chagiga II, 7 fchreibt vor: ,Die Kleider
des Am-haarez find hochgradige Unreinheit (midras) für
die Perufchim, die Kleider der Perufchim find hochgradige
Unreinheit für die, welche Hebe effen ufw.' Da hier die
Perufchim augenfcheinlich folche Laien find, welche die
levitifchen Reinheitsgefetze beobachten und darum durch
den Am-haarez verunreinigt werden, fo fieht fich B. zu
dem Zugeftändnis gezwungen, ,daß es auch in Galiläa
Nichtahroniden gab, die die levitifche Reinheit beobachteten
' (S. 166, vgl. S. 53); nur follen diefe Perufchim
nicht identifch fein mit den alten Pharifäern.

Trotz aller aufgewendeten Kunft vermag alfo B.
feine Thefe doch nicht reinlich durchzuführen. Sie fleht
auch, wie mir von fehr fachkundiger jüdifcher Seite mitgeteilt
wird, im Widerfpruch mit dem Konfenfus der
Kommentatoren und Kodifikatoren. Um fo weniger an-
gemeffen ift es, wenn Büchler den Anfchein erweckt, als
ob die von ihm bekämpfte Auffaffung nur eine befondere
Torheit der .proteftantifchen Forfcher' (S. 3) oder gar
nur des Unterzeichneten fei (S. 126K.).

Göttingen. E. Schürer.