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Ausgabe:

1906

Spalte:

514-516

Autor/Hrsg.:

Dilthey, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing. Goethe. Novalis. Hölderlin. Vier Aufsätze 1906

Rezensent:

Zillessen, Alfred

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Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. 18.

Kirche, verpflichtend für jedes echte Glied derfelben.
Das dogmatifche Syftem hat die Lehre nach ihrem Zu-
fammenhang und in ihrer Einheit und Begründung dar-
zuftellen. Die Tradition (szagädociic), die mit der Schrift
zufammen die Quellen der Dogmen bildet, ift bis zum
9. Jahrhundert in der getarnten katholifchen Kirche, von
da an nur noch in der orthodoxen Kirche rein erhalten.
Neben den Synoden der alten Zeit haben auch diejenigen
des 17. Jahrhunderts einige Gültigkeit (Jeru-
falem etc.). Die Auslegung der Schrift ift von der Tradition
abhängig. Die Erkenntnis, die in der Dogmatik
gewonnen wird, ergänzt die fonftigen Erkenntniffe, namentlich
auch die der Naturwiffenfchaften. So fteht die Dogmatik
auch zu der Philofophie. In dieier hält Roffis
übrigens eine Verbindung der teleologifchen Weltan-
fchauung mit der mechanifchen für angezeigt. Das
Wefen der Kirche definiert Verfaffer ähnlich wie Bellarmin
in den Disput, de controv. christ.fid., de eccles. milit. III, 2,
nur daß der pontifex Romanus als vicarius Christi fehlt.
Auf Grund diefer allgemeinen Vorausfetzungen gelingt
es dem Verfaffer trotz aller Schwierigkeiten, die Lehre
feiner Kirche durchzuführen.

Der erfte Teil der Dogmatik, der, wie fchon getagt,
von Gottes ewigem Sein und Wirken handelt, beginnt
mit der Erkenntnis von Gott, die natürlich und ubernatürlich
ift. Die erfte fchöpft aus der Betrachtung der
Natur und vollendet fich in der wiffenfchaftlichen Aus-
geftaltung diefer Erkenntnis. Daher finden alle Gottes-
beweife breite Ausführung. Die natürliche Gotteserkenntnis
findet ihre Spitze in der übernatürlichen. Das alte
Lieblingsdogma der Griechen, die Trinitätslehre wird
auch von Roffis nach allen Seiten hin traktiert. Auch
nach der dogmengefchichtlichen Seite hin, wie denn die
Argumente des Photius gegen das filioque uns nicht er-
fpart, und die letzten Verhandlungen mit den Altkatholiken
vorgeführt werden. Daran fchließt fich die Lehre
von den Eigenfchaften Gottes, den abfoluten und den
relativen. Erflere fcheinen in befonderer Weife den einzelnen
Perfonen der Trinität zugefchrieben zu werden.
Bei den relativen macht dem Verfaffer die Allwiffenheit
Gottes befondere Schwierigkeit wegen der echt griechi-
fchen Betonung der Freiheit des Menfchen.

Mit den relativen Eigenfchaften Gottes ift der Weg
zum zweiten Teil der Dogmatik gebahnt. Bei der Lehre
von der Schöpfung fetzt fich Verfaffer ernftlich mit dem
Dualismus und dem Materialismus auseinander. Statt
der Schöpfungstage läßt er auch Perioden zu. Die
Vorfehung Gottes vollzieht fich durch das Zufammen-
wirken der Macht Gottes mit der der Kräfte, die Gott
in die Natur gelegt hat. So verfucht er auch in dem
Problem des Übels einen Ausgleich zu finden. Daß
auch bei diefer Lehre die Freiheit des Menfchen betont
wird, ift nur folgerichtig. Unter den Gefchöpfen nehmen
die Engel den erften Rang ein. Hier wird auch dem
Dionyfius Areopagita, deffen Schriften aber nicht ohne
weiteres für echt gehalten werden, Lehrauktorität eingeräumt
. Bei der Lehre vom Menfchen handelt Verfaffer
weitläuftig über die Unfterblichkeit der Seele. Die
dxcöv Gottes ift der vovg und das avze£,ovOiov, die ofioi-
coßig die Beftimmung des Menfchen zur Gottähnlichkeit
in der Gemeinfchaft Gottes, zu der der Menfch erfchaffen.
Von größtem Intereffe ift das fünfte Kapitel des zweiten
Teils, ntQi frQWßxdag. Hier wird zunächft von der Offenbarung
gehandelt, die äußerlich und innerlich ift. Die
letztere ift im allgemeinen die Theopneuftie. Sie umfaßt
die Theopneuftie im engern Sinne und die Prophetie.
Die äußerliche Offenbarung bezieht fich namentlich auf
das Wunder. Es wird verftanden als ein im Rate .Gottes
vorzeitig befchloffener, aber neuer fchöpferifcher Akt
Gottes. Die Wundertätigkeit einzelner heiliger Menfchen
wird auch für die heutige Zeit feftgehalten. Bei der
Lehre von der inneren Offenbarung handelt es fich auch
um die Lehre von der heiligen Schrift. Die Infpirations-

