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Ausgabe:

1906 Nr. 2

Spalte:

586-587

Autor/Hrsg.:

Wobbermin, Georg

Titel/Untertitel:

Ernst Haeckel im Kampfe gegen die christliche Weltanschauung 1906

Rezensent:

Rolffs, Ernst

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Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. 21.

bisher in keiner Ausgabe der gefammelten Werke veröffentlicht
war. Man kann die Mühe und Sorgfalt, die
der Dürrfche Verlag auf das Unternehmen und die Erneuerung
der Philofophifchen Bibliothek im allgemeinen
verwandt hat, kaum hoch genug anfchlagen. Bedenkt
man, wie in der idealiftifchen und fpiritualiftifchen Phi-
lofophie der Gegenwart, an deren Ergebniffe die moderne
Apologetik notwendig irgendwie anknüpfen muß, fich
zwei Richtungen bemerkbar machen, von denen die eine
wichtigere auf Kant und Fichte, die andere nicht unan-
fehnliche auf Leibniz zurückgeht, fo wird man insbefondere
ermeffen können, wie viel die hier befprochene, an fich
wertvolle, Publikation auch für den heutigen Theologen
bedeutet.

Straßburg i. E. E. W. Mayer.

Thilo, Chr. A., Schleiermachers Religionsphilofophie. (Re-
ligionsphilofophie in Einzeldarfteilungen. Hrsg. von
O. Flügel. Heft 5.) Langenfalza, H. Beyer & Söhne.
(VI, 128 S.) gr. 8° M. 2—

Das Buch enthält nicht, wie der Titel anzudeuten
fcheint, eine Darfteilung der Schleiermacherfchen Religionsphilofophie
. Es handelt fich darin überhaupt um
keine Darftellung fondern um eine Kritik und zwar eine
fehr fcharfe, faft leidenfchaftliche Kritik der Schleiermacherfchen
Religionspfychologie, wie fie in der Glaubenslehre
formuliert ift, einerfeits, der philofophifchen
Ethik Schleiermachers anderfeits.

Demgemäß zerfällt das Ganze in zwei Teile.
Deren erfter ift der Religionslehre gewidmet. Verf
fetzt fich hier zunächft mit Schleiermachers Definition
des Selbftbewußtfeins auseinander und fucht zu zeigen,
daß diefelbe bereits einen ,in Fichtefche Gewänder gehüllten
Spinozismus' ankündige. Er unterzieht weiter
die Theorie vom fchlechthinigen Abhängigkeitsgefühl
einer Prüfung. Er wirft ihr unter anderem vor, daß ein
Gefühl, das an und für fich weder Luft noch Ünluft ift,
überhaupt kein Gefühl fei; daß es fich lediglich um eine
bequeme und unbewiefene Behauptung handle, wenn ein
Angeborenfein des Abhängigkeitsgefühls gelehrt werde.
Namentlich aber bemüht er fich um den Beweis, daß
das ,fchlechthinige Abhängigkeitsgefühl' weiter nichts
fein könne als die Summe aller relativen Abhängigkeitsgefühle
; das wolle freilich Schleiermacher felbft nicht
Wort haben, woraus eben hervorgehe, daß feine An-
fchauung eine in fich widerfpruchsvolle fei. Die ganze
Theorie vom Vorhandenfein eines fchlechthinigen Abhängigkeitsgefühls
entpuppe fich als eine dem Spinozismus
zu liebe unternommene, der pfychologifchen Wirklichkeit
fremde Konftruktion. Vollends fchlimm flehe es
um den Anfpruch des abfoluten Abhängigkeitsgefühls,
Gottesbewußtfein zu fein. Das ,woher' diefes Gefühls
fei bloß eine als real gedachte höchfte Abftraktion oder
die .Weltfeele' (S. 38). Ein Gefühl dürfe aber erft dann
als ein religiöfes eingefchätzt werden, wenn es fich auf
eine Perfönlichkeit beziehe und nicht etwa auf ein im
Sinne des Pantheismus gedeutetes Objekt.

Der zweite Teil befchäftigt fich mit der philofophifchen
Sittenlehre des großen Theologen. Hier beginnt
Verf. damit, daß er eine Reihe von Widerfprüchen in
Schleiermachers Ableitung des Begriffs der Ethik aufdeckt.
Darauf wendet er fich der Auffaffung der Ethik felbft
zu. Indem er feinen Standort innerhalb der Herbart-
fchen Pofitionen wählt, hält er Schleiermacher vor, daß
diefer ,in feiner Ethik nicht eine von jedem Erklärer
und Begreifer des Gefchehens unabhängige Beurteilung
des Wertes des Wollens anftreben' könne, ,fondern nur
eine erklärende Befchreibung, wie die irdifch gewordene
Vernunft im allgemeinen auf die Natur wirklich handelt'.
Und zwar liege da nicht nur ein formaler Fehler vor,
fondern ein fachlicher, wie unzweideutig daraus erhelle, daß
die von Schleiermacher aufgefüllten Ziele des Vernunfthandelns
durchaus nicht den Charakter abfolut fein follen-
der Werte für fich in Anfpruch nehmen können.

