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Ausgabe:

1906 Nr. 21

Spalte:

575-580

Autor/Hrsg.:

Harnack, Adolf

Titel/Untertitel:

Dogmengeschichte. 4., verb. u. bereicherte Aufl 1906

Rezensent:

Scheel, Otto

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Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. 21.

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und kann daher hier nur auf meine dortigen Ausführungen
verweifen. Aber es ifl doch mehr, was hier meine Op-
pofition weckt. Namentlich hat mich verblüfft das mehrfache
ftarke Betonen der Wincklerfchen und Sellin-
fchen Betrachtungen über die ftarke Abhängigkeit der
kanaanitifchen Kultur von Babel. Sellins Funde find
doch mindeftens wett gemacht durch die Ausgrabungen
von Mutefellim, wo fich wohl eine ftarke Beeinflußtheit
durch Egypten, aber faft keine Spuren eines babylonifchen
Einfluffes zeigten. Wird nicht von Sellin in feiner bekannten
phantafievollen Art hier ftark übertrieben? Und,
daß Arabien das große Völkerbecken der femitilchen
Welt ift, wußten wir doch lange vor Wincklers anfpruchs-
vollen Behauptungen hierüber. Das haben fchon Andere
viel klarer und überzeugender feit über 20 Jahren dargelegt
. Winckler hat auch gerade für die altifraelitifche
Gefchichte wenig Klarheit gebracht: Abraham als Ba-
bylonier, Jofeph als Egypter, was will denn Marti felbft
von diefen Behauptungen aufrecht erhalten? Ich habe den
Eindruck, daß auch hier Marti der nach Alleinherrfchaft
ringenden Strömung viel zu ftark nachgibt, auch wenn
er für jetzt noch ihre Konfequenzen nicht anerkennen
will. Aber es muß immer wieder deutlich gefagt werden,
daß Leute wie Jeremias mit ihren unklaren Stofffamm-
lungen noch nichts dazu beigetragen haben, ,den alten
verborgenen Jahve aus feiner Verborgenheit hervorzuziehen
', worauf fie doch Anfpruch erheben in ihrer völligen
hiftorifchen Verblendetheit. Auch Winckler verlieht
von Jahve und damit von Ifraels Religion herzlich
wenig.

Königsberg. Giefebrecht.

Harnack, Prof. D. Adolf, Dogmengefchichte. Vierte ver-
befferte und bereicherte Auflage. (Grundriß derTheo-
logifchen Wiffenfchaften. Vierter Theil. Dritter Band.)
Tübingen, J. C. B. Mohr 1905. (XII, 446 S.) gr. 8°

M. 6 —; geb. M. 7 —

Der dritten Auflage des Grundriffes ift nach ungefähr
8 Jahren die vierte gefolgt, die in erweiterter Geftalt fich
den Lefern darbietet. Der verfloffene Zeitraum durfte
eine Reihe dogmengefchichtlicher Unterfuchungen erblicken
, die, auf die verfchiedenen Epochen der Dogmengefchichte
fich verteilend, entweder in der Kontinuität
mit den von Harnack durchgeführten Gedanken und innerhalb
eines mit ihm im ganzen gemeinfamen Gefamt-
rahmens doch in wichtigeren Einzelheiten abweichende
oder fortführende Refultate zu begründen fuchten, oder
in mehr oder weniger ftarkem Gegenfatz gegen ihn und
von einer wefentlich anderen dogmatifchen Grundan-
fchauung aus ein anderes Gefamtbild zu erarbeiten fich
bemühten. Die nach dem Erfcheinen der dritten Auflage
ins Leben gerufenen katholifchen ,Forfchungen zur alt-
chriftl. Literatur- und Dogmengefchichte' treten Harnack
auf dem Gebiet der alten Dogmengefchichte entgegen,
getreu ihrem Programm, die Vorherrschaft der proteftan-
tifchen Forfchung auf diefem Gebiet zu brechen und an
die Stelle ihrer Ergebniffe die katholifche Gefchichts-
methodik mit ihren der Kirchenlehre oder dem traditionellen
kirchlichen Empfinden und Urteilen konformen
Refultaten treten zu laffen. Von der Reformationszeit
her aber erwuchs ihm in Denifle ein Gegner, der auf
diefem Gebiet wie dem des Mittelalters Harnacks Dar-
ftellung einer vernichtenden Kritik zu unterziehen beftrebt
war. Aber felbft ein Mann wie Loify konnte trotz Preisgabe
des katholifchen Gefchichtsgrundfatzes den Verfuch
unternehmen, Harnacks Pofition in der älteften Dogmengefchichte
zu erfchüttern. Ähnlichen Verfuchen fah fich
Harnack auf proteftantifcher Seite gegenübergeftellt,
mochte es fich nun um eine folche Repriftinationsdar-
ftellung handeln, wie fie A. Seeberg vor wenig Jahren
vorlegte, oder um die eschatologifche und neuere

