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Ausgabe:

1906 Nr. 20

Spalte:

563-564

Autor/Hrsg.:

Freisen, Joseph

Titel/Untertitel:

Staat und katholische Kirche in den deutschen Bundesstaaten 1906

Rezensent:

Frantz, Adolf

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Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. 20.

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in ihnen muß Seelforge und Liebestätigkeit von allen
an allen geübt werden (S. 95), fo find die kirchlichen
Gemeinden in Vereine umzuwandeln (S. 121) und dadurch
wird die zerfplitternde und nicht unbedenkliche
Tätigkeit der freien Vereine wenigftens zum guten Teil
überflüffig; aus der Gemeinde hat das Bekenntnis zu er-
wachfen, ihr Wefen hat der Kirchenbau deutlich auszudrücken
, ihren Bedürfniffen zu dienen; ftatt monumentaler
Kirchen mit teuren Türmen vielmehr den .Gruppenbau
' in dem üch um den einheitlich geftalteten und auf
Altartifch und Orgel (die Kanzel fällt weg) konzentrierten
Betfaal die verfchiedenen praktifchnotwendigen Gemeinderäume
gruppieren. — Das find gewiß gute Gedanken;
fie werden hier durchweg frifch, lebendig, feffelnd, zugleich
auch auf dem Hintergrunde umfaffender kirchen-
gefchichtlicher Betrachtungen dargeftellt; wir glauben es
dem Verfaffer auch gern, daß fie (Vorwort) nicht .bloßer
Gedankenarbeit entfprungen', fondern aus .Hemmungen'
hervorgegangen find, mit denen er in feinem Beftreben,
lebendige Gemeinden zu bilden, ringen mußte. Diefe
Hemmungen find auch jetzt noch vorhanden; fie fcheinen
fich mir aus dem Wefen der Landeskirche faft mit
Notwendigkeit zu ergeben. Nicht an der Idealität,
wohl aber an der Realifierbarkeit von Sulzes Gedanken
müffen deshalb viele zweifeln, welche im übrigen mit
denfelben durchaus einverftanden find. An einem Punkte
tritt diefes Bedenken recht charakteriftifch zutage: an
S.'s Stellung zur Kindertaufe. In dem neuen Buche ift
doch ihr Erfatz durch die (an die Stelle der Konfirmation
tretende) .Spättaufe' weit entfchiedener als im
alten ins Auge gefaßt (S. 175—177). Solche Ideale
aber find doch mit der Landeskirche unverträglich.
Was die Predigt betrifft, fo kehrt hier S.'s alte Oppo-
fition gegen die .Erfindungspredigt' wieder; allein auch
meine Bedenken gegen feine .Katechismus'- und ,Ge-
fchichts-Predigten' habe ich noch nicht überwunden.
Wohl aber kann ich mir feine Begriffsbeftimmung aneignen
(S. 172): Die Predigt ift .eine durch das eigene
Leben des Predigers wirkfame Deutung des ganzen
Lebensinhaltes [Bewußtfeins], den Gott in der Vergangenheit
und in der Gegenwart der Gemeinde zu eigen gegeben
hat'. Neu ift Sulzes Stellung in der Frage des
Bekenntniffes: er hält ein folches für unumgänglich,
weift aber treffend nach, daß die hiftorifchen Bekennt-
niffe heute praktifch unmöglich find. So ergibt fich
ihm die Notwendigkeit eines neuen; die Theologie foll
dabei ganz ausgefchaltet werden, es foll rein religiös
fein, auch das Gefchichtliche muß daraus verfchwinden.
Es ift ganz bezeichnend für S.'s Standpunkt, daß er in
dasfelbe außer dem Glauben ,an Gott den Vater, meinen
allmächtigen Schöpfer, Richter und Erlöfer' nur noch
den Zufatz aufgenommen haben will .offenbart durch
Chriftus und feine Gemeinde' (S. 85. 87). Ich bezweifle,
ob wir es erleben werden, daß jemand den ernftlichen
Verfuch mit der Einführung diefes oder eines ähnlichen
Bekenntniffes machen, noch mehr, ob er auch nur in
kleinerem Kreife Zu- und Übereinftimmung finden wird.
Dazu fehlt mir in unterer Zeit der Optimismus. — Eine
.Reform' tut unferen evang. Landeskirchen fichef not;
fie wird fich zweifellos ungefähr auf den Bahnen bewegen
müffen, welche Sülze fo mutig geht und zeigt. Wer
überhaupt an die Möglichkeit einer folchen Reform
glaubt, wird das Buch lefen müffen und wird dem trefflichen
Manne mit dem jugendlichen Herzen ficher Dank
wiffen für manch gute und kräftige Anregung.

Heidelberg. H. Baffermann.

