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Ausgabe:

1906 Nr. 19

Spalte:

536-537

Autor/Hrsg.:

Rein, G.

Titel/Untertitel:

Paolo Sarpi und die Protestanten. Ein Beitrag zur Geschichte der Reformationsbewegung im Anfang d. 17. Jahrh 1906

Rezensent:

Tschackert, Paul

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Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. 19.

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kunft als aus der Ohnmacht, zu der er durch die vorausgegangene
Entwickelung verurteilt war, und vor allem
aus dem Mangel an Patriotismus von feiten der weltlichen
Landftände, die ihn trotz aller Sympathie finanziell
im Stich ließen. Da nun aber Hermann, um fich aus
feinen Geldverlegenheiten zu retten, mit Rückficht auf
feine dem Erzftift gemachten Vorfchüffe die feit 1544
aufgefpeicherten Gelder des gemeinen Pfennigs angegriffen
hatte, fo ging dem Lande durch feinen Sturz eine Summe
von 80000 Gld. verloren, und es wurde ihm hierdurch
eine Schuldenlaft aufgebürdet, die von den folgenden
Kurfürften nicht abgetragen werden konnte. Denn die
Stände fühlten fich nicht verpflichtet, fchon einmal ge-
leiftete Steuern zum zweiten Male zu bezahlen, und verhielten
fich gegenüber den Forderungen von Hermanns
Nachfolgern, Adolf und Anton von Schaumburg, äußerft
referviert. Namentlich die Städte fetzten allen Bemühungen
der kurf. Regierung, fie zu der Bewilligung von 1
Geld zu bewegen, den hartnäckigften Widerstand entgegen
. Aber felbft wenn die Stände fich endlich bereit
erklärten, die verlangten Beiträge zu zahlen, fo war auch
damit nur wenig geholfen, da von den bewilligten Steuern
nur der geringfte Teil wirklich einging. Die Verlegenheit
der Kurfürften wuchs dadurch von Jahr zu Jahr.
Schon unter Anton v. Schaumburg war die Lage derart,
daß der Erzbifchof ein Anlehen beim Kapitel aufnehmen
mußte, um nur einen nach Frankfurt ausgefchriebenen Kur-
fürftentag befuchen zu können. Und nun fügte es das
Verhängnis, daß nach dem Tode Antons v. Schauenburg
a. 1558 in Gebhard v. Mansfeld ein Nachfolger gewählt
wurde, der fchon mit zerrütteten Vermögensverhältniffen
in fein Amt eintrat und durch die Sorge für feine Konkubine
und mehrere Kinder dazu verleitet wurde, bei
der Verwaltung des Erzftifts mehr auf fein eigenes, als
auf das Wohl des Erzftifts bedacht zu fein. War es
fchon bei umfichtigtter Gefchäftsführung unmöglich, mit
den vorhandenen Mitteln die täglichen Bedürfniffe von
Hof und Staat zu befriedigen, wie hätte dies bei der
liederlichen Wirtfchaft Gebhards gefchehen können? Dazu
kam nun noch, daß auch das Reich von Jahr zu Jahr
größere Anforderungen an das Erzftift ftellte. Kein
Wunder, daß die weltlichen und geiftlichen Stände, die
fchon unter Gebhards Vorgängern fich fo zäh in Bewilligung
von Geldern bewiefen hatten, nunmehr noch weniger
Neigung hierzu zeigten. Die Schulden des Erzftifts
fliegen daher in erfchreckender Weife. Nahm doch Gebhard
fchon in den beiden erften Jahren feiner Regierung
unter fchweren Bedingungen allein 170000 Gld. auf. Selbft-
verftändlich mußte das Anfehen der kurf. Regierung
durch diefe Dinge fchwer gefchädigt werden. In wie
hohem Maße dies der Fall war, zeigt fich befonders in
der rückfichtslofen Weife, wie der Rat der Stadt Köln
damals in die dem Erzbifchof zuftehende Kriminalgericht-
barkeit eingriff. Der Streit zwifchen beiden wollte kein
Ende nehmen, ein Zuftand, welcher der Ausbreitung der
Ketzerei zum nicht geringen Vorteil gereichte. Als
Johann Gebhard a. 1562 ftarb, übernahm fein Nachfolger
Friedrich von Wied eine in jeder Beziehung fchwere
Erbfchaft. Sein Beftreben mußte darauf gerichtet fein,
vor allem der unerträglichen finanziellen Lage des Erzftifts
ein Ende zu machen. Aber trotz aller Anftren-
gungen und trotz der von ihm perfönlich geübten größten
Sparfamkeit gelang dies nicht. An dem Egoismus der
Stände, namentlich des niederen Klerus und der Städte
fcheiterten alle feine Bemühungen. Die Zuftände, die
infolge deffen allmählich eintraten, fpotteten fchließlich
aller Befchreibung: Die Pflichten gegen das Reich blieben
unerfüllt, die Landesverteidigung wurde vernachläffigt, die
Verwaltung litt unter dem Mangel an Beamten, die man
nicht bezahlen konnte, die wichtigften Poften der Kirchenregierung
blieben unbefctzt. Es fehlte an einem Vikar,
einem Inquifitor, einem Siegler, ja fogar an einem Weih-
bifchof! Diefe Mängel riefen natürlich fowohl auf weltlichem
als auf kirchlichem Gebiet die größeften Mißftände
hervor. Die Ketzerei z. B. machte, wie Wolf im einzelnen
nachweift, unter Friedrich bedeutende Fortfehritte. Die
immer mehr fich fteigernde Unzufriedenheit richtete fich
vor allem gegen das Haupt des Landes. Dagegen warf
der Erzbifchof die Schuld für die unbefriedigenden Zuftände
auf die Stände, die ihm die Mittel vertagten, in
geeigneter Weife für das Wohl des Landes zu forgen.
So trat eine von Tag zu Tag zunehmende Entfremdung
zwifchen dem Erzbifchof einerfeits und den Ständen und
dem Kapitel andererfeits ein, die fchließlich zur Kata-
ftrophe führte. Sie wurde befchleunigt durch die Forderung
des Papftes, der Erzbifchof folle, um die päpft-
liche Konfirmation feiner Wahl zu erlangen, das feit dem
Trientiner Konzil geforderte Glaubensbekenntnis und das
Gelübde des Gehorfams ablegen. Da Friedrich fich deffen
weigerte, nicht aus religiöfen Bedenken, fondern weil er
feine Lage hierdurch nur noch mehr zu verfchlechtern
fürchtete, fo trat die Kurie mit den Gegnern des Erz-
bifchofs in Verbindung und das machte feine Stellung unhaltbar
. Da er feines Amtes fchon längft überdrüffig war,
fo benutzte er die Gelegenheit, um unter dem Vorbehalt
einer ftandesgemäßen Verforgung und eines Platzes im
Kapitel zurückzutreten. — Das vorftehende Referat könnte
den Eindruck erwecken, als fei in dem Wolffchen Buche
eigentlich nur von der finanziellen Lage des Erzftiftes
die Rede. Es mag daher noch ausdrücklich hervorgehoben
werden, daß auch die übrigen Verhältniffe des Kurfürften-
tums keineswegs von Wolf vernachläffigt find. Namentlich
findet die evang. Bewegung, das Schulwefen, die
Stellung des Kurfürften zu den Beftrebungen Ferdinands I.,
den Papft zur Gewährung des Laienkelches zu bewegen,
das Verhältnis der kurf. Regierung zum Reich und zu
den Nachbargebieten, befonders zu Jülich die gebührende
Beachtung. Indes alle diefe Dinge erhalten ihren eigentümlichen
Charakter durch die finanzielle Lage des Erzftifts
. Durch fie vor allem wird die Entwickelung im
Kurfürftentum beftimmt. Das kann als das Hauptrefultat
des vorliegenden, außerordentlich lehrreichen Buches bezeichnet
werden.