lehre des Verfaffers gleicht etwa der unferer Dogmatiker
des 17. Jahrhunderts. Nur daß die perspicuitas der Schrift
nicht beigelegt werden kann. An deren Stelle tritt die
Lehre von der Tradition, die allein die Schrift recht
auslegt. Für das Alte Teftament gilt als Prototypon die
Septuaginta. Das Neue Teftament muß in der Urfprache
gebraucht werden. Überfetzungen in das moderne Grie-
chifch find nicht geblattet.

Mit diefen Ausführungen fchließt der erfte Teil der
Dogmatik.

Hannover. Ph. Meyer.

Trial, Past. L., Essai d'education chretienne. Nimes, La-
vagne-Peyrot. Paris, Fischbacher 1902. (XVI, 355 p.) 8°
— Manuel d'education chretienne. Ebd. 1905. (231 p.) 8°

Die umfangreichere Arbeit ift für das Studium des
Katecheten, die kürzere für die Hand der Katechumenen
beftimmt. Beide ftellen die chriftliche Lehre in dem
Umfange dar, wie fie der evangelifchen Jugend im Konfirmandenunterricht
geboten werden foll. Bei der Beurteilung
der beiden Bücher darf man nicht vergehen,
daß in den öffentlichen Schulen Frankreichs kein Religionsunterricht
erteilt wird. Die Katechumenen-Unter-
weifung ift hier alfo ausfchließlich Sache der betreffenden
Kirchengemeinfchaft und erhält dadurch mehr als anderswo
den Charakter einer chriftlichen bezw. kirchlichen
Erziehung, befonders auch in der reformierten Kirche.
Sodann darf man nicht unbeachtet laffen, daß der franzö-
fifche Nationalcharakter einen wefentlich anderen Typus
, als der unfere, darftellt, was fich auch in der Betätigung
des kirchlichen Lebens naturgemäß geltend
macht. Aus beiden Tatfachen ergibt fich, daß Trials
Arbeiten für unfre anders gearteten Verhältniffe im
evangelifchen Deutfchland wenig Verwendbares enthalten,
foweit fie felbftändige Wege auf dem Gebiete der kirchlichen
Jugendunterweifung anzubahnen beftrebt find.
Was diefe Wege betrifft, fo beruft fich der Verf. auf
die Anregung, die er durch das Buch feines Freundes,
des reformierten Predigers E. Schulz in Lyon, erhalten
hat: Le Catechisme de la vie chretienne; Essai d'education
religieuse. Ich kenne diefes Buch nicht, kann alfo eine
Vergleichung zwifchen ihm und Trials Arbeiten nicht
anftellen. Der Verf. bezeichnet feine Methode im Unter-
fchiede von der hiftorifchen, dogmatifchen und pfycho-
logifchen als die biologifche S. XIII und fagt zu ihrer Cha-
rakterifirung S. XV: Les diverses parties d'un Cours
d'education chretienne doivent donc se succeder dans im ordre,
nonpas artificiel, mais vivant, et cohduire les catechumenes
par une suite d'experiences s'entrainant et sepreparant l'une
lautre jusqu'a la communion avec Jesus-Christ, symbolisee
par la Sainte-Cene, c'est-ä-dire, jusqu'a la vie chretienne.
Chaque partie doit correspondre ä une etape parcourue
par les catechumenes sur le chemin qui mene au ,bien
vivre'. — Das Programm will mir nicht als ein fchlecht-
hin neues erfcheinen. Noch weniger neu ift die Ausführung
desfelben im einzelnen. Hier kommen Partien
vor wie z. B. der Abfchnitt über das Dafein und die Eigenfchaften
Gottes, die man ähnlich in Katechismen aus
dem Zeitalter des Rationalismus findet. Ergo!

Göttingen. K. Knoke.

Dilthey, Wilhelm, Das Erlebnis und die Dichtung. Leffing.
Goethe. Novalis. Hölderlin. Vier Auffätze. Leipzig,
B. G. Teubner 1906. (VI, 405 S.) gr. 8° Geb. M. 5.60

D. faßt unter diefem Titel drei ältere Auffätze mit
einem neuen zufammen. Der erfte, G. E. Leffing,
1867 in den Pr. Jb. 19 erfchienen, hat neben kleineren
zwei ausführliche Zufätze erhalten (L.s Verhältnis zu den
voraufgehenden und gleichzeitigen äfthetifchen Arbeiten
I und ein Kap. über feine Dichtungen, befonders M. v.