religionsgefchichtliche Richtung, die in die Anfänge der
Dogmengefchichte eingreifend die von Harnack noch
vorausgefetzten Zufammenhänge zwifchen der Predigt
Jefu und der apoftolifchen Verkündigung zu lockern und
aufzulöfen das Beftreben bekundete oder das Verhältnis
von Chriftentum und Judentum unter neuer Lichtverteilung
darfteilte. Grade hier war befonders eifrig gearbeitet
worden und erwuchs Harnack die Aufgabe einer um-
faffenderen Nachprüfung. Es fei nur an die Namen Weiß,
Bouffet, Wernle, Wrede, Schweitzer, Hoffmann, Pfleiderer,
Heitmüller und Gunkel erinnert. Auch der Dogmengefchichte
der älteren und jüngeren katholifchen Kirche
war manche Unterfuchung gewidmet, die Stellungnahme
forderte. R. Seeberg ging in feiner Monographie über
Duns Scotus eigene Wege; Baltzer legte in feinen Studien
über den Lombarden minutiöfe Unterfuchungen vor, die
ein bisher vernachläffigtes Gebiet mit Erfolg anzubauen
begannen. Gottfchick widmete eine Reihe eindringender
Auffätze der mittelalterlichen Verföhnungslehre, in der
er eine größere Einheit, als wie fie bisher vorausgefetzt
war, nachzuweifen unternahm, und die er ftraffer, als
bisher gefchehen, mit der Theologie Auguftins zu verknüpfen
fich bemühte. Hier darf ich vielleicht auch
meiner eigenen Studien über Auguftin u. a. gedenken,
v. Schubert gab in feiner Arbeit über den Prädeftinatus
einen wertvollen Beitrag zur inneren Gefchichte des
Pelagianismus, Hahn in feinenTykonius-Studien zur inneren
Gefchichte des Donatismus. Holl zeichnete in feinem
Buch über Amphilochius von Iconium eine wichtige und
intereffante Phafe der inneren Entwicklung der nachni-
zänifchen Theologie. Befonders aber ftellte Loofs, namentlich
in einer Reihe umfangreicher Artikel in RE3 feine
große dogmengefchichtlicheGelehrfamkeitundForfchungs-
arbeit in den Dienft der Aufklärung über die Entwicklung
der griechifchen und lateinifchen Theologie, fowohl der
vor- wie nachnizänifchen. Diefe Artikel regten zu
weiteren Arbeiten an. Nimmt man dazu noch die fym-
bolgefchichtlichen Arbeiten, wie fie insbefondere von
Kattenbufch unternommen wurden, neben dem aber auch
Kunze, Clemen, McGiffert, Krüger und Loofs zu nennen
find, fo dürfte ein allgemeiner Eindruck von der ftarken
Bewegung auf dem Gebiet der dogmengefchichtlichen
Forfchung erzielt und die Arbeit angedeutet fein, die die
Neuauflage auch eines Grundriffes erforderte. Dabei ift
der eigentlichen reformationstheologifchenUnterfuchungen
noch nicht gedacht.

So hat denn auch Harnack die neue Auflage als
bereicherte und verbefferte eingeführt. In der Gefamt-
anlage ift freilich an der alten Ordnung nichts geändert.
Das konnte auch nicht erwartet werden. Zu einer Änderung
des Gefamtplanes lag um fo weniger ein Grund
vor, als Harnacks Auffaffung vom Dogma und damit
von der Aufgabe und Abgrenzung der Dogmengefchichte
mit der hiftorifchen Prägung des Begriffs gerechtfertigt
werden kann, jedenfalls eine beftimmte, hiftorifch vorhandene
Prägung des Begriffs für fich in Anfpruch
nehmen kann. Schließlich legt auch Harnacks Auffaffung
der Aufgabe, die allgemeineren Verflechtungen, Bedingungen
und Vorausfetzungen zu berückfichtigen und für
das Verftändnis des ,Dogmas' fruchtbar zu machen, keine
Hinderung in den Weg. Daß fein Verfahren nicht das
einzig mögliche ift, und alfo exklufiv geübt werden müßte,
weiß Harnack fehr wohl. Er betont dies heute ganz
ausdrücklich; und in diefer mit der neuen Auflage gegebenen
Betonung darf man wohl ein Entgegenkommen
gegen die anders orientierten Auffaffungen von der Dogmengefchichte
betrachten, mag man nun an Loofs oder
R. Seeberg oder Dorner denken. Harnack empfindet
auch die Feffel, die er fich mit feiner Beftimmung der
Aufgabe auferlegt hat, ftärker als früher. Er weiß, daß
er auf einem Drahtfeil wandelt, meint aber nicht mit
Unrecht, daß zu einem folchen Wandeln jede Dogmengefchichte
verurteilt ift, da man ja, was nicht gut be-