Freisen, Prof. DD. Jofeph, Staat und katholifche Kirche
in den deutfchen BundesItaaten: Lippe, Waldeck-Pyrmont
, Anhalt, Schwarzburg-Rudolftadt, Schwarzburg-
Sondershaufen, Reuß Greiz, Reuß-Schleiz, Sachfen-
Altenburg, Sachfen-Coburg und -Gotha. Nach amtlichen
Aktenftücken rechtshiftorifch und dogmatifch
dargeftellt. I. Teil: Lippe und Waldeck-Pyrmont.
— II. Teil: Anhalt, Schwarzburg-Rudolftadt, Schwarzburg
-Sondershaufen, Reuß-Greiz, Reuß-Schleiz, Sach-
fen-Altenburg, Sachfen-Coburg und -Gotha. (Kirchenrechtliche
Abhandlungen von Stutz, 25.—29. Heft.)
Stuttgart, F. Enke 1906. (XII, 500 u. XII, 409 S.) gr. 8°

M. 30 —

Verfaffer hat fich die Aufgabe geftellt, auf Grund
amtlicher Aktenftücke eine Darfteilung der Entwickelung
der ftaatskirchenrechtlichen Verhältniffe der Katholiken in
den kleineren deutfchen Bundesftaaten zu geben, welche
der kirchlichen Jurisdiktion des Bifchofs von Paderborn
unterftanden bezw. noch heute unterftehen. In der Einleitung
wird von der räumlichen Ausdehnung der an
Eigenartigkeit der Zufammenfetzung wohl einzig daftehen-
den Paderborner Diözefe kurz gehandelt, fowie von der
rechtlichen Stellung des jeweiligen Ordinarius zu den
einzelnen Sprengein derfelben. Es werden fodann die
in Betracht kommenden Beziehungen der im Titel des
Werkes aufgeführten Staaten in einer Reihe von Abhandlungen
in teils umfaffender, teils weniger ausgedehnter
Weife je nach dem Umfang des zu Gebote flehenden
Materials erörtert. Dabei hat Verf. den Weg eingefchla-
gen, daß er zunächft unter der Überfchrift .Gefchichtliche
Darlegung' in rechtshiftorifcher Entwickelung das geltende
Recht darfteilt und fodann unter der Bezeichnung
,Gefetze und Verordnungen' die wichtigeren einfchlagen-
den gefetzlichen Beftimmungen und amtlichen Schrift-
ftücke zum wörtlichen Abdruck bringt. Verf. ift bei
feiner Darftellung, die in Folge der Benutzung archiva-
lifcher Quellen befonderen Wert hat, überaus gründlich
und fachgemäß zu Werke gegangen und hat augenfchein-
lich alles erreichbare Material verwertet. In diefer Hinficht
war es mir zufälliger Weife möglich, die Unterfu-
chung der Gothaifchen Verhältniffe auf ihre Richtigkeit
und Vollftändigkeit zu prüfen, da ich vor einigen Jahren die
einfchlagenden ftaatlichen Akten durchgearbeitet habe.
Meine Prüfung ergab, daß Verf. mit größter Genauigkeit
zu Werke gegangen ift und nichts irgendwie Wefentliches
ausgelaffen bezw. überfehen hat. Insbefondere fchildert
er in gründlicher Weife die über den Anfchluß von Gotha
an die Diözefe Paderborn geführten Verhandlungen, die
fchließlich doch refultatlos verliefen, fodaß Gotha heute
noch zu Paderborn nur in einem tatfächlichen, nicht in
einem rechtlichen Verhältnis fleht. Sehr eingehend find
u. A. auch die Ausführungen über Schwarzburg-Rudolftadt
gehalten. Hier ftanden dem Verf. vor Allem die
Aufzeichnungen und Materialien des Staatsminifters von
Bertrab zu Gebote, auf deffen Anregung und Einfluß
der Auffchwung des katholifchen Kirchenwefens in Rudol-
ftadt überhaupt erft zurückzuführen ift. Intereffant und
lehrreich ift es zu lefen, wie von Bertrab verfuhr, um
der geringen Anzahl Katholiken in Rudolftadt zu einem
eigenen Pfarrer zu verhelfen. Da mit Rückficht auf die
Abneigung der faft ausfchließlich proteftantifchen Bevölkerung
gegen eine katholifche Miffion die größte Vorficht
geboten war, bat er den Erzbifchof von Köln 1866
zunächft um einen Hausgeiftlichen, in der ausdrücklich
ausgefprochenen Hoffnung, daß fich aus demfelben vielleicht
ohne Schwierigkeit ein Miffionspfarrer entwickeln
werde, eine Hoffnung, die fich in vollem Maße verwirklicht
hat. Denn fchon nach wenigen Jahren wurde dem
Hauskaplan des Minifters die Seelsorgeftelle in Rudolftadt
übertragen.

Kiel. Frantz.