Weimar. H. Virck.

Rein, G., Paolo Sarpi und die Proteltanten. Ein Beitrag
zur Gefchichte der Reformationsbewegung im Anfang
des fiebzehnten Jahrhunderts. Akademifche Abhandlung
. Helfingfors, Lilius & Hertzberg 1904. (XX,
227 S.) gr. 80 M. 4 —

Seit der Abfaffung meines Artikels ,Sarpi' in RE;i
find Reins eben genannte Schrift und zwei Auffätze von
Ehfes erfchienen. Die Schrift des jungen finnländifchen Gelehrten
ift eine der philofophifchen Fakultät zu Helfingfors
vorgelegte Differtation, die aller Beachtung wert erfcheint.
Sie enthält einen Ausfchnitt aus dem Leben Sarpis, nämlich
fein Verhältnis zu dem Proteftantismus, alfo den dunklen
Punkt, über welchen bisher keine Forfchung hinweggeholfen
hat. Um fo gefpannter darf man auf Reins Mitteilungen
fein. Mit bewunderungswürdigem Fleiße hat
er das erreichbare handfehriftliche Material aus Venedig
, Rom, München, London und Paris zufammenge-
bracht (vgl. S. XIII f., wo die Fundorte angegeben werden
); einige wichtige ungedruckte Aktenftücke teilt er am
Schluffe mit. Aus dem uns hier gebotenen Quellenmaterial
gewinnt man den Eindruck, daß Sarpi in der
Zeit von etwa 1606 bis 1615 dem Proteftantismus doch
innerlich näher geftanden hat, als wir bisher annahmen:
proteftantifch war feine Auffaffung des Verhältniffes der
Kirche zum Staate; denn er fieht den Staat als eine
felbftändige Größe an, die fich gegenüber der Hierarchie
in ihren Rechten zu behaupten fuchen müffe. Daher
feine Ratfchläge, die er feit i6o5 der Republik Venedig
gab, dem päpftlichen Interdikt zu trotzen. Sarpi be-