Was fich aus der Betrachtung des Schleiermacherfchen
Werkes im allgemeinen ergeben hat, wird beftätigt und
bekräftigt durch eine Analyfe einzelner Beftimmungen des-
felben. Aus diefer geht gleichfalls hervor, daß die Schleier-
macherfche Ethik zwar Gefetze formuliert, aber keine
Normen aufftellt, und daß fie in dem Maß, als fie die
Aufmerkfamkeit auf den Erfolg und das Refultat des
Handelns lenkt, das Verftändnis für die einzigartige Bedeutung
derGefinnung verliert. Auch die Schleiermacherfchen
Begriffe der Tugend, der Pflicht, des Guten, des
Böfen werden kritifiert. Den gefamten Teil, in dem
zahlreiche kräftige Nebenhiebe auf Rothe fallen, befchließt
eine verhältnismäßig großzügige Darlegung des verhängnisvollen
Einfluffes, den wiederum der Spinozismus auf
die philofophifche Sittenlehre des berühmten Denkers
ausgeübt hat.

Man wird manche der gemachten Ausheilungen als
nicht neu bezeichnen, viele unter ihnen aber als an fich
berechtigt anerkennen müffen. Überhaupt geben fich in
dem Buch der kritifche Scharffinn und die peinliche Präzision
bei der Begriffsbestimmung kund, die von jeher ein
Ruhmestitel der Herbartfchen Schule waren. Infofern ift
es in hohem Maße lehrreich und verdienstlich. Dennoch
wird mehr als ein Lefer fich nicht voll befriedigt fühlen.
Man darf eben nicht vergeffen: Schleiermachers philofophifche
Sittenlehre ift keine Ethik und will fchließlich doch
auch keine Ethik im gewöhnlichen Sinne des Wortes fein.
Sie ift ein metaphyfifches Syftem; und was für jedes
folche gilt, was fchon für Piatos Spekulationen galt, bleibt
für fie gleichfalls zu Recht bestehen: fie wendet fich
nicht nur an den analysierenden Verstand, fondern an die
intuitive Phantasie und gründet ihre Rechtsanfprüche in
erfter Linie nicht auf die vollendete Korrektheit der für
fich genommenen Einzelheiten, fondern auf die Korrelation
und Harmonie derfelben und vor allem auf den
Eindruck des Ganzen. Deshalb wäre es wohl billig ge-
wefen, fie eben fo wie die Religionslehre zunächft einmal
mit einigermaßen liebevoller Objektivität im Zufam-
menhang kurz zu fkizzieren. Man widerlegt die innere
Wahrheit eines in feiner Totalität fchönen Baues noch
nicht damit, daß man zeigt, wie er in allen Details fehlerhaft
fei. Die belle Kritik der Schleiermacherfchen .Religionsphilofophie
', um hier die Terminologie des Autors
anzunehmen, wäre die Gegenüberstellung eines gleich
großartigen und doch korrekteren Gedankenkomplexes
gewefen. Ob ein folcher in den etwas dürftigen Herbartfchen
Beftimmungen über die .einfachen Willensverhält-
niffe' und ähnlichen zu finden fei, bleibe dahingestellt.

Zum Schluß möchte Referent noch die Frage aufwerfen
, ob fich nicht auf Grund der kaum berücksichtigten
Dialektik dem Schleiermacherfchen Gottesbegriff doch
noch eine etwas beffere Seite hätte abgewinnen laffen. Zugleich
möchte er Einfpruch erheben gegen die Anklage,
daß die Ritfchlfche Schule die religiöfen Gefühle kurzweg
als .unabhängig von der religiöfen Erkenntnis' bezeichnet,
fowie gegen die Behauptung, daß nach Kant die Formen
der Anfchauung und die Kategorien im menfchlichen
Gemüt ,von vorn herein bereit liegen'. Dagegen erkennt
er gern den hohen Wert einzelner pofitiven Beftimmungen
über die Art des religiöfen Gefühls im letzten
Abfchnitt des erften Teils an.

Straßburg i. E. E. W. Mayer.

Wobbermin, Prof. Georg, Ernft Haeckel im KamTrfe" gegen
die chriftliche Weltanrchauung. Vortrag, gehalten am
6. März 1906 im Berliner Zweig-Verein des Evange-
lifchen Bundes. Leipzig, J. C. Hinrichs'fche Buchhandlung
1906. (30 S.) gr. 8° M. — 50
Diefer Vortrag behandelt in populärer Form die

Angriffe Haeckels auf die chriftliche Weltanfchauung,